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"Unsere Interessen vertreten, das geht so nicht"

In seiner Funktion als Bundesbankvorstand repräsentiert Thilo Sarrazin auch die Bundesrepublik. Durch seine Äußerungen schade er dem Ansehen dieser, findet Renate Künast. Er werte Menschen ab - und verletze damit die Grundregeln des Zusammenlebens.

Renate Künast im Gespräch mit Christoph Heinemann | 03.09.2010
    Christoph Heinemann: Mitgehört hat Renate Künast, die Vorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Guten Morgen!

    Renate Künast: Guten Morgen!

    Heinemann: Frau Künast, die Bundesbank und die SPD wollen Thilo Sarrazin los werden. Sie haben die Wortmeldungen unserer Hörerinnen und Hörer gehört, auch die Leserbriefe der Zeitungen. Dort liest man viel Zustimmung zu Sarrazin. Kommentiert und entscheidet das politisch-mediale Establishment am Volk vorbei?

    Künast: Nein. Wir müssen die Äußerungen von Herrn Sarrazin sehr differenziert betrachten, und zwar mal – ich tue das zumindest so – vollkommen losgelöst von dem einen Punkt, dass wir wissen, wir stehen mit der Migration immer noch am Anfang, weil dieses Land insgesamt Fehler gemacht hat, sie nämlich als Gastarbeiter begriffen hat, sie in bestimmte Straßenzüge gezwungen hat, sie nicht reingeholt hat. Also sie war nicht eine aufnehmende Gesellschaft und gleichzeitig fordernde und fördernde Gesellschaft. Und wir haben auch manchen Migranten, obwohl sehr viele sehr gut integriert sind, durchgehen lassen, sich zurückzuziehen, kein Deutsch zu können und sozusagen gar nicht kommunizieren zu können.
    Davon losgelöst, dass wir davon Hausaufgaben zu machen haben, ist es so, dass man sich angucken muss, was Herr Sarrazin tut. Meine These ist, ihm geht es gar nicht um Integration, ihm geht es um Provokation und um eine gute Auflage für sein Buch, weil er folgt ja mehr so darwinistischen Regeln, er vertritt aufgrund von Zahlen irgendwelche kruden Theorien. Man muss mal genau gucken, was er macht. Er behauptet einfach, alle Araber seien weniger intelligent, würden aber mehr Kinder kriegen. Da sagt Ihnen jede Hirnforscherin, übrigens auch die, die in dem Buch zitiert wurde von ihm, dass das nicht stimmt. Es können zwei sehr intelligente Eltern ein dummes Kind bekommen und es können zwei sehr dumme Eltern ein sehr intelligentes Kind bekommen.

    Heinemann: Halten Sie Thilo Sarrazin für einen Rassisten?

    Künast: Ja, schon. Ich finde, dass das, was er macht, was damit zu tun hat, zwischen Rassen zu unterscheiden und einzelne davon für negativ und unwerter zu bezeichnen. Auch wenn das Wort sich sehr hart anhört, hat das schon was Rassistisches, ja.

    Heinemann: Sie halten ihn für einen Rassisten?

    Künast: Ja.

    Heinemann: Würden Sie Herrn Sarrazin aus Ihrer Partei ausschließen, wenn er Mitglied der Grünen wäre?

    Künast: Ja, definitiv.

    Heinemann: Sollten Bürgerinnen und Bürger, die Thilo Sarrazin unterstützen, so denken wie er, in Zukunft überhaupt noch die Grünen oder die SPD wählen?

    Künast: Das können sie durchaus tun. Wissen Sie, bei Herrn Sarrazin ist ja eines der Punkt: er hat eine herausgehobene Stellung gehabt, ist ja auch ganz stolz darauf, was er in der Exekutive als Senator gemacht hat, hat sich bis dahin bewegt, dass das Land Berlin ihn für die Bundesbank vorgeschlagen hat, und an der Stelle hat er eine besondere Verantwortung. Er repräsentiert das Land, er vertritt quasi auch deutsche Interessen. Als einzelne individuelle Person kann ich ihm und auch niemand anderem vorwerfen oder verbieten, bestimmte Dinge zu denken, aber auch wenn ich sie für falsch finde und auch finde, dass diese Ungleichheit von Menschen und ihre Bewertung nichts mit den Grundregeln unseres Grundgesetzes zu tun hat. Aber Deutschland repräsentieren, unsere Interessen vertreten, das geht so nicht.

    Heinemann: Aber Thilo Sarrazin hat niemals gesagt, "die Bundesbank gibt bekannt: Intelligenz wird genetisch vererbt."

    Künast: Nein, das hat er nicht gesagt. Der Punkt ist aber trotzdem: er tritt auf mit /Vorstand der Bundesbank, das kann er ja gar nicht von sich lösen, und das geht ihm wie jedem Arbeitgeber auch. Alle in diesem Land kennen das, dass der Arbeitgeber – auch Sie als Interviewer wissen das – ein bestimmtes Interesse hat. Auch Sie können nicht sagen, der Deutschlandfunk ist was weiß ich. Dem sind Grenzen gesetzt, weil Sie auch den Deutschlandfunk mit repräsentieren, und da muss man sich an einen Kern von Werten erinnern, den jeder Arbeitgeber auch vertreten wissen will von seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, weil es ihm sonst selbst schadet. Hier ist der Arbeitgeber die Bundesbank und damit die Bundesrepublik.

    Heinemann: Und wenn man ihn jetzt aus dem Amt entfernt? So schafft man Märtyrer.

    Künast: Umgekehrt. Heißt es, dass man ihm im Amt lassen muss? Ich weiß nicht, ob er dadurch Märtyrer wird, aber ich sage Ihnen, wer nicht einfach von der Gleichheit und Gleichwertigkeit der Menschen ausgeht, Religion nicht respektieren kann, obwohl das Grundgesetz in Artikel 4 sagt, wir respektieren das, für ihn ist der Islam der fließende Übergang zu Gewalt und Terrorismus, ich meine, Entschuldigung, das geht nicht, das kann ein Land nicht akzeptieren, weil es umgekehrt die Einladung wäre, sozusagen selbst in den öffentlichen Ämtern das Grundgesetz mit Füßen zu treten und damit die Regeln, zu denen wir gemeinsam leben wollen. Wie wollen sie auf der Basis einem Kind, egal ob deutscher Herkunft oder mit einem Migrationshintergrund, eigentlich erklären, integrier dich hier und lebe zu den Werten?

    Heinemann: Das Grundgesetz mit Füßen treten, haben Sie gerade gesagt. Ich lese Ihnen kurz was vor: "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten." Ich muss Ihnen nicht sagen, wo das steht: Artikel 5 unseres Grundgesetzes.

    Künast: Ja, genau darauf habe ich mich vorhin bezogen, als ich gesagt habe, dass jeder Arbeitgeber das Recht hat, von seinen Mitarbeitern bestimmte Dinge zu verlangen. Und es ist vollkommen klar – ich nehme jetzt mal Sie als meinen Gesprächspartner -, dass Sie diese Meinungsfreiheit haben, dass Sie aber trotzdem einen Arbeitgeber haben, der in einem engeren Sinne von Ihnen verlangen darf, zum Beispiel nicht zu sagen, der Deutschlandfunk ist ein Saftladen. Wenn Sie es dreimal sagen, öffentlich sich zitieren lassen als Mitarbeiter, bekommen Sie auch ein Problem. Das hat nichts mit der Meinungsfreiheit zu tun. Die Meinungsfreiheit ist das eine, die Tatsache, dass Sie ein bestimmtes Amt ausüben und dass Sie das bindet, ist das andere. So hat die Bundesbank auch einen Verhaltenskodex, der eine bestimmte Mäßigung verlangt. Das ist in jedem Beruf in diesem und in jedem anderen demokratischen Land so. Und wenn Herr Sarrazin das zum Beispiel immer heranzieht, sage ich, ist das seine übliche Trickserei.

    Heinemann: Wer legt hierzulande fest, was folgenlos gesagt und geschrieben werden darf? Etwa die Parteien?

    Künast: Nein! Dafür gibt es Gerichte in Deutschland, und wir werden ja sehen, ob Herr Sarrazin – das hat er in einer Hintergrundrunde, wo ich ihn neulich erlebt habe, schon mal gesagt -, wir werden sehen, ob er dagegen klagt. Dann haben wir unabhängige Richter in diesem Land, (die übrigens auch nicht in Fällen, die sie behandeln, munter öffentlich losschwadronieren dürfen, dann sind sie nicht mehr unabhängig). Sehen Sie, auch da kann man nicht einfach losreden. Diese Richter werden dann gesetzlich bestellt, oder Ansehen der Person darüber richten, ob diese bestimmte Entscheidung richtig war. Innerhalb der Parteien gibt es dafür Schiedsgerichte, da müssen sich die Menschen an bestimmte Regeln halten, am Ende gibt es sogar die ordentlichen Gerichte, die darüber entscheiden dürfen.
    Ich sage Ihnen eines: Ich lebe voller Freude in einem Land, das sich auch nach der Zeit des Nationalsozialismus Regeln gegeben hat, Werte gegeben hat, die Würde des Menschen ist unantastbar, von der Gleichheit der Menschen ausgeht, und dass jeder das Recht hat, sich zu entfalten, Religions- und Meinungsfreiheit. Aber wir haben Checks and Balances. Diese Rechte hören auf, wo sie andere angreifen. Und diese Rechte zu wahren heißt dann eben auch, nicht wie Sarrazin zu provozieren und andere abzuwerten. Es ist nicht akzeptabel. Wenn sich jemand hinsetzen würde und sagen würde, die christliche Religion hat einen nahtlosen Übergang zu Gewalt und Terrorismus. Vielleicht würde dieses Land das dann auch verstehen, dass das nicht geht, was Sarrazin macht, der das für den Islam sagt. Man könnte auch sagen, die Christen haben die Kreuzzüge gemacht, die Hexen verbrannt, die Inquisition gehabt. Das geht so nicht.

    Heinemann: Stimmt doch!

    Künast: Ja, das stimmt! Aber man kann nicht sagen, die christliche Religion geht nahtlos über in Gewalt und Terrorismus.

    Heinemann: Wunderbar! Das kann man ja argumentativ genau da zu dem Punkt bringen und ansonsten denjenigen, der das äußert, einfach argumentativ zertrümmern. Wieso muss er aus sämtlichen Ämtern entfernt werden? Das ist doch die Frage! – Oder anders formuliert: Kann Demokratie an politischer Korrektheit nicht auch ersticken?

    Künast: Ich bin ein bisschen entgeistert, dass Sie das als die Frage der politischen Korrektheit ansehen. Ich sage, das geht nicht um political correctness, das ist nicht irgendeine Provokation, sondern das sind tatsächlich Äußerungen, mit denen er Abwertungen von Menschen macht. Das sind die Grundregeln, zu denen wir zusammen leben wollen. Er selber verletzt im Umgang einer Respektlosigkeit, einer Abwertung anderer Menschen die Regeln, die wir uns als Grundlage auch im Grundgesetz für den Umgang gegeben haben, um dabei gleichzeitig provokativ zu fordern, dass andere sich daran halten. Die Institutionen, die demokratischen Institutionen dieser Gesellschaft, die das Ganze Land vertreten, können das nicht akzeptieren! Das ist für mich eine Riesengrenze zu der anderen Frage, wie gehen wir mit Integration um, und zu der Frage, was er als Individuum denkt. Es tut mir leid, aber wenn er in die Bundesbank geht oder Senator ist, ist er nicht mehr Individuum, das einfach platt sagen kann, ich kann hier alles daherplappern und provozieren. Da ist eben diese Grenze. Deshalb können auch Menschen ihm vielleicht folgen, aber wir können nicht akzeptieren, dass dies der Inhalt ist, der sozusagen von öffentlichen Institutionen vertreten wird. Wir machen ja umgekehrt auch eines in diesem Land, dass wir zum Beispiel Parteien zulassen. Es ist extrem schwer, sie zu verbieten, aber es gibt eben auch Regeln, wo man Parteien per Bundesverfassungsgericht verbieten kann, wenn sie an den Grundfesten dieser Republik zweifeln und sozusagen die Demokratie abbauen wollen. Für alles gibt es Grenzen und die sind teilweise auch besondere Grenzen für besondere Funktionen.

    Heinemann: Im Deutschlandfunk, der kein Saftladen ist, womit wir aber die veritablen Saftläden nicht abwerten wollen, sprachen wir mit Renate Künast, der Vorsitzenden der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!