"Ich danke für Ihr Kommen: Ministerpräsident Olmert, Präsident Abbas, Generalsekretär Ban, Ex-Ministerpräsident Blair, verehrte Gäste: Willkommen an einer der besten Institutionen, die wir in Amerika haben, der "Marine- Akademie" der Vereinigten Staaten. Wir danken Ihnen, dass Sie sich gemeinsam mit uns an etwas beteiligen, das - so glaube ich - eine historische Gelegenheit ist - den Ausbau von Freiheit und Frieden im Heiligen Land voranzubringen."
Annapolis, im US-Bundesstaat Maryland - es ist der 27. November 2007. Eingerahmt vom israelischen Regierungschef Ehud Olmert und von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas steht US-Präsident George W. Bush kurz nach elf Uhr vormittags auf dem Podium - hinter den drei Politikern prangt zwischen zwei goldfarbenen Säulen die Aufschrift: "The Annapolis Conference". Ein Jahr vor dem Ende seiner zweiten Amtszeit hatte Präsident Bush auf einer derartigen Zusammenkunft in großer diplomatischer Runde bestanden, hatte den eher unwilligen Olmert und den machtlosen Abbas intensiv bedrängt, einer öffentlichkeitswirksamen Veranstaltung auf amerikanischem Boden zuzustimmen und vorab eine Absichtserklärung zu produzieren, die er - Bush - zu Beginn der Annapolis Konferenz öffentlich bereits als deren Ergebnis vorlesen konnte:
"Die Parteien verpflichten sich zu dem, mit der Umsetzung der bestehenden Zusagen der "Roadmap" fortzufahren, bis sie einen Friedensvertrag ausgehandelt haben. Die Vereinigten Staaten werden die Einhaltung der Verpflichtungen des Fahrplans zum Frieden durch beide Seiten beobachten und beurteilen. Solange nicht anders von den Parteien vereinbart, wird die Umsetzung des künftigen Friedensvertrages Gegenstand der Umsetzung der "Roadmap" sein, beurteilt von den Vereinigten Staaten."
Die diplomatisch längst ad acta gelegte "Roadmap", der so genannte "Friedensfahrplan", der Ende April 2003 unter amerikanischer Anleitung von den übrigen drei Mitgliedern des Nahost-Quartetts - Russland, die Vereinten Nationen und die Europäische Union - angenommen worden war, sollte also politisch exhumiert - und in neuer Ausprägung von Politikern umgesetzt werden, die jeweils am Ende ihrer politischen Karriere standen: George Bush, Ehud Olmert und Mahmud Abbas. Die Ankündigung des US-Präsidenten, binnen zwölf Monaten die Verhandlungen erfolgreich zu einem Abschluss führen zu wollen, war eher von außenpolitischem Wunschdenken als von nüchterner Realpolitik geprägt:
"Wir stimmen darin überein, in entschlossene, fortlaufende und andauernde Verhandlungen einzutreten und werden jede Anstrengung unternehmen, um eine Vereinbarung bis zum Ende des Jahres 2008 abzuschließen."
Anfang Dezember 2008 - vor dem Hauptpostamt von Ramallah in der Westbank. Jetzt, am späten Vormittag, schieben sich Scharen von Schulkindern in Jeans und blauen Schuluniformen die steile Straße empor, Angestellte promenieren an den Schaufenstern der kleinen Einzelhandelsläden hinauf, Mütter mit ihren Kleinkindern an der Hand sind auf dem Weg zum Einkaufen. Ramallah, Sitz der palästinensischen Autonomiebehörde von Mahmud Abbas, zählt in diesen Wochen und Monaten zu den Städten im besetzten Westjordanland, in denen die mutmaßlichen Vorteile des so genannten "Annapolis-Prozesses" für die Bevölkerung spürbar werden sollten: eine schrittweise Lockerung der stark eingeschränkten Bewegungsfreiheit, die Verringerung der Anzahl der über 560 israelischen Checkpoints, besser funktionierende palästinensische Sicherheitsinstitutionen. - Zufällig auf der Straße vor dem Hauptpostamt befragte Passanten lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie Annapolis für eine weitere der ebenso zahlreichen wie ergebnislosen Nahost-Konferenzen halten. Hanna, eine junge Bankangestellte von Anfang 30, gibt auf die Frage, ob ihr und ihrer Familie die Konferenz von Annapolis persönlich etwas genützt habe, sehr energisch zurück:
"Nein, nein, nein, nichts. Es wird sogar schlimmer und schlimmer. Die Menschen leiden immer mehr. Wir sehen die Ermordungen, die Menschen hegen keine Hoffnungen mehr. Hoffnungen, die mit Annapolis zu tun haben, mit der "Roadmap", mit den Arabern. Sie hoffen nur noch auf Gott. Er ist der Einzige, der etwas ändern wird."
Asam, ein Psychotherapeut von Ende 30, kommt zu einer ähnlichen Einschätzung - von Enttäuschung kann bei dem bärtigen Mann in braunem Cordanzug keine Rede mehr sein. Er fühle sich eher in seiner tief sitzenden Skepsis gegenüber internationalen Bemühungen, den so genannten Friedensprozess zu befördern, nur bestätigt:
"Das sehen wir doch: Jedes Mal kommen sie mit anderen Namen: Oslo, Taba, Madrid, doch eigentlich ist all das nutzlos. Zuletzt haben sie es Annapolis genannt. Ich glaube, die Israelis wissen ganz genau, wie die Lage ist und welches die Probleme sind, und sie verschwenden unsere Zeit. Israel schafft Tatsachen. Von Jerusalem ist nicht mehr viel übrig, die Mauer vereinnahmt mehr und mehr palästinensisches Land. Sie sind nicht ernsthaft bemüht, die palästinensischen Häftlinge freizulassen. Darum aber geht es. Wenn es ihnen wirklich ernst damit wäre. Macht etwas, ändert es!"
Nach Annapolis beobachtete die palästinensische Öffentlichkeit, ob die israelische Regierung den Versuch starten würde, den eigenen Verpflichtungen gerecht zu werden, die Israel in Annapolis durch die Wiederbelebung der "Roadmap" zu erfüllen hatte. Vor allem der kompletten Einstellung der Siedlungsaktivitäten einschließlich des so genannten "natürlichen Wachstums" innerhalb der jüdischen Siedlungen galt das ungeteilte Augenmerk der palästinensischen Regierung unter Salam Fayyad - sowie das der Bevölkerung.
Bei jedem ihrer Besuche in der Region musste sich US-Außenministerin Condoleezza Rice von ihren palästinensischen Gastgebern anhören, dass Israel aller rosigen politischen Rhetorik zum Trotz das Tempo des Siedlungsausbaus seit Annapolis deutlich angezogen hatte.
Am 7. November 2008 steht die amerikanische Chefdiplomatin erneut in Ramallah neben Palästinenserpräsident Abbas und folgt dessen wiederholtem Protest gegen den Siedlungsbau mit unbewegter Miene - er verlange, sagt Abbas, dass die USA Israel zur Umsetzung der ersten Phase der "Roadmap" anhalte, dass die gewaltsamen Übergriffe von jüdischen Siedlern auf Palästinenser in der Westbank eingestellt werden müssten. Er bemängele, dass nach wie vor keine einzige palästinensische Institution wieder ihre Büros in Ost-Jerusalem habe eröffnen können, weil Israel dies unterbinde, obgleich es laut "Roadmap" längst hätte geschehen müssen. Die US-Außenministerin richtet sich an Abbas und räumt dann offen ein:
"Wir wussten, als wir sagten, dass in Annapolis der Wunsch, nein die Absicht zum Ausdruck gebracht wird, Palästinensern und Israelis dabei zu helfen, ein Abkommen bis zum Ende des Jahres zu erzielen, dass wenn dieses Abkommen nicht fristgerecht erreicht würde, es Leute geben wird, die behaupten, dass der Annapolis-Prozess, die Verhandlungen gescheitert sind. Tatsächlich ist es genau umgekehrt."
Annapolis habe die Grundlagen für die mögliche Bildung des Staates Palästina gelegt, formuliert Rice in Ramallah, und zählt dabei vor allem die Stärkung der Abbas getreuen Sicherheitskräfte in der Westbank auf, die unter Anleitung des US-Militärs in Jordanien trainiert und nach Jenin und Hebron geschickt wurden und in einigen Tagen auch nach Bethlehem entsandt werden sollen. Vorsichtig räumt die US-Außenministerin dann ein, dass die Aufgabe, die sich die Bush-Regierung in Annapolis gestellt hat, doch zu ambitioniert gewesen sei.
"Der Annapolis-Prozess ist lebendig und dynamisch. Und er dauert an. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass er zu einem Staat Palästina führt, wenn am Prozess bis zum Ende festgehalten wird. Es ist wahrscheinlich nicht sehr überraschend, dass ein Konflikt, der jetzt schon Jahrzehnte andauert, vermutlich länger braucht, um gelöst zu werden. Aber die richtigen Bestandteile sind vorhanden."
Aus den internen Unterlagen der PLO von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas geht allerdings hervor, dass die blumige Sprache der US-Außenministerin nichts an den klaren Rückschlägen seit Annapolis ändern kann. Der Bericht der palästinensischen Verhandlungskommission der PLO vom 20. November 2008 listet auf wenigen Seiten nüchtern auf - Zitat:
Die israelischen Siedlungsaktivitäten haben in der gesamten West Bank im Jahr nach Annapolis dramatisch und in nahezu allen Bereichen zugenommen - von der Planung der Gebäude, über deren Genehmigung bis hin zu ihrer Errichtung - vor allem in und um Ost-Jerusalem.
In den ersten elf Monaten nach der Annapolis-Konferenz hat die israelische Regierung mit dem Bau von mindestens 729 neuen Wohnungsbau-Einheiten in den "West Bank Siedlungen" begonnen. Das ist ein Anstieg von 33 Prozent im Vergleich zu dem entsprechenden Zeitraum vor Annapolis.
In den zwölf Monaten nach Annapolis haben israelische Behörden 19 Ausschreibungen für den Siedlungsbau gemacht, für insgesamt 2300 neue Wohneinheiten; das entspricht siebzehn Mal so vielen Wohneinheiten wie im Jahr vor Annapolis.
Entsprechend der übrigen "Nach-Annapolis-Indikatoren", hat die Anzahl der Palästinenser, die von israelischen Streitkräften getötet und verletzt wurden, nach November 2007 wesentlich zugenommen. Wurden in den ersten elf Monaten des Jahres 2007 330 Palästinenser von israelischen Streitkräften getötet und weitere 1706 verletzt, so wurden in den ersten elf Monaten nach Annapolis mindestens 498 Palästinenser getötet und weitere 2148 verletzt. Das ist ein Anstieg von 51 Prozent bei den getöteten und von 26 Prozent bei den verletzten Palästinensern.
"Ich glaube, als Annapolis begann, befand sich Olmert bereits in einer ziemlich schwierigen innenpolitischen Lage."
Die israelische Journalistin Orly Noy, die sich seit vielen Jahren in gemeinsamen israelisch-palästinensischen Friedensgruppierungen betätigt:
"Die Regierung Olmert kam nach Annapolis, ohne dass die israelische Öffentlichkeit wusste, was er eigentlich dort erreichen wollte. Also sagte er etwas sehr allgemeines über einen Friedensprozess oder vielleicht einen Entwurf eines Friedensabkommens, aber er war nicht mutig genug, um der israelischen Öffentlichkeit ganz deutlich zu sagen: Ja, wir müssen in Jerusalem einige Kompromisse schließen. Ja, wir müssen die Flüchtlingsfrage irgendwie verhandeln."
Der israelische Ministerpräsident hatte innenpolitisch bereits einen erheblichen Preis allein für seine Bereitschaft zu zahlen gehabt, nach Annapolis reisen und dort eine Wiederaufnahme von direkten Verhandlungen mit Palästinenserpräsident Abbas aufnehmen zu wollen: Olmerts damaliger Koalitionspartner, die äußerst rechtsgerichtete russische Einwandererpartei Israel Beiteinu, verließ vor Beginn der Konferenz die Regierung, aus Protest gegen Annapolis. Beständig hatte sich Ehud Olmert daheim eines lautstarken, von den Medien lebhaft unterstützenden Chors rechtsgerichteter Politiker zu erwehren, die dem Regierungschef unterstellten, allzu bereitwillig "Konzessionen" zu machen, allein um von den Ermittlungen der Antikorruptionseinheit der israelischen Polizei abzulenken. Er dürfe nicht über Jerusalem verhandeln, verlangte die ultra-orthodoxe Shas-Partei, die immer wieder mit dem Ausscheiden aus der Koalition drohte. Je stärker Olmert in den politischen Abwärtssog geriet, der ihn schließlich zum Rücktritt vom Vorsitz der Kadima-Partei und jetzt auf den Posten eines geschäftsführenden Regierungschefs zwang, desto energischer ergriff Außenministerin Tzipi Livni die Initiative:
"Eines der wichtigen Dinge, die wir im Verlauf der Zeit seit Annapolis erreichten, ist, darauf zu bestehen, dass der Verhandlungsprozess bilateral ist, dass wir die Welt an den Inhalten dessen, was geschieht, nicht teilhaben lassen, und dass die Welt den Prozess als solchen unterstützt, aber sich nicht in die Inhalte einmischt, uns keine Lösungen aufzwingt, keine Zwischenlösungen vorschlägt und das ist eigentlich das Ziel des Treffens morgen."
Das Nahost-Quartett, dem die Außenministerin einen Tag nach diesem Interview mit dem israelischen Rundfunk, am 10. November 2008, Bericht erstattete, zeigte sich mit dieser Art der "Verhandlungsführung" zufrieden. Tzipi Livni oblagen schließlich die Gespräche mit der palästinensischen Delegation unter der Leitung von Ahmed Kurei, eines jahrzehntelangen Arafat-Getreuen und Mitautoren der gescheiterten Osloer Verträge. Sorgsam achtete Israels Chefdiplomatin darauf, dass nicht das geringste Detail über diese Begegnungen an die Öffentlichkeit drang, mit "Partnern", die in jeder Hinsicht, selbst bei der Erlaubnis für die Anreise zum Tagungsort in Jerusalem - auf die Unterstützung der israelischen Regierung angewiesen sind. Mittlerweile - im laufenden israelischen Wahlkampf - offenbart die Kadima-Vorsitzende und Außenministerin, dass ihre originären politischen Wurzeln im rechtsgerichteten Likud liegen:
"Kadima repräsentiert die Mitte, die sagt: Wir treiben einen Prozess voran, ja, und wir treiben ihn verantwortungsvoll voran. Während des Verhandlungsprozesses werden wir uns um die Sicherheit Israels kümmern. Wenn Sicherheit erreicht wird, werden wir unterschreiben. Wenn keine Sicherheit erreicht wird, werden wir den Prozess weiterführen. Wenn die Hamas ihren Kopf hebt, kann man sie treffen. Das sind die Prinzipien des Prozesses, dem ich vorstehe. Das sind die Prinzipien von Kadima."
Die israelische Friedensaktivistin Orly Noy:
"Wir haben eine Regierung. Und zehn verschiedene Stimmen, zehn verschiedene Positionen und zehn politische Auffassungen. Olmert sagt das eine, Tzipi Livni das andere. Dichter und Mofaz widersprechen dann dem, was Olmert und Livni gesagt haben. Und bei all dem Durcheinander wird nicht klar, welche Position Israel nun innehat. Ich kann Ihnen nicht sagen, dass ich irgendetwas von dem verstanden hätte, was Tzipi Livni angeboten hat. Falls sie überhaupt etwas angeboten hat. Sicherlich bezieht sie striktere Positionen als Ehud Olmert. Während der Verhandlungen war sie sehr konservativ, wenn es um Jerusalem und die Flüchtlingsfrage ging. Aber nichts von den Verhandlungen drang nach draußen - die Öffentlichkeit in Israel tappt noch immer im Dunklen."
Im Schein seiner kräftigen Taschenlampe führt Abed el deim Abu Medean - einer der reichsten Großgrundbesitzer im Gazastreifen - den ausländischen Besucher über seinen Hof zu den Vorrats- und Geräteschuppen. Es ist Donnerstagabend, der 4. Dezember 2008, ein beeindruckend schöner Sternenhimmel spannt sich über die im Dunkeln stehenden Zitrushaine des Gastgebers. Gefolgt von zweien seiner Landarbeiter öffnet der Grundbesitzer eine Metalltür, tritt in einen dunklen Vorratsraum und sticht dann mit einem Messer in einen der aufgeschichteten Düngersäcke:
"Das ist Ammoniak, Kunstdünger. Er kostete 20 Schekel. Jetzt 90 Schekel. 1000 Kilo kosten mich 1000 Dollar. Unglaublich. Aber ich bin dazu gezwungen, diesen Preis zu zahlen - als Bauer brauche ich den Dünger."
Wie in jedem Winter, so hat Abed auch an diesem Donnerstagabend einige seiner Landarbeiter zum allwöchentlichen Treffen eingeladen, in ein leeres Gewächshaus, dessen einzige Glühbirne von dem Strom aus dem Generator betrieben wird. Wir sitzen auf weißen Plastikstühlen, acht bis zehn Männer, in der glühenden Holzkohle des Grills stehen zwei Teekannen. Annapolis scheint hier, auf einer Obstplantage in der Mitte des Gazastreifens, noch viel weiter entfernt von dem realen Leben zu sein als in Ramallah.
Anfang November, in der Nacht der amerikanischen Präsidentschaftswahlen, führte die israelische Armee im Gazastreifen eine Militäroperation gegen einen mutmaßlichen Tunnel durch, den militante Palästinenser für einen Angriff auf israelische Soldaten hätten nutzen wollen. Sechs Palästinenser sind in dieser Nacht getötet worden, fünf von ihnen Hamas-Mitglieder - am darauf folgenden Tag, als sich die Welt mit den Auswirkungen einer Obama-Präsidentschaft ausgiebig beschäftigte, feuerte die Hamas mit Dutzenden von Kassam-Raketen zurück. Israel schloss alle Grenz - und Warenübergänge, wochenlang, selbst für die Hilfsgüter der Vereinten Nationen und des Internationalen Roten Kreuzes. Eine im Nahost-Konflikt beispiellose Abschottung von anderthalb Millionen Menschen durch Israel begann. Mit der Begründung, man könne ja schlechterdings Waren in das Gebiet schicken, von dem aus man beschossen werde. - Eine Logik, der sich - von zaghaften Einwänden des UN-Generalsekretärs abgesehen - die große Mehrheit der westlichen Staatenwelt kommentarlos angeschlossen hat.
In dem Gewächshaus der Großgrundbesitzers ergreift ein kräftiger Mann von Mitte 50 das Wort, Abed el Ruhman, der - wie später zu erfahren ist - zehn Jahre lang in israelischen Gefängnissen eingesessen hat:
"Was Annapolis anbetrifft: Wollen Sie wissen, was eine Mehrheit unter uns Palästinensern für eine Lösung hält, mit der alle Seiten zufrieden sind? Ich bin ein einfacher Mann und vertrete die richtige Meinung, die der anderen einfachen Menschen. Fernab von Politik und Diplomatie. Für uns ist Annapolis ein Indikator: Vor Annapolis gab es in der Westbank zum Beispiel 521 Straßenblockaden. Ein Jahr nach Annapolis gibt es 648 Straßenblockaden. Vor Annapolis war die Situation nicht so schlimm wie nach Annapolis. Was die Siedlungen anbetrifft, so wurden die nach Annapolis um 20 Prozent zusätzlich ausgebaut. Das ist es, was uns sehr skeptisch macht gegenüber jeglicher Initiative, diesen Konflikt zu lösen."
Der "Annapolis-Prozess" sollte den geplagten Einwohnern des Gazastreifens die Vorzüge eines Lebens unter einer gemäßigten Führung wie der durch die Fatah in der Westbank schmackhaft machen. Doch diese Absicht wird von den Teilnehmern der abendlichen Tee-Runde im Gewächshaus im Gazastreifen nur noch mit müder Resignation aufgenommen. Machtlos sind sie den immer neuen Einfällen der islamistischen Hamas ausgesetzt, ohne auch nur im Geringsten darauf hoffen zu können, aus der Kollektivbestrafung Israels entlassen zu werden. Ihre Kinder, so geben die um den kniehohen Grill versammelten Familienväter zu, würden nicht begreifen, warum sie Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr inzwischen, unter so miserablen Lebensumständen groß werden müssten:
"Wenn die Kinder uns Erwachsene fragen, dann verlangen sie eine Erklärung für das, was geschieht. Ich und viele andere Väter werden dann sagen: Israel riegelt uns ab und drangsaliert uns. Und die arabischen Brüder sind nachgiebig und schauen zu. Das ist es, was uns in diese Lage gebracht hat."
Gegen 22 Uhr löst sich die Runde auf - nacheinander verabschieden sich die eingeladenen Gäste von Großgrundbesitzer Abed und gehen durch die Dunkelheit nach Hause. Abed macht mit seiner Taschenlampe in der Hand einen letzten Rundgang - und schließt dann lärmend seinen Geräteschuppen zu.
Annapolis, im US-Bundesstaat Maryland - es ist der 27. November 2007. Eingerahmt vom israelischen Regierungschef Ehud Olmert und von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas steht US-Präsident George W. Bush kurz nach elf Uhr vormittags auf dem Podium - hinter den drei Politikern prangt zwischen zwei goldfarbenen Säulen die Aufschrift: "The Annapolis Conference". Ein Jahr vor dem Ende seiner zweiten Amtszeit hatte Präsident Bush auf einer derartigen Zusammenkunft in großer diplomatischer Runde bestanden, hatte den eher unwilligen Olmert und den machtlosen Abbas intensiv bedrängt, einer öffentlichkeitswirksamen Veranstaltung auf amerikanischem Boden zuzustimmen und vorab eine Absichtserklärung zu produzieren, die er - Bush - zu Beginn der Annapolis Konferenz öffentlich bereits als deren Ergebnis vorlesen konnte:
"Die Parteien verpflichten sich zu dem, mit der Umsetzung der bestehenden Zusagen der "Roadmap" fortzufahren, bis sie einen Friedensvertrag ausgehandelt haben. Die Vereinigten Staaten werden die Einhaltung der Verpflichtungen des Fahrplans zum Frieden durch beide Seiten beobachten und beurteilen. Solange nicht anders von den Parteien vereinbart, wird die Umsetzung des künftigen Friedensvertrages Gegenstand der Umsetzung der "Roadmap" sein, beurteilt von den Vereinigten Staaten."
Die diplomatisch längst ad acta gelegte "Roadmap", der so genannte "Friedensfahrplan", der Ende April 2003 unter amerikanischer Anleitung von den übrigen drei Mitgliedern des Nahost-Quartetts - Russland, die Vereinten Nationen und die Europäische Union - angenommen worden war, sollte also politisch exhumiert - und in neuer Ausprägung von Politikern umgesetzt werden, die jeweils am Ende ihrer politischen Karriere standen: George Bush, Ehud Olmert und Mahmud Abbas. Die Ankündigung des US-Präsidenten, binnen zwölf Monaten die Verhandlungen erfolgreich zu einem Abschluss führen zu wollen, war eher von außenpolitischem Wunschdenken als von nüchterner Realpolitik geprägt:
"Wir stimmen darin überein, in entschlossene, fortlaufende und andauernde Verhandlungen einzutreten und werden jede Anstrengung unternehmen, um eine Vereinbarung bis zum Ende des Jahres 2008 abzuschließen."
Anfang Dezember 2008 - vor dem Hauptpostamt von Ramallah in der Westbank. Jetzt, am späten Vormittag, schieben sich Scharen von Schulkindern in Jeans und blauen Schuluniformen die steile Straße empor, Angestellte promenieren an den Schaufenstern der kleinen Einzelhandelsläden hinauf, Mütter mit ihren Kleinkindern an der Hand sind auf dem Weg zum Einkaufen. Ramallah, Sitz der palästinensischen Autonomiebehörde von Mahmud Abbas, zählt in diesen Wochen und Monaten zu den Städten im besetzten Westjordanland, in denen die mutmaßlichen Vorteile des so genannten "Annapolis-Prozesses" für die Bevölkerung spürbar werden sollten: eine schrittweise Lockerung der stark eingeschränkten Bewegungsfreiheit, die Verringerung der Anzahl der über 560 israelischen Checkpoints, besser funktionierende palästinensische Sicherheitsinstitutionen. - Zufällig auf der Straße vor dem Hauptpostamt befragte Passanten lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie Annapolis für eine weitere der ebenso zahlreichen wie ergebnislosen Nahost-Konferenzen halten. Hanna, eine junge Bankangestellte von Anfang 30, gibt auf die Frage, ob ihr und ihrer Familie die Konferenz von Annapolis persönlich etwas genützt habe, sehr energisch zurück:
"Nein, nein, nein, nichts. Es wird sogar schlimmer und schlimmer. Die Menschen leiden immer mehr. Wir sehen die Ermordungen, die Menschen hegen keine Hoffnungen mehr. Hoffnungen, die mit Annapolis zu tun haben, mit der "Roadmap", mit den Arabern. Sie hoffen nur noch auf Gott. Er ist der Einzige, der etwas ändern wird."
Asam, ein Psychotherapeut von Ende 30, kommt zu einer ähnlichen Einschätzung - von Enttäuschung kann bei dem bärtigen Mann in braunem Cordanzug keine Rede mehr sein. Er fühle sich eher in seiner tief sitzenden Skepsis gegenüber internationalen Bemühungen, den so genannten Friedensprozess zu befördern, nur bestätigt:
"Das sehen wir doch: Jedes Mal kommen sie mit anderen Namen: Oslo, Taba, Madrid, doch eigentlich ist all das nutzlos. Zuletzt haben sie es Annapolis genannt. Ich glaube, die Israelis wissen ganz genau, wie die Lage ist und welches die Probleme sind, und sie verschwenden unsere Zeit. Israel schafft Tatsachen. Von Jerusalem ist nicht mehr viel übrig, die Mauer vereinnahmt mehr und mehr palästinensisches Land. Sie sind nicht ernsthaft bemüht, die palästinensischen Häftlinge freizulassen. Darum aber geht es. Wenn es ihnen wirklich ernst damit wäre. Macht etwas, ändert es!"
Nach Annapolis beobachtete die palästinensische Öffentlichkeit, ob die israelische Regierung den Versuch starten würde, den eigenen Verpflichtungen gerecht zu werden, die Israel in Annapolis durch die Wiederbelebung der "Roadmap" zu erfüllen hatte. Vor allem der kompletten Einstellung der Siedlungsaktivitäten einschließlich des so genannten "natürlichen Wachstums" innerhalb der jüdischen Siedlungen galt das ungeteilte Augenmerk der palästinensischen Regierung unter Salam Fayyad - sowie das der Bevölkerung.
Bei jedem ihrer Besuche in der Region musste sich US-Außenministerin Condoleezza Rice von ihren palästinensischen Gastgebern anhören, dass Israel aller rosigen politischen Rhetorik zum Trotz das Tempo des Siedlungsausbaus seit Annapolis deutlich angezogen hatte.
Am 7. November 2008 steht die amerikanische Chefdiplomatin erneut in Ramallah neben Palästinenserpräsident Abbas und folgt dessen wiederholtem Protest gegen den Siedlungsbau mit unbewegter Miene - er verlange, sagt Abbas, dass die USA Israel zur Umsetzung der ersten Phase der "Roadmap" anhalte, dass die gewaltsamen Übergriffe von jüdischen Siedlern auf Palästinenser in der Westbank eingestellt werden müssten. Er bemängele, dass nach wie vor keine einzige palästinensische Institution wieder ihre Büros in Ost-Jerusalem habe eröffnen können, weil Israel dies unterbinde, obgleich es laut "Roadmap" längst hätte geschehen müssen. Die US-Außenministerin richtet sich an Abbas und räumt dann offen ein:
"Wir wussten, als wir sagten, dass in Annapolis der Wunsch, nein die Absicht zum Ausdruck gebracht wird, Palästinensern und Israelis dabei zu helfen, ein Abkommen bis zum Ende des Jahres zu erzielen, dass wenn dieses Abkommen nicht fristgerecht erreicht würde, es Leute geben wird, die behaupten, dass der Annapolis-Prozess, die Verhandlungen gescheitert sind. Tatsächlich ist es genau umgekehrt."
Annapolis habe die Grundlagen für die mögliche Bildung des Staates Palästina gelegt, formuliert Rice in Ramallah, und zählt dabei vor allem die Stärkung der Abbas getreuen Sicherheitskräfte in der Westbank auf, die unter Anleitung des US-Militärs in Jordanien trainiert und nach Jenin und Hebron geschickt wurden und in einigen Tagen auch nach Bethlehem entsandt werden sollen. Vorsichtig räumt die US-Außenministerin dann ein, dass die Aufgabe, die sich die Bush-Regierung in Annapolis gestellt hat, doch zu ambitioniert gewesen sei.
"Der Annapolis-Prozess ist lebendig und dynamisch. Und er dauert an. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass er zu einem Staat Palästina führt, wenn am Prozess bis zum Ende festgehalten wird. Es ist wahrscheinlich nicht sehr überraschend, dass ein Konflikt, der jetzt schon Jahrzehnte andauert, vermutlich länger braucht, um gelöst zu werden. Aber die richtigen Bestandteile sind vorhanden."
Aus den internen Unterlagen der PLO von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas geht allerdings hervor, dass die blumige Sprache der US-Außenministerin nichts an den klaren Rückschlägen seit Annapolis ändern kann. Der Bericht der palästinensischen Verhandlungskommission der PLO vom 20. November 2008 listet auf wenigen Seiten nüchtern auf - Zitat:
Die israelischen Siedlungsaktivitäten haben in der gesamten West Bank im Jahr nach Annapolis dramatisch und in nahezu allen Bereichen zugenommen - von der Planung der Gebäude, über deren Genehmigung bis hin zu ihrer Errichtung - vor allem in und um Ost-Jerusalem.
In den ersten elf Monaten nach der Annapolis-Konferenz hat die israelische Regierung mit dem Bau von mindestens 729 neuen Wohnungsbau-Einheiten in den "West Bank Siedlungen" begonnen. Das ist ein Anstieg von 33 Prozent im Vergleich zu dem entsprechenden Zeitraum vor Annapolis.
In den zwölf Monaten nach Annapolis haben israelische Behörden 19 Ausschreibungen für den Siedlungsbau gemacht, für insgesamt 2300 neue Wohneinheiten; das entspricht siebzehn Mal so vielen Wohneinheiten wie im Jahr vor Annapolis.
Entsprechend der übrigen "Nach-Annapolis-Indikatoren", hat die Anzahl der Palästinenser, die von israelischen Streitkräften getötet und verletzt wurden, nach November 2007 wesentlich zugenommen. Wurden in den ersten elf Monaten des Jahres 2007 330 Palästinenser von israelischen Streitkräften getötet und weitere 1706 verletzt, so wurden in den ersten elf Monaten nach Annapolis mindestens 498 Palästinenser getötet und weitere 2148 verletzt. Das ist ein Anstieg von 51 Prozent bei den getöteten und von 26 Prozent bei den verletzten Palästinensern.
"Ich glaube, als Annapolis begann, befand sich Olmert bereits in einer ziemlich schwierigen innenpolitischen Lage."
Die israelische Journalistin Orly Noy, die sich seit vielen Jahren in gemeinsamen israelisch-palästinensischen Friedensgruppierungen betätigt:
"Die Regierung Olmert kam nach Annapolis, ohne dass die israelische Öffentlichkeit wusste, was er eigentlich dort erreichen wollte. Also sagte er etwas sehr allgemeines über einen Friedensprozess oder vielleicht einen Entwurf eines Friedensabkommens, aber er war nicht mutig genug, um der israelischen Öffentlichkeit ganz deutlich zu sagen: Ja, wir müssen in Jerusalem einige Kompromisse schließen. Ja, wir müssen die Flüchtlingsfrage irgendwie verhandeln."
Der israelische Ministerpräsident hatte innenpolitisch bereits einen erheblichen Preis allein für seine Bereitschaft zu zahlen gehabt, nach Annapolis reisen und dort eine Wiederaufnahme von direkten Verhandlungen mit Palästinenserpräsident Abbas aufnehmen zu wollen: Olmerts damaliger Koalitionspartner, die äußerst rechtsgerichtete russische Einwandererpartei Israel Beiteinu, verließ vor Beginn der Konferenz die Regierung, aus Protest gegen Annapolis. Beständig hatte sich Ehud Olmert daheim eines lautstarken, von den Medien lebhaft unterstützenden Chors rechtsgerichteter Politiker zu erwehren, die dem Regierungschef unterstellten, allzu bereitwillig "Konzessionen" zu machen, allein um von den Ermittlungen der Antikorruptionseinheit der israelischen Polizei abzulenken. Er dürfe nicht über Jerusalem verhandeln, verlangte die ultra-orthodoxe Shas-Partei, die immer wieder mit dem Ausscheiden aus der Koalition drohte. Je stärker Olmert in den politischen Abwärtssog geriet, der ihn schließlich zum Rücktritt vom Vorsitz der Kadima-Partei und jetzt auf den Posten eines geschäftsführenden Regierungschefs zwang, desto energischer ergriff Außenministerin Tzipi Livni die Initiative:
"Eines der wichtigen Dinge, die wir im Verlauf der Zeit seit Annapolis erreichten, ist, darauf zu bestehen, dass der Verhandlungsprozess bilateral ist, dass wir die Welt an den Inhalten dessen, was geschieht, nicht teilhaben lassen, und dass die Welt den Prozess als solchen unterstützt, aber sich nicht in die Inhalte einmischt, uns keine Lösungen aufzwingt, keine Zwischenlösungen vorschlägt und das ist eigentlich das Ziel des Treffens morgen."
Das Nahost-Quartett, dem die Außenministerin einen Tag nach diesem Interview mit dem israelischen Rundfunk, am 10. November 2008, Bericht erstattete, zeigte sich mit dieser Art der "Verhandlungsführung" zufrieden. Tzipi Livni oblagen schließlich die Gespräche mit der palästinensischen Delegation unter der Leitung von Ahmed Kurei, eines jahrzehntelangen Arafat-Getreuen und Mitautoren der gescheiterten Osloer Verträge. Sorgsam achtete Israels Chefdiplomatin darauf, dass nicht das geringste Detail über diese Begegnungen an die Öffentlichkeit drang, mit "Partnern", die in jeder Hinsicht, selbst bei der Erlaubnis für die Anreise zum Tagungsort in Jerusalem - auf die Unterstützung der israelischen Regierung angewiesen sind. Mittlerweile - im laufenden israelischen Wahlkampf - offenbart die Kadima-Vorsitzende und Außenministerin, dass ihre originären politischen Wurzeln im rechtsgerichteten Likud liegen:
"Kadima repräsentiert die Mitte, die sagt: Wir treiben einen Prozess voran, ja, und wir treiben ihn verantwortungsvoll voran. Während des Verhandlungsprozesses werden wir uns um die Sicherheit Israels kümmern. Wenn Sicherheit erreicht wird, werden wir unterschreiben. Wenn keine Sicherheit erreicht wird, werden wir den Prozess weiterführen. Wenn die Hamas ihren Kopf hebt, kann man sie treffen. Das sind die Prinzipien des Prozesses, dem ich vorstehe. Das sind die Prinzipien von Kadima."
Die israelische Friedensaktivistin Orly Noy:
"Wir haben eine Regierung. Und zehn verschiedene Stimmen, zehn verschiedene Positionen und zehn politische Auffassungen. Olmert sagt das eine, Tzipi Livni das andere. Dichter und Mofaz widersprechen dann dem, was Olmert und Livni gesagt haben. Und bei all dem Durcheinander wird nicht klar, welche Position Israel nun innehat. Ich kann Ihnen nicht sagen, dass ich irgendetwas von dem verstanden hätte, was Tzipi Livni angeboten hat. Falls sie überhaupt etwas angeboten hat. Sicherlich bezieht sie striktere Positionen als Ehud Olmert. Während der Verhandlungen war sie sehr konservativ, wenn es um Jerusalem und die Flüchtlingsfrage ging. Aber nichts von den Verhandlungen drang nach draußen - die Öffentlichkeit in Israel tappt noch immer im Dunklen."
Im Schein seiner kräftigen Taschenlampe führt Abed el deim Abu Medean - einer der reichsten Großgrundbesitzer im Gazastreifen - den ausländischen Besucher über seinen Hof zu den Vorrats- und Geräteschuppen. Es ist Donnerstagabend, der 4. Dezember 2008, ein beeindruckend schöner Sternenhimmel spannt sich über die im Dunkeln stehenden Zitrushaine des Gastgebers. Gefolgt von zweien seiner Landarbeiter öffnet der Grundbesitzer eine Metalltür, tritt in einen dunklen Vorratsraum und sticht dann mit einem Messer in einen der aufgeschichteten Düngersäcke:
"Das ist Ammoniak, Kunstdünger. Er kostete 20 Schekel. Jetzt 90 Schekel. 1000 Kilo kosten mich 1000 Dollar. Unglaublich. Aber ich bin dazu gezwungen, diesen Preis zu zahlen - als Bauer brauche ich den Dünger."
Wie in jedem Winter, so hat Abed auch an diesem Donnerstagabend einige seiner Landarbeiter zum allwöchentlichen Treffen eingeladen, in ein leeres Gewächshaus, dessen einzige Glühbirne von dem Strom aus dem Generator betrieben wird. Wir sitzen auf weißen Plastikstühlen, acht bis zehn Männer, in der glühenden Holzkohle des Grills stehen zwei Teekannen. Annapolis scheint hier, auf einer Obstplantage in der Mitte des Gazastreifens, noch viel weiter entfernt von dem realen Leben zu sein als in Ramallah.
Anfang November, in der Nacht der amerikanischen Präsidentschaftswahlen, führte die israelische Armee im Gazastreifen eine Militäroperation gegen einen mutmaßlichen Tunnel durch, den militante Palästinenser für einen Angriff auf israelische Soldaten hätten nutzen wollen. Sechs Palästinenser sind in dieser Nacht getötet worden, fünf von ihnen Hamas-Mitglieder - am darauf folgenden Tag, als sich die Welt mit den Auswirkungen einer Obama-Präsidentschaft ausgiebig beschäftigte, feuerte die Hamas mit Dutzenden von Kassam-Raketen zurück. Israel schloss alle Grenz - und Warenübergänge, wochenlang, selbst für die Hilfsgüter der Vereinten Nationen und des Internationalen Roten Kreuzes. Eine im Nahost-Konflikt beispiellose Abschottung von anderthalb Millionen Menschen durch Israel begann. Mit der Begründung, man könne ja schlechterdings Waren in das Gebiet schicken, von dem aus man beschossen werde. - Eine Logik, der sich - von zaghaften Einwänden des UN-Generalsekretärs abgesehen - die große Mehrheit der westlichen Staatenwelt kommentarlos angeschlossen hat.
In dem Gewächshaus der Großgrundbesitzers ergreift ein kräftiger Mann von Mitte 50 das Wort, Abed el Ruhman, der - wie später zu erfahren ist - zehn Jahre lang in israelischen Gefängnissen eingesessen hat:
"Was Annapolis anbetrifft: Wollen Sie wissen, was eine Mehrheit unter uns Palästinensern für eine Lösung hält, mit der alle Seiten zufrieden sind? Ich bin ein einfacher Mann und vertrete die richtige Meinung, die der anderen einfachen Menschen. Fernab von Politik und Diplomatie. Für uns ist Annapolis ein Indikator: Vor Annapolis gab es in der Westbank zum Beispiel 521 Straßenblockaden. Ein Jahr nach Annapolis gibt es 648 Straßenblockaden. Vor Annapolis war die Situation nicht so schlimm wie nach Annapolis. Was die Siedlungen anbetrifft, so wurden die nach Annapolis um 20 Prozent zusätzlich ausgebaut. Das ist es, was uns sehr skeptisch macht gegenüber jeglicher Initiative, diesen Konflikt zu lösen."
Der "Annapolis-Prozess" sollte den geplagten Einwohnern des Gazastreifens die Vorzüge eines Lebens unter einer gemäßigten Führung wie der durch die Fatah in der Westbank schmackhaft machen. Doch diese Absicht wird von den Teilnehmern der abendlichen Tee-Runde im Gewächshaus im Gazastreifen nur noch mit müder Resignation aufgenommen. Machtlos sind sie den immer neuen Einfällen der islamistischen Hamas ausgesetzt, ohne auch nur im Geringsten darauf hoffen zu können, aus der Kollektivbestrafung Israels entlassen zu werden. Ihre Kinder, so geben die um den kniehohen Grill versammelten Familienväter zu, würden nicht begreifen, warum sie Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr inzwischen, unter so miserablen Lebensumständen groß werden müssten:
"Wenn die Kinder uns Erwachsene fragen, dann verlangen sie eine Erklärung für das, was geschieht. Ich und viele andere Väter werden dann sagen: Israel riegelt uns ab und drangsaliert uns. Und die arabischen Brüder sind nachgiebig und schauen zu. Das ist es, was uns in diese Lage gebracht hat."
Gegen 22 Uhr löst sich die Runde auf - nacheinander verabschieden sich die eingeladenen Gäste von Großgrundbesitzer Abed und gehen durch die Dunkelheit nach Hause. Abed macht mit seiner Taschenlampe in der Hand einen letzten Rundgang - und schließt dann lärmend seinen Geräteschuppen zu.