Lesung Marsden: " Dann wachte ich auf. Es war früh am Morgen, sehr früh. Es würde ein schöner Tag werden. Ich lag im Schlafsack und sah zum Himmel und zu den Bäumen empor. Warum verfügt unsere Sprache über so wenige Worte für Grün? Jedes Blatt und jeder Baum besaß eine eigene Schattierung von Grün. ... Etwas flitzte in der Krone eines Baumes von Ast zu Ast - ein kleiner, dunkelrot-schwarzer Vogel mit langen Flügeln, der jeden Streifen Rinde untersuchte. Noch höher oben schwebte ein Paar weißer Kakadus über den Himmel. Dem Geschrei entnahm ich, dass ein ganzer Schwarm außerhalb meines Gesichtsfeldes unterwegs war und dass die beiden Vögel nur die Vorhut waren. "
Wie schön, wenn man eine Sendung über Bücher für junge Leser in einer Abenteueratmosphäre beginnen lassen kann. Es knackt und knirscht, hier ein geheimnisvolles Rascheln hinterm Buschwerk, dort ein Fiepsen hinterm Felsen. Am Horizont eine Herde Kängurus, irgendwo bröckelt das Gestein und fällt in die Tiefe des Canyons und über allem, am klaren Sommermorgenhimmel des australischen Outback, zieht der Gleitaar seine Kreise. So lieben wir es, und es gibt zum Glück auch genügend Zitate aus spannenden australischen Jugendromanen, mit denen wir diesen Vorspann untermalen können.
Lesung Marsden: "... in dieser Nacht blieben wir lange wach und redeten und redeten. Wir waren aufgeregt, weil wir an diesem seltsamen schönen Ort waren, den so wenige Menschen jemals gesehen hatten. Es gibt auf der Welt nur noch wenige Wildnisse, aber ein glücklicher Zufall hatte uns mitten in dieses kleine, wilde Königreich versetzt. "
John Marsden schickt in "Morgen war Krieg" eine Gruppe Jugendlicher in einen abgeschiedenen Canyon, während sich draußen in der Zivilisation Schreckliches ereignet. - Der 13-jährige Ned und seine Cousine Kate durchstreifen in Liz Honeys "Salamander im Netz" das Outback des Nordterritoriums.
Lesung Honey: " Tu uns einen Gefallen, Ned. Lass dich nicht auf Kates waghalsige Spiele ein. Als wir zu Weihnachten Freunde zu Besuch hatten, hat sie sich vom Wasserturm geschwungen und dabei das Handgelenk gebrochen, und das Mal davor hatten wir eine Dreiviertelstunde lang auf sie warten müssen, weil sie auf dem Rückweg an den Jim-Jim-Wasserfällen unbedingt durch die Schlucht schwimmen musste. "
Aber nein, Kates waghalsige Spiele bleiben heute außen vor. Die Milieus der Geschichten haben sich längst von den Outbacks, dem Landesinneren, zu den Städten hin ausgedehnt. Natürlich sehen wir mit unserem mitteleuropäischen Schubladenblick Australien immer noch gern vornehmlich als das Land von Aborigines und Didgeridoos, Kängurus und Koalas, Ayers Rock und grenzenlosen Abenteuern unterm Ozonloch. Erfreulicherweise betrachtet man auf dem fünften Kontinent das Leben andernorts etwas differenzierter. Schließlich leben in Australien Menschen aus 140 Nationen. Mike Shuttleworth, ein Literaturwissenschaftler aus Melbourne:
" Kopfunter am Globus ganz unten. Klar, aber ich glaube, im Grunde sind die Australier sehr neugierig darauf, was in der Welt passiert, vielleicht auch deshalb, weil die Welt ein ganzes Stück entfernt ist. Wir wollen wissen, was dort passiert, auch wenn unser Verständnis ein bisschen fragmentarisch sein mag. Aber ich glaube, wir sind empfänglich für die Erfahrungen anderer Völker. "
Auch die Verhältnisse im eigenen Land betrachtet man aufmerksam. Die Milieus der Geschichten, die erzählt und geschrieben werden, haben sich von den Outbacks zu den Städten hin ausgedehnt. Und dort sind nicht nur in den Kulissen neue Töne zu hören, sondern auch dahinter. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn man es selbst in der Kinder- und Jugendliteraturszene rumoren hört. Allerdings hat man dort kaum Probleme mit Schriftstellern. Auf die können die Australier angesichts der internationalen Erfolge der Autoren wahrlich stolz sein.
" In Australien werden Kinderbücher gemacht, die um die ganze Welt gehen, weil sie innovativ sind und gleichzeitig traditionell ganz aufs Kind zentriert. Außerdem haben die Geschichten kein vorhersehbares Ende. Ich glaube, es gibt hier eine große Vielfalt von Kinderbüchern, "
... sagt Mark McLeod, der streitbare Präsident des nationalen Children's Book Councils CBC. Wir in Deutschland können ihn bestätigen: Allein drei Preisträger und eine Nominierung beim jüngsten Deutschen Jugendliteraturpreis: Margaret Wild, Ron Brooks, Lian Hearn und noch einmal Margaret Wild. Eine Anzahl international geachteter Schriftsteller und Illustratoren, angefangen von den "ganz frühen" aus den 60-er Jahren, wie etwa Ruth Park oder Colin Thiele bis zu den heute erfolgreichen: John Marsden, Elizabeth Honey, Sonya Hartnett, Philip Gwynne, Ian Bone, Melina Marchetta und eben Wild, Hearn, Brooks. Trotzalledem: die australischen Literaturexperten haben einige Probleme mit der öffentlichen Anerkennung der Literatur für junge Leser im Allgemeinen und mit ihrer Behandlung in den Medien im Besonderen.
Wir befinden uns in den Markthallen des berühmten Queen Victoria Markets in Melbourne. Ein ganz normaler Werktag. Eben wurde Frischfleisch geliefert: Lamm, Rind, Schwein. Die Händler preisen um die Wette. Einen Büchermarktstand, in dem die Geschichten so lautstark beworben werden, wie die Fleischangebote der Metzger, den finden wir wahrscheinlich nirgendwo. Auf dem Büchermarkt geht es gesitteter zu, wenngleich auch da genügend Lamentos und Freudenschreie ausgestoßen werden. Im Moment überwiegen die Lamentos, zum Beispiel auf einer Konferenz in Adelaide.
Achthundert Kilometer nordwestlich von Melbourne, in Adelaide, der beschaulichen Hauptstadt von Südaustralien. Auch hier wird gepriesen und gefochten, auch hier geht es um die Qualität einer Ware, wenngleich einer, die meist weniger sättigt als ein halbes Pfund australisches Lammfleisch: die Kinder- und Jugendbuchkritik. "Views On Reviews" - "Blick auf die Kritik" heißt das Thema, 120 australische Literaturexperten - Kritiker, Schriftsteller, Buchhändler, Bibliothekare, Wissenschaftler, Lehrer - sind zu einer dreitägigen Konferenz zusammengekommen, zu der das südaustralische Schriftstellerzentrum eingeladen hat. Irgendwie ein vertrautes Bild: Es dominieren die very sophisticated and very charming Ladies. Nur sieben Teilnehmer sind Männer.
Gerade moniert die Kritikerin Katharine England, das, was ihrer Erfahrung nach in den meisten australischen Publikationen erscheint, wenn es um neue Kinder- und Jugendbücher geht: "Soft Criticism", viel zu viele samtweiche, positive Kritiken.
Sanfte, inkompetente, langweilige, dahingeschluderte, gelegentlich auch überhebliche Literaturkritiken und zu wenig Platz für Kinder- und Jugendbuchbesprechungen in den Medien - das, und was man dagegen tun könnte - sind die Kernthemen der Konferenz. Als Beobachter aus Übersee gewinnt man schnell den Eindruck, dass diese Phänomene mit der überaus familiären Atmosphäre zusammenhängen, die in literarischen Kreisen des 20-Millionen-Völkchens herrscht. Die Tagungsteilnehmer nennen es "Living in small communities". Das hat etwas mit dem geographisch bedingten relativ autarken Leben in den wenigen Großstädten und Kulturzentren zu tun. Jeder kennt jeden. Und niemand möchte - glaubt man jedenfalls - dem anderen wehtun. Das gilt auch für die Small Communities in der Literaturszene, die regelmäßig aus allen Ecken des Kontinents zu Konferenzen zusammenkommen, dabei mehrere tausend Kilometer überwinden, um sich dann zu begrüßen, als sei man Cousin und Cousine aus benachbarten Dörfern.
" Die Leute, die mit Kinderbüchern zu tun haben, unterstützen sich gegenseitig sehr, auch die Autoren. Und wenn es einen leichten Neid untereinander gibt, dann hält sich der ziemlich in Grenzen und stört die Beziehungen zwischen den Leuten nicht. Wir haben eine große Gemeinschaft für den kleinen Bereich der Kinderbuchautoren und wir haben sehr gute Autoren. "
" Wir haben eine freundliche Gemeinschaft von Schriftstellern hierzulande ... "
... bestätigt John Marsden, der wohl bekannteste Jugendbuchautor Australiens ...
" Gerade Autoren, die für junge Leute schreiben, neigen zu guten Freundschaften untereinander. Sicherlich mehr als Autoren, die für Erwachsene schreiben. Sie scheinen weniger neidisch zu sein oder stehen nicht so sehr unter Spannung. "
John Marsden wurde weltweit mit seiner "Morgen war Krieg"-Serie bekannt (leider sind bei uns, obwohl Teil 3 den "Buxtehuder Bullen" erhielt, nur drei von acht Bänden erschienen). - "Small Communities" sind also zuerst einmal fruchtbare Milieus für Autoren und solche die es werden wollen. Es gibt im Kreis dieser Gemeinschaften, von staatlich und privat geförderten Autorenzentren und Schreibwerkstätten Geborgenheit und Unterstützung, die junge Schriftsteller gut und gern brauchen.
" Eine Sache, die die Australier wirklich gut machen, ist Autoren in die Welt zu setzen, "
... sagt Mike Shuttleworth, der als Programmkoordinator für Kinder- und Jugendliteratur in der Victoria State Library arbeitet ...
" Es gibt eine Anzahl von Schreibschule und einige Institute, die an Universitäten angegliedert sind. Gerade hier in Melbourne haben wir eine wahre Quelle: das Royal Melbourne Institute of Technology hat eine sehr erfolgreiche Schule für Autoren und Herausgeber. "
Gillian Rubinstein alias Lian Hearn betrachtet das Aufblühen von Schreibschulen in Australien mit Skepsis. Die augenblicklich international erfolgreichste Autorin Australiens lebt im einstigen Fischerdorf Goolwa in Südaustralien, in jenem Ort, in dem Colin Thieles klassischer Kinderbuchheld "Stormboy" zuhause war. Lian Hearn - ihre Otori-Tales sind bereits in 32 Ländern erschienen - könnte eigentlich ein gewichtiges Wörtchen zu den Diskussionen in der Small Community der Kinder- und Jugendbuchliteratur beisteuern, hat sich aber seit Jahren konsequent aus der Szene zurückgezogen.
" Ich glaube, augenblicklich versuchen zu viele Menschen Schriftsteller zu werden. Man sollte ihnen Hindernisse in den Weg legen. Wenn sie die Hürden überwinden, dann interessiere ich mich für sie. Aber ich möchte es ihnen nicht zu leicht machen. Es sollte mehr Widerstand geben. Ich meine, es ist heutzutage hart genug, veröffentlicht zu werden. Es gibt so viele kreative Schreibkurse, die die Menschen ermutigen, Schriftsteller zu werden. Ich glaube, es ist falsch, ihnen Mut zu machen, weil es einfach nicht so schrecklich viel Erfolgsmöglichkeiten in diesem Bereich gibt."
John Marsden dagegen ist ein glühender Verfechter von Schreibwerkstätten. Eine Autostunde von Melbourne entfernt hat er vor einiger Zeit am Rand des Outbacks eine Farm erworben, auf der er private Schreibkurse für junge und alte Menschen aus dem In- und Ausland gibt.
" Im Augenblick arbeite ich mit Kindern, Teenager oder Erwachsenen, für die ich auf meiner Farm Schreibworkshops veranstalte, drei, vier Tage oder eine Woche. Es ist ein privates Unternehmen. Fast jede Woche besuchen mich Schulgruppen aus Australien oder anderen Ländern. Gerade jetzt sind 31 Kinder aus Djakarta zu einem Schreibkurs auf meiner Farm angekommen. "
Das erzählt John Marsden an einem Freitagnachmittag im Garten der Fitzroy Community School im Norden Melbournes. Zweimal in der Woche unterrichtet er hier sechs- bis zwölfjährige Schüler in Englisch, Schauspiel und Schreiben.
" Kinder werden am Freitagnachmittag oft müde. Deshalb versuche ich, mit ihnen Sachen zu machen, die motivieren. Eine Klasse musste heute eine Serie von Zeichnungen anfertigen. Auf dem ersten Blatt hatten sie eine Türe zu zeichnen, auf der zweiten Seite musste die Tür leicht geöffnet sein, dass man drinnen andeutungsweise etwas sehen konnte, aber nicht sicher wusste, was. Auf dem dritten Blatt sah man das Ding drinnen, und es musste etwas Überraschendes sein. Und auf dem vierten Bild erschien ein neues Wesen, das auf dem fünften Bild mit dem ersten Wesen in eine Beziehung treten musste, undsoweiter."
Ist die Vorstellungskraft erst einmal durch Übungen entwickelt und durch Erfahrungen gefüttert, öffnet sich, glaubt John Marsden, selbst für ganz junge Autoren eine aufregende Welt.
" Sie wollen noch über Dinge schreiben, die die Menschen schon immer faszinierten - Abenteuer, Liebe und wie man eine starke Persönlichkeit wird. Ich glaube, jedes Kind träumt davon, ein erfolgreicher Erwachsener zu sein. "
Die Buschromantik der 60-er Jahre ist in der Literatur jüngerer Autoren heutzutage nur selten zu finden. Als attraktive Kulisse oder als Idee einer verlorenen Zeit mag - wie bei John Marsden - die Natur in den Romanen noch eine Rolle spielen. Der Schwerpunkt der Geschichten liegt inzwischen in der urbanen Zivilisation und ihren offensichtlichen Widersprüchen. Beschrieben werden die Katastrophen im sozialen Leben und die mannigfachen Erschütterungen der Psyche. Sonya Hartnett tut das sehr eindringlich in "Schlafende Hunde" und in "Prinzen", einem Roman über ein Zwillingspaar, der im Juni bei uns erscheint, Judith Clarke tut das in "Night Train", Ian Bone in "Geständnis einer Unschuldigen" oder Philip Gwynne mit einem wundervoll schmerzlich-ironischen Unterton in einer Geschichte über die Konfrontation der Kulturen von weißen Siedlern und Aborigines: "Wir Goonyas, ihr Nungas".
Lesung Gwynne: "Guten Abend, Geschwister von ehedem, wichtige Bezugspersonen meines sozialen Umfelds", sagte ich.
"Bezugspersonen" und "soziales Umfeld" gehörten zu meinen Lieblingswörtern. Ich hatte sie letztes Jahr entdeckt, als ich Mum dabei half, das Formular für die Volkszählung auszufüllen. "Ehedem" hatte ich beim Arzt gelernt. Es stand dort im Reader's Digest, unter der Rubrik: "Wissen ist Macht - erweitern Sie Ihren Wortschatz".
Niemand gab Antwort. Die wichtigen Bezugspersonen hatten von meinem erweiterten Wortschatz die Nase voll."
Womit wir wieder bei den "Small Communities" sind, die dazu beitragen, schriftstellerische Talente zu entdecken und zu fördern. Aber kleine Gemeinschaften pflegen, wie jeder Familienverband, auch erhebliche Macken. Zum Beispiel die, die schon die Kritikerin Katharine England erwähnt hat: man übt "soft criticism", weil man den "lieben Verwandten" nicht wehtun will, oder - nicht selten -, weil man selbst Bücher schreibt. Außerdem leidet man darunter, dass die Ziehkinder in den Medien nicht richtig ernst genommen werden, so lange sie sich mit Kinder- und Jugendliteratur beschäftigen. - Bestes Beispiel: Gillian Rubinstein alias Lian Hearn. Ihre mehrteilige Otori-Saga wird in den USA, in Großbritannien und Australien als Erwachsenenbuch gehandelt, während der Roman in anderen Ländern - auch in Deutschland - in der Jugendbuchabteilung zu finden ist.
" Ich bin völlig draußen aus der Kinderliteraturszene und mir ist nicht ganz wohl dabei. "
" Ich weiß nicht, ob das dazugehört, aber Gillian Rubinstein begann beim unserem Verlag Omnibus Books ... "
... erinnert sich die Verlegerin und Autorin Dyan Blacklock aus Adelaide ...
" Und wir haben ihre Bücher einige Zeit verlegt. Mit den Otori Tales hat Gillian ihren Namen geändert. Ich glaube, das hatte viel damit zu tun, dass sie sich selbst verändern musste, um in der Erwachsenenliteraturwelt ernst und nicht mehr als Kinderbuchautorin wahrgenommen zu werden. Die Arbeit mit Kinderbüchern wird von den Medien unentwegt völlig an den Rand gedrängt. Wenn du mal in die Erwachsenenwelt umgezogen bist, dann, yeah, dann geht's. "
Gillian Rubinsteins Entscheidung ist gewiss nicht nur eine Entscheidung aus der Sorge, Opfer der üblichen Klischees zu werden. "Hearn" ist das altenglische Wort für "Reiher" - und der Reiher ist ein Symbol, das sich durch sämtliche Otori-Romane zieht. Nahezu zehn Jahre hat sich Gillian Rubinstein mit japanischer Geschichte, Mythologie, mit japanischer Kunst, mit Sitten und Gebräuchen, mit dem Alltagsleben Japans beschäftigt. Die Geschichte - deren fünften und letzten Teil sie gerade abgeschlossen hat -, die Geschichte hat ihr Leben grundsätzlich verändert. Nicht zuletzt deshalb also die Entscheidung für ein Pseudonym. - Wie dem auch sei: die Kritik der Teilnehmer der Konferenz in Adelaide an der Geringschätzung der Kinder- und Jugendliteratur in den Medien im eigenen Lande ist berechtigt. Gillian Rubinstein ist kein Einzelfall.
" Bei Sonya Hartnett, die als Kinderbuchautorin äußerst erfolgreich ist, wurde, als sie anfing, Bücher für Erwachsene zu schreiben, nahezu negiert, dass sie vorher Kinderbücher gemacht hatte - als ob das gar nicht wichtig gewesen sei. "
Die streitbare Literaturkritikerin und -Managerin Agnes Nieuwenhuisen aus Melbourne bringt es in ihrem Vortrag auf der Konferenz in Adelaide auf den Punkt, in dem sie Peter Craven, einen der bekanntesten Literaturkritiker Australiens, zitiert:
" "Es ist Teil der verblüffende Legende von Sonya Hartnett, dass sie über Jahre irrtümlich für eine Kinderbuchautorin gehalten wurde, weil in ihren schwarzen, manchmal auch tragischen Fabeln häufig Kinder und Heranwachsende im Mittelpunkt standen." Zitat Ende. - Ich muss einen Moment abschweifen, um zu erwähnen, dass der Autor dieses Geschwätzes einer unserer meist gepriesenen und produktiven Kritiker ist. Er ist ein großer Verehrer der wundervollen Sonya Hartnett, die ohne Zweifel jede von Cravens Lobpreisungen verdient. Hartnett hat jedoch selbst verärgert über die Art gesprochen und geschrieben, in der Autoren von und Bücher für junge Menschen in diesem Land an den Rand gedrängt werden. - Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit gerne auf das Zitat einer klugen und wundervollen Kinderbuchautorin aus den Vereinigten Staaten lenken: Katherine Paterson, die eine ähnliche Situation in Nordamerika beobachtet: "Wissen Sie, wir sind ein Volk, das Kinder entweder sentimentalisiert oder missachtet - aber wir nehmen sie nicht ernst, genauso wenig wie wir den Menschen, die sie ernst nehmen, großen Respekt zollen. "
Das ist die Situation, die augenblicklich die Small Community der Kinder- und Jugendliteraturszene in Australien bedrückt. Irgendwie hört sich das alles nicht ganz unbekannt an, obwohl der fünfte Kontinent für uns hierzulande doch noch so etwas wie "Upside down at the bottom of the world" erscheint. Wenngleich die Aufmerksamkeit der Medien für Kinder- und Jugendliteratur bei uns erheblich größer ist als in Downunder: einige nicht ganz zufällige Ähnlichkeiten mit der Situation hierzulande sind nicht zu übersehen. Soft Criticism, zum Beispiel, scheint ein internationales Phänomen von liebenswerten Menschen, die sich mögen und gemocht werden. Doch das tröstet die wackeren Streiter in Australien wenig.
Flüchten oder Standhalten also? Die Schleudern wüsten Schicksals stumm zu dulden oder das Schwert zu ziehen gegen ein Meer von Plagen? Zurück ins Outback, zum Schrei des Gleitaars oder hinein in die Redaktionsstuben, um den Machern zu zeigen, was gute Literatur ist? Bei allen Ups and Downs in Downunder bleibt eins gewiss: viele australische Kinder- und Jugendbuchautoren schreiben gute Literatur und die weltweite Anerkennung bestätigt sie in ihrem Tun, egal ob das in den Redaktionsstuben der australischen Blätter anerkannt wird oder nicht. Und deshalb am Schluss ein Gedanke der australischen Schriftstellerin Kate Lyons, der im Februar in einer Kolumne in der Tageszeitung "The Australian" zu lesen war:
" Ich mag jede Art von Romanen. Gebt uns ein paar große Ideen, gebt uns ein paar kleine Ideen, etwas Geschichte, eine zeitgenössische Portion Streusand und Schmutz, eine Sprache, die uns umwirft, ein paar Dialoge im besten Jargon, ein bisschen was von einer exotischen Szenerie und ein paar häusliche Schuftereien. - Ein Hoch der Vielfalt!"
Literaturauswahl:
John Marsden: Morgen war Krieg. Teil 1: Morgen war Krieg.
Teil 2: Die Toten der Nacht. Teil 3: Gegen jede Chance. Übersetzt von
Hilde Linnert (Teil 1) und Jacqueline Csuss (Teil 2 und 3).
Carlsen Verlag, Hamburg 2002, jeder Band € 7,90.
Elisabeth Honey: Salamander im Netz. Übersetzt von Heike Brandt.
Mit Bildern von Jörg Mühle. Beltz & Gelberg Taschenbuch, Weinheim 2004.
302 Seiten, € 7,90
Colin Thiele: Storm Boy. 40th Anniversary Edition. New Holland Publisher,
Sidney 2002. 60 Seiten, $ 12,95
Judith Clarke: Nighttrain. Übersetzt von Salah Naoura. Erika Klopp Verlag,
Hamburg 1999 (vergriffen)
Sonya Hartnett: Schlafende Hunde. Übersetzt von Petra Koob-Pawis.
Arena Taschenbuch, Würzburg 2000, 144 Seiten, € 6,50 (vergriffen)
Sonya Hartnett: Prinzen. Patmos Verlag, Düsseldorf 2005. 168 Seiten
Phillip Gwynne: Wir Goonyas, ihr Nungas. Übersetzt von Cornelia Krutz-Arnold.
Verlag Sauerländer, Düsseldorf 2002. 286 Seiten, € 15,80. Als Taschenbuch im
Carlsen Verlag € 7,90
Ian Bone: Geständnis einer Unschuldigen. Übersetzt von Cornelia Holfelder-von
der Tann. Ravensburger Buchverlag, Ravensburg 2004, 330 Seiten, € 14,95
Margaret Wild: Jinx. Übersetzt von Sophie Zeitz, Hanser Verlag, München 2003,
208 Seiten, € 14,90
Melina Marchetta: Ich bin‘s, Francesca. Übersetzt von Cornelia Holfelder-von
der Tann, Ravensburger, 252 Seiten, € 12,95
Lian Hearn: Der Clan der Otori. Teil 1: Das Schwert in der Stille. Teil 2: Der Pfad
im Schnee. Teil 3: Der Glanz des Mondes. Übersetzt von Irmela Brender (Teil 1
und 2) und Salah Naoura (Teil 3). Carlsen Verlag, Hamburg, 2003 bis 2005.
Teil 1 und 2 je € 18,-, Teil 3 € 19,50
Wie schön, wenn man eine Sendung über Bücher für junge Leser in einer Abenteueratmosphäre beginnen lassen kann. Es knackt und knirscht, hier ein geheimnisvolles Rascheln hinterm Buschwerk, dort ein Fiepsen hinterm Felsen. Am Horizont eine Herde Kängurus, irgendwo bröckelt das Gestein und fällt in die Tiefe des Canyons und über allem, am klaren Sommermorgenhimmel des australischen Outback, zieht der Gleitaar seine Kreise. So lieben wir es, und es gibt zum Glück auch genügend Zitate aus spannenden australischen Jugendromanen, mit denen wir diesen Vorspann untermalen können.
Lesung Marsden: "... in dieser Nacht blieben wir lange wach und redeten und redeten. Wir waren aufgeregt, weil wir an diesem seltsamen schönen Ort waren, den so wenige Menschen jemals gesehen hatten. Es gibt auf der Welt nur noch wenige Wildnisse, aber ein glücklicher Zufall hatte uns mitten in dieses kleine, wilde Königreich versetzt. "
John Marsden schickt in "Morgen war Krieg" eine Gruppe Jugendlicher in einen abgeschiedenen Canyon, während sich draußen in der Zivilisation Schreckliches ereignet. - Der 13-jährige Ned und seine Cousine Kate durchstreifen in Liz Honeys "Salamander im Netz" das Outback des Nordterritoriums.
Lesung Honey: " Tu uns einen Gefallen, Ned. Lass dich nicht auf Kates waghalsige Spiele ein. Als wir zu Weihnachten Freunde zu Besuch hatten, hat sie sich vom Wasserturm geschwungen und dabei das Handgelenk gebrochen, und das Mal davor hatten wir eine Dreiviertelstunde lang auf sie warten müssen, weil sie auf dem Rückweg an den Jim-Jim-Wasserfällen unbedingt durch die Schlucht schwimmen musste. "
Aber nein, Kates waghalsige Spiele bleiben heute außen vor. Die Milieus der Geschichten haben sich längst von den Outbacks, dem Landesinneren, zu den Städten hin ausgedehnt. Natürlich sehen wir mit unserem mitteleuropäischen Schubladenblick Australien immer noch gern vornehmlich als das Land von Aborigines und Didgeridoos, Kängurus und Koalas, Ayers Rock und grenzenlosen Abenteuern unterm Ozonloch. Erfreulicherweise betrachtet man auf dem fünften Kontinent das Leben andernorts etwas differenzierter. Schließlich leben in Australien Menschen aus 140 Nationen. Mike Shuttleworth, ein Literaturwissenschaftler aus Melbourne:
" Kopfunter am Globus ganz unten. Klar, aber ich glaube, im Grunde sind die Australier sehr neugierig darauf, was in der Welt passiert, vielleicht auch deshalb, weil die Welt ein ganzes Stück entfernt ist. Wir wollen wissen, was dort passiert, auch wenn unser Verständnis ein bisschen fragmentarisch sein mag. Aber ich glaube, wir sind empfänglich für die Erfahrungen anderer Völker. "
Auch die Verhältnisse im eigenen Land betrachtet man aufmerksam. Die Milieus der Geschichten, die erzählt und geschrieben werden, haben sich von den Outbacks zu den Städten hin ausgedehnt. Und dort sind nicht nur in den Kulissen neue Töne zu hören, sondern auch dahinter. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn man es selbst in der Kinder- und Jugendliteraturszene rumoren hört. Allerdings hat man dort kaum Probleme mit Schriftstellern. Auf die können die Australier angesichts der internationalen Erfolge der Autoren wahrlich stolz sein.
" In Australien werden Kinderbücher gemacht, die um die ganze Welt gehen, weil sie innovativ sind und gleichzeitig traditionell ganz aufs Kind zentriert. Außerdem haben die Geschichten kein vorhersehbares Ende. Ich glaube, es gibt hier eine große Vielfalt von Kinderbüchern, "
... sagt Mark McLeod, der streitbare Präsident des nationalen Children's Book Councils CBC. Wir in Deutschland können ihn bestätigen: Allein drei Preisträger und eine Nominierung beim jüngsten Deutschen Jugendliteraturpreis: Margaret Wild, Ron Brooks, Lian Hearn und noch einmal Margaret Wild. Eine Anzahl international geachteter Schriftsteller und Illustratoren, angefangen von den "ganz frühen" aus den 60-er Jahren, wie etwa Ruth Park oder Colin Thiele bis zu den heute erfolgreichen: John Marsden, Elizabeth Honey, Sonya Hartnett, Philip Gwynne, Ian Bone, Melina Marchetta und eben Wild, Hearn, Brooks. Trotzalledem: die australischen Literaturexperten haben einige Probleme mit der öffentlichen Anerkennung der Literatur für junge Leser im Allgemeinen und mit ihrer Behandlung in den Medien im Besonderen.
Wir befinden uns in den Markthallen des berühmten Queen Victoria Markets in Melbourne. Ein ganz normaler Werktag. Eben wurde Frischfleisch geliefert: Lamm, Rind, Schwein. Die Händler preisen um die Wette. Einen Büchermarktstand, in dem die Geschichten so lautstark beworben werden, wie die Fleischangebote der Metzger, den finden wir wahrscheinlich nirgendwo. Auf dem Büchermarkt geht es gesitteter zu, wenngleich auch da genügend Lamentos und Freudenschreie ausgestoßen werden. Im Moment überwiegen die Lamentos, zum Beispiel auf einer Konferenz in Adelaide.
Achthundert Kilometer nordwestlich von Melbourne, in Adelaide, der beschaulichen Hauptstadt von Südaustralien. Auch hier wird gepriesen und gefochten, auch hier geht es um die Qualität einer Ware, wenngleich einer, die meist weniger sättigt als ein halbes Pfund australisches Lammfleisch: die Kinder- und Jugendbuchkritik. "Views On Reviews" - "Blick auf die Kritik" heißt das Thema, 120 australische Literaturexperten - Kritiker, Schriftsteller, Buchhändler, Bibliothekare, Wissenschaftler, Lehrer - sind zu einer dreitägigen Konferenz zusammengekommen, zu der das südaustralische Schriftstellerzentrum eingeladen hat. Irgendwie ein vertrautes Bild: Es dominieren die very sophisticated and very charming Ladies. Nur sieben Teilnehmer sind Männer.
Gerade moniert die Kritikerin Katharine England, das, was ihrer Erfahrung nach in den meisten australischen Publikationen erscheint, wenn es um neue Kinder- und Jugendbücher geht: "Soft Criticism", viel zu viele samtweiche, positive Kritiken.
Sanfte, inkompetente, langweilige, dahingeschluderte, gelegentlich auch überhebliche Literaturkritiken und zu wenig Platz für Kinder- und Jugendbuchbesprechungen in den Medien - das, und was man dagegen tun könnte - sind die Kernthemen der Konferenz. Als Beobachter aus Übersee gewinnt man schnell den Eindruck, dass diese Phänomene mit der überaus familiären Atmosphäre zusammenhängen, die in literarischen Kreisen des 20-Millionen-Völkchens herrscht. Die Tagungsteilnehmer nennen es "Living in small communities". Das hat etwas mit dem geographisch bedingten relativ autarken Leben in den wenigen Großstädten und Kulturzentren zu tun. Jeder kennt jeden. Und niemand möchte - glaubt man jedenfalls - dem anderen wehtun. Das gilt auch für die Small Communities in der Literaturszene, die regelmäßig aus allen Ecken des Kontinents zu Konferenzen zusammenkommen, dabei mehrere tausend Kilometer überwinden, um sich dann zu begrüßen, als sei man Cousin und Cousine aus benachbarten Dörfern.
" Die Leute, die mit Kinderbüchern zu tun haben, unterstützen sich gegenseitig sehr, auch die Autoren. Und wenn es einen leichten Neid untereinander gibt, dann hält sich der ziemlich in Grenzen und stört die Beziehungen zwischen den Leuten nicht. Wir haben eine große Gemeinschaft für den kleinen Bereich der Kinderbuchautoren und wir haben sehr gute Autoren. "
" Wir haben eine freundliche Gemeinschaft von Schriftstellern hierzulande ... "
... bestätigt John Marsden, der wohl bekannteste Jugendbuchautor Australiens ...
" Gerade Autoren, die für junge Leute schreiben, neigen zu guten Freundschaften untereinander. Sicherlich mehr als Autoren, die für Erwachsene schreiben. Sie scheinen weniger neidisch zu sein oder stehen nicht so sehr unter Spannung. "
John Marsden wurde weltweit mit seiner "Morgen war Krieg"-Serie bekannt (leider sind bei uns, obwohl Teil 3 den "Buxtehuder Bullen" erhielt, nur drei von acht Bänden erschienen). - "Small Communities" sind also zuerst einmal fruchtbare Milieus für Autoren und solche die es werden wollen. Es gibt im Kreis dieser Gemeinschaften, von staatlich und privat geförderten Autorenzentren und Schreibwerkstätten Geborgenheit und Unterstützung, die junge Schriftsteller gut und gern brauchen.
" Eine Sache, die die Australier wirklich gut machen, ist Autoren in die Welt zu setzen, "
... sagt Mike Shuttleworth, der als Programmkoordinator für Kinder- und Jugendliteratur in der Victoria State Library arbeitet ...
" Es gibt eine Anzahl von Schreibschule und einige Institute, die an Universitäten angegliedert sind. Gerade hier in Melbourne haben wir eine wahre Quelle: das Royal Melbourne Institute of Technology hat eine sehr erfolgreiche Schule für Autoren und Herausgeber. "
Gillian Rubinstein alias Lian Hearn betrachtet das Aufblühen von Schreibschulen in Australien mit Skepsis. Die augenblicklich international erfolgreichste Autorin Australiens lebt im einstigen Fischerdorf Goolwa in Südaustralien, in jenem Ort, in dem Colin Thieles klassischer Kinderbuchheld "Stormboy" zuhause war. Lian Hearn - ihre Otori-Tales sind bereits in 32 Ländern erschienen - könnte eigentlich ein gewichtiges Wörtchen zu den Diskussionen in der Small Community der Kinder- und Jugendbuchliteratur beisteuern, hat sich aber seit Jahren konsequent aus der Szene zurückgezogen.
" Ich glaube, augenblicklich versuchen zu viele Menschen Schriftsteller zu werden. Man sollte ihnen Hindernisse in den Weg legen. Wenn sie die Hürden überwinden, dann interessiere ich mich für sie. Aber ich möchte es ihnen nicht zu leicht machen. Es sollte mehr Widerstand geben. Ich meine, es ist heutzutage hart genug, veröffentlicht zu werden. Es gibt so viele kreative Schreibkurse, die die Menschen ermutigen, Schriftsteller zu werden. Ich glaube, es ist falsch, ihnen Mut zu machen, weil es einfach nicht so schrecklich viel Erfolgsmöglichkeiten in diesem Bereich gibt."
John Marsden dagegen ist ein glühender Verfechter von Schreibwerkstätten. Eine Autostunde von Melbourne entfernt hat er vor einiger Zeit am Rand des Outbacks eine Farm erworben, auf der er private Schreibkurse für junge und alte Menschen aus dem In- und Ausland gibt.
" Im Augenblick arbeite ich mit Kindern, Teenager oder Erwachsenen, für die ich auf meiner Farm Schreibworkshops veranstalte, drei, vier Tage oder eine Woche. Es ist ein privates Unternehmen. Fast jede Woche besuchen mich Schulgruppen aus Australien oder anderen Ländern. Gerade jetzt sind 31 Kinder aus Djakarta zu einem Schreibkurs auf meiner Farm angekommen. "
Das erzählt John Marsden an einem Freitagnachmittag im Garten der Fitzroy Community School im Norden Melbournes. Zweimal in der Woche unterrichtet er hier sechs- bis zwölfjährige Schüler in Englisch, Schauspiel und Schreiben.
" Kinder werden am Freitagnachmittag oft müde. Deshalb versuche ich, mit ihnen Sachen zu machen, die motivieren. Eine Klasse musste heute eine Serie von Zeichnungen anfertigen. Auf dem ersten Blatt hatten sie eine Türe zu zeichnen, auf der zweiten Seite musste die Tür leicht geöffnet sein, dass man drinnen andeutungsweise etwas sehen konnte, aber nicht sicher wusste, was. Auf dem dritten Blatt sah man das Ding drinnen, und es musste etwas Überraschendes sein. Und auf dem vierten Bild erschien ein neues Wesen, das auf dem fünften Bild mit dem ersten Wesen in eine Beziehung treten musste, undsoweiter."
Ist die Vorstellungskraft erst einmal durch Übungen entwickelt und durch Erfahrungen gefüttert, öffnet sich, glaubt John Marsden, selbst für ganz junge Autoren eine aufregende Welt.
" Sie wollen noch über Dinge schreiben, die die Menschen schon immer faszinierten - Abenteuer, Liebe und wie man eine starke Persönlichkeit wird. Ich glaube, jedes Kind träumt davon, ein erfolgreicher Erwachsener zu sein. "
Die Buschromantik der 60-er Jahre ist in der Literatur jüngerer Autoren heutzutage nur selten zu finden. Als attraktive Kulisse oder als Idee einer verlorenen Zeit mag - wie bei John Marsden - die Natur in den Romanen noch eine Rolle spielen. Der Schwerpunkt der Geschichten liegt inzwischen in der urbanen Zivilisation und ihren offensichtlichen Widersprüchen. Beschrieben werden die Katastrophen im sozialen Leben und die mannigfachen Erschütterungen der Psyche. Sonya Hartnett tut das sehr eindringlich in "Schlafende Hunde" und in "Prinzen", einem Roman über ein Zwillingspaar, der im Juni bei uns erscheint, Judith Clarke tut das in "Night Train", Ian Bone in "Geständnis einer Unschuldigen" oder Philip Gwynne mit einem wundervoll schmerzlich-ironischen Unterton in einer Geschichte über die Konfrontation der Kulturen von weißen Siedlern und Aborigines: "Wir Goonyas, ihr Nungas".
Lesung Gwynne: "Guten Abend, Geschwister von ehedem, wichtige Bezugspersonen meines sozialen Umfelds", sagte ich.
"Bezugspersonen" und "soziales Umfeld" gehörten zu meinen Lieblingswörtern. Ich hatte sie letztes Jahr entdeckt, als ich Mum dabei half, das Formular für die Volkszählung auszufüllen. "Ehedem" hatte ich beim Arzt gelernt. Es stand dort im Reader's Digest, unter der Rubrik: "Wissen ist Macht - erweitern Sie Ihren Wortschatz".
Niemand gab Antwort. Die wichtigen Bezugspersonen hatten von meinem erweiterten Wortschatz die Nase voll."
Womit wir wieder bei den "Small Communities" sind, die dazu beitragen, schriftstellerische Talente zu entdecken und zu fördern. Aber kleine Gemeinschaften pflegen, wie jeder Familienverband, auch erhebliche Macken. Zum Beispiel die, die schon die Kritikerin Katharine England erwähnt hat: man übt "soft criticism", weil man den "lieben Verwandten" nicht wehtun will, oder - nicht selten -, weil man selbst Bücher schreibt. Außerdem leidet man darunter, dass die Ziehkinder in den Medien nicht richtig ernst genommen werden, so lange sie sich mit Kinder- und Jugendliteratur beschäftigen. - Bestes Beispiel: Gillian Rubinstein alias Lian Hearn. Ihre mehrteilige Otori-Saga wird in den USA, in Großbritannien und Australien als Erwachsenenbuch gehandelt, während der Roman in anderen Ländern - auch in Deutschland - in der Jugendbuchabteilung zu finden ist.
" Ich bin völlig draußen aus der Kinderliteraturszene und mir ist nicht ganz wohl dabei. "
" Ich weiß nicht, ob das dazugehört, aber Gillian Rubinstein begann beim unserem Verlag Omnibus Books ... "
... erinnert sich die Verlegerin und Autorin Dyan Blacklock aus Adelaide ...
" Und wir haben ihre Bücher einige Zeit verlegt. Mit den Otori Tales hat Gillian ihren Namen geändert. Ich glaube, das hatte viel damit zu tun, dass sie sich selbst verändern musste, um in der Erwachsenenliteraturwelt ernst und nicht mehr als Kinderbuchautorin wahrgenommen zu werden. Die Arbeit mit Kinderbüchern wird von den Medien unentwegt völlig an den Rand gedrängt. Wenn du mal in die Erwachsenenwelt umgezogen bist, dann, yeah, dann geht's. "
Gillian Rubinsteins Entscheidung ist gewiss nicht nur eine Entscheidung aus der Sorge, Opfer der üblichen Klischees zu werden. "Hearn" ist das altenglische Wort für "Reiher" - und der Reiher ist ein Symbol, das sich durch sämtliche Otori-Romane zieht. Nahezu zehn Jahre hat sich Gillian Rubinstein mit japanischer Geschichte, Mythologie, mit japanischer Kunst, mit Sitten und Gebräuchen, mit dem Alltagsleben Japans beschäftigt. Die Geschichte - deren fünften und letzten Teil sie gerade abgeschlossen hat -, die Geschichte hat ihr Leben grundsätzlich verändert. Nicht zuletzt deshalb also die Entscheidung für ein Pseudonym. - Wie dem auch sei: die Kritik der Teilnehmer der Konferenz in Adelaide an der Geringschätzung der Kinder- und Jugendliteratur in den Medien im eigenen Lande ist berechtigt. Gillian Rubinstein ist kein Einzelfall.
" Bei Sonya Hartnett, die als Kinderbuchautorin äußerst erfolgreich ist, wurde, als sie anfing, Bücher für Erwachsene zu schreiben, nahezu negiert, dass sie vorher Kinderbücher gemacht hatte - als ob das gar nicht wichtig gewesen sei. "
Die streitbare Literaturkritikerin und -Managerin Agnes Nieuwenhuisen aus Melbourne bringt es in ihrem Vortrag auf der Konferenz in Adelaide auf den Punkt, in dem sie Peter Craven, einen der bekanntesten Literaturkritiker Australiens, zitiert:
" "Es ist Teil der verblüffende Legende von Sonya Hartnett, dass sie über Jahre irrtümlich für eine Kinderbuchautorin gehalten wurde, weil in ihren schwarzen, manchmal auch tragischen Fabeln häufig Kinder und Heranwachsende im Mittelpunkt standen." Zitat Ende. - Ich muss einen Moment abschweifen, um zu erwähnen, dass der Autor dieses Geschwätzes einer unserer meist gepriesenen und produktiven Kritiker ist. Er ist ein großer Verehrer der wundervollen Sonya Hartnett, die ohne Zweifel jede von Cravens Lobpreisungen verdient. Hartnett hat jedoch selbst verärgert über die Art gesprochen und geschrieben, in der Autoren von und Bücher für junge Menschen in diesem Land an den Rand gedrängt werden. - Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit gerne auf das Zitat einer klugen und wundervollen Kinderbuchautorin aus den Vereinigten Staaten lenken: Katherine Paterson, die eine ähnliche Situation in Nordamerika beobachtet: "Wissen Sie, wir sind ein Volk, das Kinder entweder sentimentalisiert oder missachtet - aber wir nehmen sie nicht ernst, genauso wenig wie wir den Menschen, die sie ernst nehmen, großen Respekt zollen. "
Das ist die Situation, die augenblicklich die Small Community der Kinder- und Jugendliteraturszene in Australien bedrückt. Irgendwie hört sich das alles nicht ganz unbekannt an, obwohl der fünfte Kontinent für uns hierzulande doch noch so etwas wie "Upside down at the bottom of the world" erscheint. Wenngleich die Aufmerksamkeit der Medien für Kinder- und Jugendliteratur bei uns erheblich größer ist als in Downunder: einige nicht ganz zufällige Ähnlichkeiten mit der Situation hierzulande sind nicht zu übersehen. Soft Criticism, zum Beispiel, scheint ein internationales Phänomen von liebenswerten Menschen, die sich mögen und gemocht werden. Doch das tröstet die wackeren Streiter in Australien wenig.
Flüchten oder Standhalten also? Die Schleudern wüsten Schicksals stumm zu dulden oder das Schwert zu ziehen gegen ein Meer von Plagen? Zurück ins Outback, zum Schrei des Gleitaars oder hinein in die Redaktionsstuben, um den Machern zu zeigen, was gute Literatur ist? Bei allen Ups and Downs in Downunder bleibt eins gewiss: viele australische Kinder- und Jugendbuchautoren schreiben gute Literatur und die weltweite Anerkennung bestätigt sie in ihrem Tun, egal ob das in den Redaktionsstuben der australischen Blätter anerkannt wird oder nicht. Und deshalb am Schluss ein Gedanke der australischen Schriftstellerin Kate Lyons, der im Februar in einer Kolumne in der Tageszeitung "The Australian" zu lesen war:
" Ich mag jede Art von Romanen. Gebt uns ein paar große Ideen, gebt uns ein paar kleine Ideen, etwas Geschichte, eine zeitgenössische Portion Streusand und Schmutz, eine Sprache, die uns umwirft, ein paar Dialoge im besten Jargon, ein bisschen was von einer exotischen Szenerie und ein paar häusliche Schuftereien. - Ein Hoch der Vielfalt!"
Literaturauswahl:
John Marsden: Morgen war Krieg. Teil 1: Morgen war Krieg.
Teil 2: Die Toten der Nacht. Teil 3: Gegen jede Chance. Übersetzt von
Hilde Linnert (Teil 1) und Jacqueline Csuss (Teil 2 und 3).
Carlsen Verlag, Hamburg 2002, jeder Band € 7,90.
Elisabeth Honey: Salamander im Netz. Übersetzt von Heike Brandt.
Mit Bildern von Jörg Mühle. Beltz & Gelberg Taschenbuch, Weinheim 2004.
302 Seiten, € 7,90
Colin Thiele: Storm Boy. 40th Anniversary Edition. New Holland Publisher,
Sidney 2002. 60 Seiten, $ 12,95
Judith Clarke: Nighttrain. Übersetzt von Salah Naoura. Erika Klopp Verlag,
Hamburg 1999 (vergriffen)
Sonya Hartnett: Schlafende Hunde. Übersetzt von Petra Koob-Pawis.
Arena Taschenbuch, Würzburg 2000, 144 Seiten, € 6,50 (vergriffen)
Sonya Hartnett: Prinzen. Patmos Verlag, Düsseldorf 2005. 168 Seiten
Phillip Gwynne: Wir Goonyas, ihr Nungas. Übersetzt von Cornelia Krutz-Arnold.
Verlag Sauerländer, Düsseldorf 2002. 286 Seiten, € 15,80. Als Taschenbuch im
Carlsen Verlag € 7,90
Ian Bone: Geständnis einer Unschuldigen. Übersetzt von Cornelia Holfelder-von
der Tann. Ravensburger Buchverlag, Ravensburg 2004, 330 Seiten, € 14,95
Margaret Wild: Jinx. Übersetzt von Sophie Zeitz, Hanser Verlag, München 2003,
208 Seiten, € 14,90
Melina Marchetta: Ich bin‘s, Francesca. Übersetzt von Cornelia Holfelder-von
der Tann, Ravensburger, 252 Seiten, € 12,95
Lian Hearn: Der Clan der Otori. Teil 1: Das Schwert in der Stille. Teil 2: Der Pfad
im Schnee. Teil 3: Der Glanz des Mondes. Übersetzt von Irmela Brender (Teil 1
und 2) und Salah Naoura (Teil 3). Carlsen Verlag, Hamburg, 2003 bis 2005.
Teil 1 und 2 je € 18,-, Teil 3 € 19,50