Donnerstag, 09. Mai 2024

Archiv


Unabhängig von Paris

Wie lang ist ein Meter und wie kurz eine Sekunde? Diese Basiseinheiten sind heute durch physikalische Prozesse definiert. Aber wie schwer ist ein Kilogramm? Die Masseeinheit ist die einzige Basiseinheit, die noch immer durch den Vergleich mit einem einzigen Prototypen, dem Urkilogramm in Paris, bestimmt ist. Das Problem: Das Urkilo wird immer leichter.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 16.10.2010
    Die Welt, in der wir leben, ist nur zum Teil die unsere. Wir teilen sie mit Meteoriten und Mikroben und anderen bizarren Wesenheiten, deren Größe oder Kleinheit uns ganz unvorstellbar ist. Trotzdem gilt ein Maß für alle Dinge - so verlangt es die Physik, oder anders ausgedrückt: Alles, was existiert, kann man auch wiegen. Deswegen muss es Waagen geben, die nicht nur unser Übergewicht anzeigen, sondern die mit einer ans Absolute grenzenden Genauigkeit die Schwere eines Staubkorns messen.

    Die Vorstellung des Absoluten gehört allerdings zu den monströsesten Gedanken, die das menschliche Gehirn hervorbringt. Es ist nämlich ein Gedanke, der von sich selbst, von seinen eigenen Voraussetzungen abstrahiert und diese transzendiert. Zum Beispiel: Ist die Mathematik in einem absoluten Sinne wahr? War zwei plus zwei schon vor dem Urknall vier? Und wird es auch noch vier sein, wenn dereinst der Kosmos wieder im Nichts verglüht?

    Das sind Fragen, die sich in Anbetracht des Urkilos aufdrängen. Denn
    das Urkilo, dieser seit 121 Jahren in einem Pariser Vorort aufbewahrte Referenzwürfel aus Platin und Iridium, leidet an einer ebenso unerklärlichen wie dramatischen Schwindsucht. Man hat das durch Vergleich mit damals angefertigten und über die ganze Welt verteilten Doubletten festgestellt, wobei freilich nicht auszuschließen ist, dass bloß die Doubletten zugenommen haben. 50 Mikrogramm beträgt jedenfalls die Abweichung, und das ist in einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation wie unserer schon eine nicht zu vernachlässigende Masse.

    Deshalb soll das Kilo künftig anders definiert werden, und zwar über eine Naturkonstante, unabhängig von einem in irgendeinem Tresor gelagerten Batzen Metall. Mit dem Meter ist das längst geschehen. Für das Längenmaß ist nicht mehr der Pariser Urmeter verbindlich, sondern ein Meter ist genau so lang wie eine bestimmte Anzahl Lichtschwingungen im Vakuum. Auch die Sekunde wurde an einen vielerorts nachvollziehbaren Naturvorgang gekoppelt. Bloß das Kilo ist noch ein Kulturphänomen: ein künstlicher Klotz, ein Körper voller Bedeutung, ein Symbol der Willkür - und insofern eine Brücke zwischen der geistigen und der materiellen Welt.

    Diese von Schwund und Schludrigkeit gekennzeichnete Verbindung zwischen Geschichte und Physik soll also ersetzt werden durch eine Messmethode, die im Reich des Absoluten ankert. So gibt der Mensch die Herrschaft übers Kilo auf - ein Vorgang, der nicht nur die Physik berührt, sondern auch die Metaphysik.