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Unheimliche Menschenrevue

Unter dem Eindruck der letzten Kapitel der Berlusconi-Saga sowie des arabischen Frühlings 2011 sucht der italienische Regisseur Pippo Delbono die Auseinandersetzung mit den Figuren der Macht, ihrem Größenwahn, ihren Strategien und den Möglichkeiten ihres Scheiterns.

Von Cornelie Ueding |
    Ohne Handlung, ohne Pointen - und doch großes Theater. Wie das geht und dass das geht, zeigt der italienische Regisseur Pippo Delbono in seinem - ja was ist das: ein Stück? Revue, Show, Performance, Potpourri, Szenenfolge? Kaum möglich, das Netz ein- und ausgeblendeter, dunkel leuchtender Bilder in Worten nachzuzeichnen, das da im Münchner Residenztheater zwischen grauen Wänden unter dem Titel "Erpressung" geknüpft und ausgebreitet wird.

    Mehr schlecht als recht "zusammengehalten" werden die einzelnen Nummern dieser grausam unheimlichen Menschenrevue durch Ansagen eines senfgelb glitzernden und grässlich schön unsicheren, ja unfähigen Conferenciers, der mit verzweifelt ungelenken Witzversuchen durch eine "Italienische Nacht" zu führen versucht: Romeo und Julia - amore - mangiare - Celentano - jedes dieser Klischees trägt bereits im Moment seines Erscheinens den Keim des Zerfalls in sich und mutiert nach wenigen Augenblicken in etwas Giftiges, Wahnsinniges. Die Schule des Frauenbenimms in der Berufswelt wird zur Zwangsanstalt grimassierenden Gelächters, unterbrochen von Weinkrämpfen.

    Der Musikeleve wird vom irrsinnigen Lehrer aufs grausamste malträtiert und bleibt, die Flöte zitternd an die Lippen gepresst, angstvoll sogar die Tränen unterdrückend, allein auf der Bühne zurück. Die Familienszene wird zum Nazitribunal; das Scheidungsgespräch zur gegenseitigen Erpressung: Kinder gegen Selbstmorddrohungen. Und Romeo und Julia als nacktes, schwules Männerpaar im schmalen Lichtstreifen auf verdüsterter Bühne wirkt eher beklemmend als romantisch.

    Alle Akteure sind wie eingesperrt in ihren Körper, müssen zwanghaft vorgegebenen Ritualen folgen - und lassen jede dieser Szenen zur Farce werden. Die Mischung aus karikiertem Perfektionismus und einer verzweifelt virtuosen Wiederholungsmechanik bringt den alltäglichen Irrsinn grausam zur Kenntlichkeit; die dazwischen eingestreuten Szenen mit Wahnsinnigen erscheinen menschlich, ja, wie der grazile Tanz des Riesenbabys mit dem Ball, zuweilen heiter.

    Doch auch die mehrfach an Oliver Sacks "The man who..." erinnernde Atmosphäre eines skurril anmutenden Autismus ist höchst labil und in jedem Augenblick vom Zusammenbruch, vom jähen Umkippen ins Gegenteil bedroht. Der ängstliche ältere Herr - ein Kinderschänder. Ein anderer drapiert sich als Toter auf der Bahre. Und die chice Dame im Gesellschaftskleid bügelt ihr braves Töchterchen auf: Glättet sie samt Kleid mit sanfter Hand von vorn und, wie sich's beim Oberhemdenbügeln gehört, fachmännisch in Seitenlage.

    Es sind Delbonos unverbrauchte Bildfindungen, seine Musikalität und die zugleich beklemmende und auf merkwürdige Weise befreiende Körperchoreografie, in deren Sog jede der Figuren und auch das Publikum gerät.

    Und alles würde vielleicht trotz des heillos unbegabten Moderators zerfallen, sorgten nicht zwei Menschen im Hintergrund dafür, dass eine Art artifizielle, aber zugleich sehr persönliche und auch politische Bühnen-Körper-Welt entsteht. Da ist einmal der Regisseur Delbono selbst. In München wirkt er aus dem Off mit, als sonore italienische Stimme, die zuletzt in großen, lyrischen Passagen ein hohes Lied der Liebe gegen allen Verfall anstimmt - und als Projektion.

    Man schaut in Anneliese Neudeckers Bühne wie ins Innere eines sich verengenden Kameraobjektivs. Erst sieht man Delbonos Gesicht ganz weit hinten, bevor sein Bild, Blende um Blende, Wand um Wand, die herunterfällt, herbeigezoomt wird und sich Mund, Nase, Augen, gigantomanisch vergrößert, über die Bühne stülpen.

    Und dann ist da noch Bobò, Delbonos Stütze, Reisegefährte und theatralische Muse, taubstumm, dem man nie etwas beigebracht hatte, auch nicht die gesellschaftlich verordnete Trennung der Emotionen vom Körper, und der alles durch seinen Körper mitteilen kann.

    Bobò, den Delbono nach 45 Jahren Irrenhaus befreit hat, der sprachlos, klein, auf einen Stock gestützt, mittlerweile Mitte 70 und hellwach, einfach da ist und ganz bei sich ist. Ob er durch Auschwitz geht oder sich im Kreis dieses wunderbaren Ensembles von gottlob alles andere als "virtuosen" Menschendarstellern am Ende mit offenem Blick verbeugt.

    Selbst der Applaus war spürbar anders an diesem Abend: intensiv, lang anhaltend und irgendwie sanft, nicht scheppernd, knallig-laut.