Donnerstag, 18. April 2024

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Ungarn und die Flüchtlingskrise
"Die Politik der Regierung ist hoffnungslos"

Mit dem rigorosen Vorgehen gegen Flüchtlinge wolle die ungarische Regierung vor allem Abschrecken, sagte der frühere Außenminister Peter Balázs im Deutschlandfunk. Das funktioniere allerdings nicht. Außerdem gebe es in der Bevölkerung eine viel positivere Einstellung zu Flüchtlingen.

Peter Balázs im Gespräch mit Christiane Kaess | 09.09.2015
    Peter Balázs, früherer Außenminister von Ungarn und Ex-EU-Kommissar
    Peter Balázs, früherer Außenminister von Ungarn und Ex-EU-Kommissar, auf einer Aufnahme aus dem Jahr 2009. (AFP)
    Das Land sei tief gespalten, sagte Balázs. "Die Regierung möchte diesen Ansturm mit Gewalt aufhalten." Viele Leute allerdings halfen den Flüchtlingen freiwillig und wollten dazu beitragen, ein besseres Bild vom Land zu zeigen. "Die stille Mehrheit ist positiv", sagte der frühere Außenminister und ehemalige EU-Kommissar. Besonders die Botschaft von Papst Franziskus, der Katholiken zur Aufnahme von Vertriebenen aufgerufen habe, wirke. Das Problem sei allerdings, dass die Regierung von Viktor Orbán eine große Mehrheit im Parlament habe und damit ihre Politik reibungslos durchsetzten könne.
    Balázs betonte, seiner Ansicht nach kann die Flüchtlingskrise in der EU nicht mit einem einfachen Quotensystem gelöst werden. Das ganze System müsse geändert werden. Er forderte im Deutschlandfunk unter anderem, dass Asylanträge nicht mehr in dem Land bearbeitet werden müssten, in dem sie gestellt wurden. Ungarn werde eine eine Verteilung der Flüchtlinge per Quote ablehnen, sagte Balázs. Aber: "Solidarität ist eine Zweibahnstraße und alle EU-Mitglieder sollten das verstehen."

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Ungarn hat seinen Grenzzaun vor wenigen Tagen geschlossen, in der Hoffnung, die überforderten Behörden würden entlastet von den vielen ankommenden Flüchtlingen. Seitdem kommen die Menschen auf der Flucht über die Bahngleise immer noch nach Ungarn. Am Wochenende durften Tausende nach Deutschland ausreisen. In Ungarn wollten sie ohnehin nicht bleiben, einem Land, das zwar Mitglied der EU ist, in diesen Tagen aber von sich reden macht, weil der rechtskonservative Ministerpräsident Viktor Orbán sagt, Ungarn lasse sich nicht vorschreiben, wie das Land ethnisch zusammengesetzt sein solle, man wolle nicht mit einer größeren muslimischen Gemeinschaft zusammenleben, oder weil ein Bischof vor einer muslimischen Invasion warnt und ein führender Fidesz-Politiker vor einem Kalifat.
    In Budapest erreichen wir Peter Balazs. Er war ungarischer Außenminister, er war EU-Kommissar und heute ist er Professor an der Universität Budapest für europäische Politik. Guten Morgen, Herr Balazs.
    Peter Balazs: Guten Morgen.
    Kaess: Herr Balazs, die deutsche Nachrichten-Website "Spiegel Online", die hat zu Ungarn getitelt: "Willkommenskultur à la Guantanamo". Trifft das zu?
    Balazs: Nun, es wächst die Strömung von Flüchtlingen nach Ungarn und das Land ist tief gespalten. Die Regierung möchte diesen Strom mit Gewalt aufhalten und viele Leute helfen freiwillig den Flüchtlingen und möchten dazu beitragen, ein besseres Bild über Ungarn zu schaffen.
    Kaess: Sie sagen, das Land ist gespalten. Was glauben Sie denn, wie die Mehrheit denkt?
    Balazs: Ich glaube, die stille Mehrheit wäre sehr positiv, auch nach einer Botschaft des Papstes an die Katholische Kirche. Ungarn ist mehrheitlich katholisch. Aber die Regierung spricht ganz eindeutig gegen die Flüchtlinge und möchte sie mit Gewalt aufhalten, zuerst mit einem Stacheldrahtzaun an der Südgrenze zu Serbien und nachdem mit neuen Gesetzen, mit mehr Polizisten, sogar auch mit der Hilfe der Armee.
    "Regierung kann ihre Politik reibungslos durchsetzen"
    Kaess: Aber, Herr Balazs, wenn Sie sagen, dass eigentlich eine Mehrheit positiv eingestellt ist gegenüber den Flüchtlingen, warum bekommt die Regierung dann so viel Zustimmung mit dieser Politik der absoluten Härte?
    Balazs: Nun, die Zustimmung ist relativ. Die Regierung hat eine starke Mehrheit im Parlament und kann ihre Politik reibungslos durchsetzen.
    Kaess: Wir hören hier immer wieder Vorwürfe von Flüchtlingshelfern in Ungarn, die sagen, der ungarische Staat, der lehnt Hilfsangebote internationaler Organisationen ab, denn man ist ja offenbar überfordert. Die Behörden sind ja offenbar überfordert. Zum Beispiel hätte man auch abgelehnt eine Hilfe des UNO-Flüchtlingshilfswerkes. Steckt dahinter eine gewisse Absicht der Regierung? Glauben Sie, dass es eine Strategie der Abschreckung gibt?
    Die Familie von Abdurahman Koro aus der syrischen Stadt Aleppo in Syrien posiert am 08.09.2015 im Flüchtlingslager von Rözske in Ungarn
    Das Flüchtlingslager von Röszke in Ungarn ist für viele nur ein Zwischenstopp. (picture-alliance / dpa / Peter Zschunke)
    Balazs: Ich glaube, diese Politik - das stimmt genau -, diese Politik der Regierung ist hoffnungslos. In den kommenden Tagen rechnet man mit steigenden Anzahlen der Flüchtlinge. In den kommenden zehn Tagen kommen aus Griechenland und Serbien etwa 40.000 Leute und die kann man nicht aufhalten. Von Mitte Oktober an möchte die Orbán-Regierung neue Gesetze einführen und die sogenannte illegale Einwanderung kriminalisieren. Es gibt schon tagtäglich Gewaltszenen an der Grenze und die Polizisten können die Lage nicht unter Kontrolle halten.
    Kaess: Aber Sie würden tatsächlich sagen, diese Politik der Abschreckung ist durchaus beabsichtigt?
    Balazs: Ja.
    Kaess: Nun wird heute der Plan der EU-Kommission vorgestellt, die neuen Vorschläge. Da geht es um feste Quoten. Ihrer Einschätzung, wird Ungarn mitmachen?
    Balazs: Nein, gar nicht. Ungarn kritisiert die Quoten. Die Partnerländer kritisieren den Stacheldrahtzaun in Ungarn. Es gibt ganz verschiedene Ideen. Ich glaube, die Lage ist schon viel mehr komplizierter, als mit einem einfachen Quotensystem zu lösen. Wir brauchen eine Änderung des ganzen Systems, zuerst eine Anpassung des Systems unserer Asylanträge im Schengen-System.
    Kaess: Was meinen Sie damit genau, Herr Balazs? Was meinen Sie mit dieser Anpassung?
    Balazs: Unsere Regeln schreiben vor, die Asylanträge sollten in dem Land des ersten Eintretens bearbeitet werden.
    Kaess: Sie meinen das Dublin-Abkommen.
    Balazs: Ja, das Dublin-III-Protokoll. Nun, das geht nicht. Die Flüchtlinge möchten nicht in diesem Land bleiben. Sie möchten weitergehen, auch mit Gewalt. Sie brechen aus. Wir sollten doch die Leute identifizieren und diese Asylverfahren bis zum Ende führen. Das sollten wir irgendwie lösen. Zum Beispiel nach einer ersten Registration in Ungarn oder sogar in Griechenland könnte man mit der Hilfe des Schengen-Informationssystems das Verfahren bis zum Ende in Deutschland führen oder in anderen Schengen-Ländern. Und früher oder später sollten wir auch die Genfer Konvention zu den neuen Realitäten anpassen.
    "Man braucht eine internationale Zusammenarbeit"
    Kaess: Was meinen Sie damit genau?
    Balazs: Das ist eine alte Konvention von Anfang der 50er-Jahre, und die ist in einer Lage geschafft worden, wo viele Leute durch die Grenzstationen kamen und es gab von Zeit zu Zeit einige Asylanträge. Aber das ist nicht der Fall.
    Kaess: Aber wenn Sie von der Genfer Konvention sprechen, Herr Balazs, was wollen Sie denn mit Bürgerkriegsflüchtlingen machen, die fliehen, um ihr Leben zu retten?
    Ein Flüchtling in Ungarn mit einem Foto von Angela Merkel
    Ein Flüchtling in Ungarn mit einem Foto von Angela Merkel (picture alliance / dpa)
    Balazs: Na ja. Wir sollten diese Flüchtlinge aufnehmen, identifizieren, die Infrastruktur schaffen. Jetzt, wie Sie es in der Einführung schon gesagt haben, schlafen Leute in Südungarn auf dem kalten Boden und es ist schon kalt in der Nacht. Man braucht eine internationale Zusammenarbeit, Hilfe von verschiedenen Organisationen, und Ungarn sollte alle diese Fragen nicht alleine lösen. Man sollte auch die Orbán-Regierung davon überzeugen.
    Kaess: Aber diese Bemühungen, das ist ja eigentlich auch der Plan der EU-Kommission, zum Beispiel auch bei der Weiterverteilung oder der Abwicklung der Formalitäten der Flüchtlinge Ungarn zu entlasten. Ungarn würde im ersten Moment von diesen Maßnahmen eigentlich profitieren. - Ich möchte zum Schluss kommen. Wir haben nicht mehr viel Zeit, aber ein Punkt ist mir noch ganz wichtig, wenn es darum geht, dass Ungarn Flüchtlinge im solidarischen System der EU aufnehmen soll. Es gibt den Vorschlag, EU-Staaten, die sich bisher dagegen wehren, so wie Ungarn, mit finanziellen Drohungen zur Aufnahme von Flüchtlingen zu bewegen. Ungarn hat ja tatsächlich auch stark von der EU profitiert. Wäre das in diesem Rahmen ein adäquates Mittel?
    Balazs: Persönlich bin ich gar nicht gegen die Quotenverteilung. Ich glaube, das ist vernünftig. Aber das ist nur ein Punkt unter vielen anderen. Und alle Schengen-Länder sollten dazu beitragen, weil früher oder später werden sich die Konsequenzen im ganzen Schengen-Raum verteilen. Solidarität ist eine Zweibahnstraße und alle EU-Mitglieder sollten das klar verstehen.
    Kaess: Dennoch denken Sie, die Regierung Orbán wird das nicht tun?
    Balazs: Momentan nicht, und das ist eine Zuspitzung des Konflikts. Wie gesagt, Orbán wollte mit seinem Zaun, mit Stacheldraht, mit Polizei die Flüchtlinge aufhalten, und das wird nicht gehen.
    Kaess: … sagt Peter Balazs. Er war ungarischer Außenminister und ehemals EU-Kommissar, heute Professor an der Universität Budapest für europäische Politik. Danke für dieses Interview, Herr Balazs.
    Balazs: Danke.