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Uraufführung von Frank Castorfs "Gier nach Gold" nach Frank Norris und Erich von Stroheim

Schon die Grundidee ist genial ausgedacht: mit der Übernahme der Ruhrfestspielleitung die Bewegung von Ost nach West, von der Volksbühne ins Ruhrgebiet, als Matrix zu nehmen für den Aufbruch des gesamten "Ostens" in Richtung Kapitalismus seit der Wende; das Ganze dann richtig groß zu denken, so dass aus dem Europa-Treck globale Migrationsbewegungen werden; den Westen in Richtung Amerika zu verlängern, wo die Freiheit zwar irgendwann mal erfunden wurde, der Erfolg des Kapitalismus heute aber um jeden Preis verteidigt werden muss. Und schon ist man wieder im Wilden Westen angekommen, also bei Frank Norris und seinen Figuren.

Von Karin Fischer |
    Norris hat, wesentlich beeinflusst von Emile Zola, als 22-Jähriger mit "McTeague: A Story of San Francisco" den ersten naturalistischen amerikanischen Roman geschrieben. Seine Geschichte um den grobschlächtigen, aber im Grunde gutherzigen Zahnarzt McTeague und seine Frau Trina, die 5000 Dollar im Lotto gewinnt, darüber aber so geizig wird, dass sie sich und ihn ins Elend stürzt und alles mit Mord und Totschlag endet, wäre heute ein Fall fürs anglistische Seminar, hätte Erich von Stroheim nicht in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts nach der Vorlage einen Stummfilm gedreht, dessen aufwändiger Realismus Filmgeschichte geschrieben hat (beim Showdown in Death Valley mussten die Kameras mit feuchten Tüchern geschützt und die halbe Crew krank nach Hause geschickt werden). Stroheims 9-Stunden-Epos kam als verstümmelte 2 1/4-Stunden-fassung in die Kinos; ihr folgt Castorf detailgetreu bis hin zur blonden Lockenperücke der Titelfigur. Sein inszenatorischer Aufwand betrifft aber sozusagen die Kehrseite des Naturalismus:

    Was der Naturalismus auch war, vor allem bei den Deutschen Schlaf, Holz, Hauptmann usw., wo dieser Naturalismus umgeschlagen war in extremen Symbolismus, als wenn etwas, das man zu genau beschreibt, einen wegschleudert in eine ungeheure Künstlichkeit und symbolistische Überhöhung. Und das steckt auch in dem Roman drin, das Burleske, das Kolportagehafte, die Grandguignol-Show hinter den Kampf- und Triebmaschinen, da steckt immer das Lachen auch in der Inszenierung.

    Das sieht dann so aus, dass McTeagues bester Freund Marc - jener Mann also, der Mac mit Trina zusammenbringt, ihn später aber aus Eifersucht und Neid aufs Geld anzeigt und sein erbitterter Feind wird - dass Marc alias Milan Peschel erst mal als Berliner Proletenschnauze auftritt und nach minutenlanger verbaler Jagd auf die "Fahrradfahrer-Arschlöcher" flotte Gewerkschaftssprüche reißt - Gruß von Berlin Mitte ans Ruhrgebiet, soll das heißen, wir wissen, wo wir sind, und dies ist eine Geschichte von heute.

    Auf die Bühne hat Bert Neumann diesmal eine grob zusammengezimmerte amerikanische Kleinstadtstraße gestellt, mit Zahnarztpraxis, Bar, Vergnügungsmeile, diversen Bretterverschlägen und dick verschlammter Straße. Das sieht aus wie ein Western, ist aber ein Filmset; die bewährte Castorfsche Vermehrung von Spiel- und Sinnebenen ist ja praktisch Teil der Vorlage und wird deshalb besonders konsequent umgesetzt: alles, was drinnen spielt, also den überwiegenden Teil des Stücks, bekommt man auf der Leinwand in der Bühnenmitte zu sehen. Aber wie! Die Geschichte um den Fluch des Geldes ist gewalttätig, blutig, laut und von tragikomischer Größe, aber vor allem aberwitzig vielschichtig.

    So wie es in "Süßer Vogel Jugend" zumindest auch um den Terror der Intimität von Big Brother bis zum neuzeitlichen Schönheitswahn ging, verhandelt Castorf hier nichts weniger als die zentralen Diskurse einer arm gewordenen Berliner Republik. Der Asien-Imbiss heißt "Kuchnia Wietnamsko" und der Ausländer im Stück wird als polnischer Jude beschimpft: ein deutlicher Beitrag zur Ost-Erweiterung; Trinas Eltern treten irgendwann als Bettler auf - Reflex auf die neu entfachte Generationendebatte? Auf der Leinwand geht manchmal ein Indianer um, der an den amerikanischen Traum als Gewaltgeschichte erinnert und es Trinas Mutter am Ende vergewaltigend heimzahlen darf. Dazwischen ist noch Platz für launige Selbstironie der Theaterleute und für ein Freiheitslied aus den 1830er Jahren für Menschenrechte und Bürgerglück.

    Zum Multimedia-Konzept gehört, dass der Junghegelianer Max Stirner im Programmheft als Vordenker der "Geiz ist Geil"-Bewegung unserer Tage auftritt. Mit "Gier nach Gold" beerdigt Castorf zum wiederholten Male den großen amerikanischen Traum vom menschenwürdigen Kapitalismus. Geld macht asozial, viel Geld macht unmenschlich, ist die Botschaft des Stücks, mit dem Castorf seinen Ruf als genialischer Theatermacher wieder einmal verteidigt hat. Ob sie in Recklinghausen gut ankommt, ist noch nicht entschieden. Etliche Premierengäste hatten die Vorstellung schon in der Pause die Gefolgschaft gekündigt. Aber Theatermachen für Frank Castorf ist ja immer auch "Toleranztraining". Das ist es vor allem, wozu die neuen Ruhrfestspiele in den nächsten Wochen einladen.