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Umsturz in der Hochburg der Langzeitstudenten

Die Freie Universität Berlin gilt in Deutschland als die Hochburg der sogenannten Langzeitstudenten: Von 35 000 eingeschriebenen Semestern zählen rund 7000 zu jener Spezies, die die Regelstudienzeit um mehr als sechs Semestern überschreitet. 20 Prozent sind Langzeitstudenten. Seit einem Jahr kämpft das Präsidium für eine neue 'Satzung für Studienangelegenheiten', die für die Problemgruppe nun verbindliche Beratungsgespräche mit der möglichen Konsequenz der Exmatrikulation vorsieht. Arienne Göhler, Wissenschaftssenatorin unter dem rot-grünen Übergangssenat, hatte sich gegen das Projekt gewehrt. Am Mittwoch, den 8.Mai, hat die PDS-SPD Koalition der neuen Satzung ihre Genehmigung erteilt.

    Gut, wenn wir dann damit so prozessieren können, dann würde ich zunächst mal jetzt die Beschlussprotokolle aufrufen, 581.Sitzung. Gibt es dazu noch Anmerkungen, möglicherweise? Gut, dann ist das so genehmigt. Dann kommen wir zu dritten Änderung der Satzung für Studienangelegenheiten.

    Mit diesen Worten begann Professor Peter Gaetgens, Präsident der Freien Universität Berlin, eine historische Sitzung des Akademischen Senats. Das Gremium beschloss eine Gezeitenwende: Fortan sind sogenannte Langzeitstudierende erstmals zu verbindlichen Beratungsgesprächen und Zielvorgaben verpflichtet. Bei einer Blockade droht die Exmatrikulation. An der Freien Universität liegen 7000 der rund 35.000 Studierenden mindestens sechs Semester über der Regelstudienzeit. Eine moderate Reform: Wer drei Semester über dem Soll liegt, muss zum Gespräch. Wer dort für die letzten beiden Semester keine Scheine vorlegen kann, muss sich zu konkreten Leistungen verpflichten. Trotz der sanften Vorgaben hat Pit Teschendorf, studentischer Vertreter im akademischen Senat, gegen die Veränderung gestimmt. Viele Studierende seien gefährdet:

    Leute, die aus wirklichen Gründen, aus persönlichen Gründen dort länger studieren, weil sie Studienabbrecher sind, weil sie sich selber finanzieren müssen.

    Teschendorf kritisiert vor allem:

    Dass diesen Leuten Auflagen erteilt werden können und dass es einen gewissen Willkürspielraum gibt, der durchaus ausgenützt werden könnte. Und dass da wirklich eine Grauzone ist, in der Leute wirklich rausgekantet werden könnten, für höhere Gewalt, für Dinge, für die sie wirklich nichts können.

    Die studentischen Aktivisten sehen keine höheren Kosten durch Marathon-Akademiker. Sie glauben, dass das Präsidium die sogenannten Langzeitstudenten nur aus Budget-Gründen loswerden will. Seit diesem Jahr ist ein Teil der Senatsgelder für die Uni an die durchschnittliche Studiendauer gebunden. Für die Studentenvertreter eine künstliche Verteuerung, die von der Unternehmensberatung Kienbaum inspiriert wurde. Diese finanziellen Gründe bestätigt auch die Vizepräsidentin Gisela Clan-Delius. Aber hauptsächlich gehe es um schnelle Hilfe für eine Problemgruppe:

    Die Wissenschaftsverwaltung hat uns in Aussicht gestellt, wenn wir so verfahren, wie wir es heute getan haben, dass sie dann bestätigen wird. Wir müssen uns nur dann bei der Erarbeitung der Richtlinien beeilen, aber Sorgfalt walten lassen. Das sind sozusagen die Ausführungsbestimmungen, bei denen es ganz wichtig ist, dass die Intention dieser Beratung auch konkret so umgesetzt wird, dass man sagen kann, das Instrument greift wirklich.

    Die Auflagen für Langzeitstudenten sollen spätestens ab Januar 2003 gelten. Entscheidend werden die Details sein: Wie werden die Gründe für ein längeres Studium bewertet - darin sieht der Langzeitstudent Manfred Suchan ein Problem. Nach zehn Jahren Studium steht er gerade vor der Diplomarbeit in Geowissenschaften. Das Vorurteil vom kontemplativen Methusalix in Akademia, das trifft ihn nicht:

    Das hat eine Vielzahl von Gründen. Einerseits ein Schwerpunktwechsel innerhalb meines Studiums. Dann waren bei mir aber auch Krankheitsgründe ausschlaggebend, dass ich einmal vier Semester ausgesetzt habe. Ich bin eine längere Zeit meines Studiums auch darauf angewiesen gewesen, nebenher noch zu arbeiten, halbtags, was mein Studium dann noch in die Länge gezogen hat.

    Das komplexe Problem hat jetzt der Professor Eberhard König untersucht. Der Dekan der Kulturwissenschaften hat sich im vergangenen Semester mit 350 Langzeitstudierenden unterhalten: Das Hauptproblem liegt in Jobberei aus Geldnot. Weitere Gründe sind Fachwechsel, ausufernde Magisterarbeiten, psychische Probleme und die fehlende Kinderbetreuung. Als Problemlöser gelten unter anderem Abschlussdarlehen, ein altersabhängiges Verbot von Fachwechseln und mehr Betreuung. Allesamt Forderungen, die Geld kosten. Und das scheint auch Wissenschaftssenator Flierl von der PDS nicht ausgeben zu können.

    Die Koalitionsvereinbarung der Berliner PDS-SPD-Koalition sieht zwar eine "Exmatrikulation" von Langzeitstudenten nur bei sogenannten "angemessenen Studienbedingungen" vor. An die Stelle einer umfassenden Reform ist nun aber der überraschende betriebswirtschaftliche Schnellschuss getreten. Die Auswirkungen werden sich im nächsten Jahr zeigen. Eines ist auf jeden Fall sicher: das seltsame Reform-Management an der Freien Universität. Denn eines kennen alle Beteiligten nicht: die Untersuchung von Professor König. Der weilte während der historischen Sitzung auf Exkursion in Italien.