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Und sie bewegt sich doch

Als Katagiri in seine Wohnung kam, wartete dort ein riesenhafter Frosch auf ihn. Auf seinen Hinterbeinen stehend, war er über zwei Meter groß und dazu stattlich gebaut. Katagiri, selbst nur ein Meter sechzig groß und eher schmächtig, war überwältigt von der imposanten Erscheinung des Froschs.

    Der Frosch bittet den Bankangestellten ihm zu helfen, einen Wurm zu zerstören, der ein Erdbeben auslösen wolle, größer noch als das in Kobe. "Frosch rettet Tokyo" ist eine Erzählung aus dem neuen Buch von Haruki Murakami Nach dem Beben . Das Erdbeben in Kobe, bei dem über 4000 Menschen starben und beinahe 300.000 obdachlos wurden hat Japan verändert – fast so wie der 11. September die Vereinigten Staaten von Amerika.

    Die Personen in Murakamis Erzählungen leben alle weit weg von Kobe und doch hat das Erdbeben auch ihnen den Boden unter Füße weggezogen. Es hat sie sensibel gemacht und lässt sie sich bewusst werden, wie fragil ihre Welt, ihr Leben ist. Seine Protagonisten leben zurückgezogen, sind einsam. Das Erdbeben lässt sie sich vollends kraftlos und hilflos fühlen. Wenn sie grüne Frösche sehen, überrascht sie das nicht im mindesten. Und Murakami bringt es fertig, daß auch der Leser nicht überrascht ist. Gregor Samsa erwacht als Käfer, und bei Herrn Katagiri hüpft ein Frosch durchs Zimmer.

    Das Erdbeben lässt die Menschen auch gewahr werden, wie sehr sie eine Änderung ihres immer gleichbleibenden Alltags wünschen, und auch wie sehr sie sich letztlich doch nach einer Gemeinschaft sehnen. So gibt das Erdbeben Anlass zu psychologischen Tiefgängen wie zu philosophischen Sinnfragen, es führt zu Zusammenbrüchen wie zum Aufbrüchen. Sicher ist nur: Nichts bleibt statisch, alles bewegt sich.

    In Murakamis Romanen haben schöne Frauen die weniger schöne Angewohnheit, plötzlich zu verschwinden und nie mehr wieder aufzutauchen, einen verwirrten Liebenden hilflos zurückzulassen. In seinem letzten, einem seiner besten und reifsten Romane Sputnik Sweatheart kehrt eine solche Frau schließlich zurück. Fieberhaft haben Freunde und Polizei sie gesucht. Vergeblich. Und dann ruft sie an und sagt: "Ich bin wieder da." "Das ist gut so" antwortet der, der sie am meisten vermisst hat und fragt nicht, wo sie gewesen ist.

    In Murakamis Erzählung "UFO in Kushiro" verlässt eine Frau ihren Mann, nachdem sie tagelang ohne Unterbrechung, ohne zu essen, ohne zur Toilette zu gehen vor dem Fernseher gesessen hat und Bilder vom Edrbeben von Kobe angestarrt hat. Offensichtlich hat sie die Katastrophe so aufgewühlt, dass sie jetzt mehr vom Leben möchte als eine langweilige Ehe. Sie hinterlässt einen Brief:

    Das Problem ist, dass Du mir nichts gibst. Um es noch deutlicher zu sagen: Du hast nichts in Dir, was Du mir geben könntest.
    Der Mann hadert nicht, nimmt es einfach hin, dass seine Frau ihn verlassen hat, macht sich auf nach Hokkaido, überbringt einer Fremden ein Päckchen. Noch weiß er nicht, was dieses Päckchen erhält. Als er es erfährt, wird er fast gewalttätig. Das Päckchen ist leicht, entweder es enthält seine Seele oder gar nichts.

    Du hast nichts in Dir, was Du mir geben könntest.

    Das Erdbeben von Kobe ist die Folie, vor der die Geschichten Murakamis spielen. Es wird nicht immer thematisiert, aber es ist immer da, ist der rote Faden, der die Erzählungen durchzieht, die heimliche Hauptfigur aller Geschichten. Das Erdbeben ist der dramatische Wendepunkt im Leben derer, in dessen Leben sonst fad und eintönig verläuft. Es kann zum Neuanfang führen - oder zum Tod.

    In "Still – Leben mit Bügeleisen" sitzen ein einsamer Mann, der Frau und Kinder verlassen hat und ein junges Mädchen, das von zu Hause weggelaufen ist am Strand und legen Treibholz in merkwürdigen Formationen zusammen. Dann verbrennen Sie es. Wenn das Feuer ausgegangen und alles dunkel sein wird, werden sie sich das Leben nehmen.

    In "Thailand" macht eine erschöpfte Ärztin Urlaub in einem thailändischen Berghotel, begleitet nur von einem Chauffeur. Auch er ist einen jener wortkargen, einsamen Murakami - Männer. Über drei Jahrzehnte war er der Fahrer eines norwegischen Juweliers.

    Wissen sie, Frau Doktor, ich bin Junggeselle. Ich war nie verheiratet. Tag für Tag, dreiundreißig Jahre lang, war ich der Schatten eines anderen Mannes.

    Obwohl sie weit weg vom eigentlichen Geschehen durch Thailand reist, hat das Erdbeben auch die Ärztin stark beeinflusst. Es gibt einen Mann, den sie mit ganzer Inbrunst hasst und dem sie den Tod unter den Erdbebentrümmern wünscht.

    Sie hatte erkannt, dass sie allmählich dem Tod entgegenging. Sie hatte erkannt, dass sich ein harter weißer Stein in ihrem Körper befand… Sie dachte an das Kind, das sie nicht geboren hatte.

    Die letzte, die dichteste Geschichte heißt " Honigkuchen". Durch die Albträume einer vierjährigen geistert der "Erdbebenmann". Junpei, ein Schriftsteller, ein geborener Kurzgeschichtenerzähler, liebt die Mutter des Mädchens. Er hat sie immer geliebt, und auch sie fühlte sich zu ihm hingezogen. Das aber blieb immer unausgesprochen. Sie heiratet seinen besten Freund. Viel unternehmen sie dritt, dann verlässt der Freund seine Frau, und Junpei erhält zum zweitenmal die Chance, mit seiner großen Liebe zusammenzuleben. Er ist unsicher. Bis zum Tag des Erdbebens.

    Seit seinem Examen hatte er den Fuß nicht mehr in seine Heimatstadt gesetzt. Nun rissen die Bilder von der Katastrophe Wunden, die irgendwo tief in ihm verborgen gewesen waren, wieder auf. Die gigantische tödliche Katastrophe veränderte anscheinend bestimmte Aspekte seines Lebens - unmerklich, aber von Grund auf. Junpei fühlte sich so zutiefst verlassen wie nie zuvor. Er hatte keine Wurzeln. Mit nichts war er verbunden.

    Deutlicher ist Murakami nie gewesen. Junpei verkörpert die Traurigkeit, die tiefe Einsamkeit, die Wurzellosigkeit des modernen Städters vollkommen. Erst das Erdbeben macht ihn dazu fähig, seiner Liebe endlich Ausdruck zu geben. "Nach dem Beben" – das ist Haruki Murakami wie er besser nicht sein kann: Konzentriert, beschränkt aufs Essentielle, dicht sind alle seine Geschichten. Kein Satz zu viel, kein Wort zu wenig. Er hat sich die ganz großen Themen Liebe und Tod in einer kleinen Form vorgenommen und er meistert sie fabelhaft. Wie in allen seinen Romanen und Erzählungen verbindet er Traumsequemzen, Surreales , Gegenwärtiges. Dabei lässt er seine Protagonisten aber nicht mehr nächtelang vor einem Teller Spaghetti hocken, er lässt sie sich bewegen, Mut schöpfen, sich verändern. Und so endet die letzte Geschichte in Murakamis "Nach dem Beben" hoffnungsvoll, wenngleich auch – und das ist sehr schade - ein bisschen holprig übersetzt:

    Sobald es hell würde, würde ihr auf der Stelle einen Heiratsantrag machen. ..Im Augenblick jedoch wollte er hier Wache halten. ..Auch wenn der Himmel einstürzte oder die Erde krachend barst.

    Haruki Murakami
    Nach dem Beben
    Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
    Dumont, 179 S., EUR 16.90