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"Unsichere Zeiten"

Geschlechterneuordnung, Klimawandel, wirtschaftliche Globalisierung und natürlich die Finanzmarktkrise - anstelle eines stabileren Sicherheitsgefühles schleicht sich eine Fülle von verunsichernden Faktoren in unsere Lebenswelt ein. Kein Wunder, dass die Deutsche Gesellschaft für Soziologie ihren Jahreskongress unter den Titel "Unsichere Zeiten" stellte.

Von Ulrike Greim |
    Die Finanzkrise ist ein Phänomen, das Ökonomen nicht erklären können, sagen die Soziologen selbstsicher. Wie auch?! - Der Finanzmarkt sei ein komplexes Konstrukt. Psychologische Faktoren spielten zum Beispiel häufig eine größere Rolle als wirtschaftliche. Aber das Zusammenspiel dieses Marktes mit der Geschichte einzelner Menschen und ganzer Gruppen einer Gesellschaft könne Bewegungen in Gang setzen, die ihrerseits enorme Auswirkungen haben auf Wirtschaft und Gesellschaft.

    Der Soziologe Christoph Deutschmann untersucht an der Uni Tübingen soziologische Aspekte des Umgangs mit Geld. Er betrachtet sich als am Anfang stehend. Immerhin hätte seine Zunft das Thema Geld bisher den Ökonomen überlassen. Nun sei es höchste Zeit, das Terrain zurückzuerobern. Deutschmann schaut zum Beispiel auf die Mittelschichten. Gemeinhin werden sie als die potenziellen Opfer der Finanzkrise wahrgenommen. Aber ihre Entwicklung sei geradezu ein Schlüssel für die jetzige Situation:

    Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sie von der prosperierenden Wirtschaft profitieren können, sie konnten enorme Entwicklungssprünge machen, Vermögen erarbeiten.

    "Damals sind eben sehr viele Menschen nach oben aufgestiegen und das hat eben zu einer - wir nennen das 'strukturelle Verschiebung der Mobilität nach oben' geführt. Das heißt: Die mittleren und oberen Etagen der Gesellschaft sind stärker besetzt, als das früher der Fall war. Und das heißt: Es gibt eben jetzt mehr Menschen - und das sind Leute, die viel Geld haben - die ihr Vermögen entwickeln wollen. Das sind die Kunden der Investmentfonds."

    Der Geldmarkt habe gelockt, dieses Vermögen alleine weiterarbeiten zu lassen. Finanzberater seien wie Pilze aus dem Boden geschossen, es schien ein neues Naturrecht entdeckt worden zu sein, nämlich das auf Rendite. Es kam, so sagt es Christoph Deutschmann, zu rauschhaften Entgrenzungsphänomenen der kleinen Anleger, die das große Geld rochen. Die Einsicht, dass zum Gewinn der einen auch die Schulden der anderen nötig sind, sei dabei aus dem Blickfeld geraten. Es schien möglich, reich und immer reicher zu werden - ohne Verluste anderer. Gewinne sollten aus dem Portfolio fließen, wie Strom aus der Steckdose.

    "Stellen sie sich nur vor, es würden alle, also: Schlaraffenland - alle kommen nach oben, alle sind nur noch Rentiers, alle haben Wertpapiere, brauchen nicht mehr zu arbeiten, das bricht natürlich zusammen, das ist undenkbar so etwas."

    Die Dynamik dieses Finanzmarktes sei möglich gewesen, weil viele an ihren Aufstieg geglaubt haben, weil viele die soziale Leiter nach oben klettern wollten. Doch nun ist die Phase der Prosperität vorbei, sagt der Soziologe. Neue Mittelschichten glaubten nicht mehr an die Chance, den Aufstieg zu schaffen. Das heißt: Es gibt viele Anleger und zu wenige Schuldner. In geschlossenen Systemen hätte dies zu einer Blasenbildung geführt, in offenen sei das schwieriger. Es führe eher zu exzessiven Spekulationen und zu Abstürzen. Was also wäre eine mögliche Reaktion?

    "Die Schulden müssen auf ein Maß reduziert werden, das wieder realistischerweise von der Gesellschaft zu bewältigen ist. Vermögen sind ja Forderungen der Gesellschaft an uns selber, gewissermaßen. Und wenn wir eben Vermögensansprüche in einem solchen Ausmaß aufbauen, wie das geschehen ist in den letzten 20 bis 30 Jahren mit diesem ständigen doppelt so schnellen Vermögenswachstum, dann setzen wir uns selbst unter einen ungeheuren Druck."

    Hier habe die Soziologie noch ein weites Feld, zum Beispiel die Widersprüche individueller und kollektiver Ansprüche zu identifizieren. Überhaupt gebe es viele interessante Themen, die bisher nur zaghaft angedacht, aber wenig erforscht wurden. Gier ist ein Phänomen, das untersucht werden müsse. Ebenso, wie Geiz.

    "Nicht alle Leute sind ja gierig. Es gibt durchaus Leute, die gegen die Gier völlig immun sind, die auch nicht geizig sind, sondern die ein durchaus vernünftiges Verhältnis zum Geld haben, die es auch halbwegs schaffen, ihr Soll und Haben einigermaßen in der Balance zu halten. Also: Wovon hängt das ab, dass die Leute aus dem Gleichgewicht geraten in ihrem Geldverhalten. Da würde ich gerne mal was dazu machen."

    Auch der Münchener Soziologe Ulrich Beck sieht für seine Zunft große Herausforderungen. Eine wesentlich bestehe darin, die Entgrenzung zu beantworten mit einem eigenen Sich-Ausweiten. Es sei ein Widerspruch, dass wir in Zeiten lebten, die ein hohes Maß an Sicherheit und Freiheit garantierten, die aber andererseits alle Grenzen infrage stellen und rasant überwinden, und so Unsicherheit auslösten. Er plädiert für ein neues Lernen über Grenzen hinweg. Es sei nötig, gegenseitige und wechselseitige Abhängigkeiten in den Blick zu nehmen, diese Dependenzen zu deuten und zu verstehen.

    "Tatsächlich sehen wir bei der Finanzkrise und auch bei dem Klimawandel diese neue Dependenz, die uns dazu zwingt, in irgendeiner Weise den Anderen ernst zu nehmen, in unser eigenes Denken einzubeziehen, seinen Standpunkt wahrzunehmen. Das ist eine Art Zwangskosmopolitismus","

    sagt Ulrich Beck, und führt aus, dass bisher dieses Weltbürger-Dasein zu eingeschränkt gedacht wurde.

    ""Wir haben Kosmopolitismus früher als einen elitären Begriff gedacht. Als etwas, was die Reichen, die Entwurzelten oder so etwas erleben und erfahren. Jetzt sehen wir: Das ist eine Grundsituation, ob wir es wollen oder nicht. Ob wir uns entscheiden, dass wir das haben wollen oder nicht, spielt keine Rolle. Sondern wir sind aufgrund dieser neuen Interdependenzen dazu gezwungen, uns mit den Anderen auseinanderzusetzen. Das halte ich in der Tat für die große Herausforderung, auf die es bisher die wenigsten Antworten gibt."

    Ulrich Beck fordert, die Nebenfolgen der Globalisierung in den Blick zu nehmen. Auch sei es ein Fehler, Globalisierung mit Renationalisierung zu beantworten, sondern es müsse vielmehr darum gehen, das Fremde verstehen zu wollen. Das befördere Entwicklung. Wenn auch hin zu etwas Unbekanntem. Die großen Krisen jedenfalls, sagt Beck, beinhalteten große Chancen. Und es sei möglich, sie letztlich politisch zu beantworten.

    "Es wird darum gehen, wie auf der einen Seite die Klimaprobleme, die kollektiv sich abzeichnen, in eine - was weiß ich - grüne Form des Kapitalismus integriert werden können, und wie andererseits so etwas, wie Neuregulierungen für Kapitalmärkte gefunden werden können, die die neoliberale Ideologie zurücknimmt und tatsächlich auch wiederum staatliche Initiativen - also jetzt Initiativen kooperativer Staatenbündnisse wie in Europa oder möglicherweise sogar weltweit - eine neue Chance gibt."