Sonntag, 12. Mai 2024

Archiv


Ursache unklar - Probleme ungelöst

Die Frage, wie es zum Einsturz des Kölner Stadtarchivs kommen konnte, ist auch sechs Monate nach dem Unglück noch ungeklärt. Ebenso unklar ist, wie es mit dem Stadtarchiv und dem U-Bahnbau weitergehen soll.

Von Friederike Schulz | 05.09.2009
    Schramma: "Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein ganz herzliches Willkommen zu einem kleinen Dankeschön-Fest, ein Fest, das Ihnen gilt. Ihnen, den Helferinnen und Helfern, die nach dem Einsturz des historischen Archivs tatkräftig und spontan mit angepackt haben!"

    Mehr als 1000 ehrenamtliche Helfer waren es, die der Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma Ende August in die Festhalle des historischen Rathauses geladen hatte. Seine letzte Amtshandlung - bei den Kommunalwahlen vor einer Woche zogen die Wähler die Konsequenz aus dem dilettantischen Krisenmanagement der Kölner CDU. Der SPD-Kandidat Jürgen Roters bekam mehr als 54 Prozent der Stimmen und ist somit der klare Sieger. Schramma selbst war gar nicht mehr angetreten, allerdings erst nachdem die Kritik auch aus den eigenen Reihen ihm keine Wahl mehr ließ. So geriet das Dankesfest für die Helfer auch zum Abschiedsfest für Fritz Schramma, dessen Wiederwahl vor dem 3. März wohl niemand ernsthaft angezweifelt hätte. Doch seit diesem Tag ist in der Domstadt vieles nicht mehr wie es war. Die Uhr zeigt 13.58 Uhr, als die Mitarbeiter des historischen Archivs in der Severinstraße merken, dass etwas nicht stimmt.

    Augenzeugin: "Ich stand auf der Straße, hatte mir gerade einen Kaffee geholt. Die Bauarbeiter haben uns gesagt, wir sollten das Gebäude räumen. Die Mitarbeiter aus dem Archiv sind alle raus gelaufen. Ich habe mich noch mal umgedreht, habe gesehen, wie das Gebäude gewackelt hat, und dann sind wir alle nur noch gelaufen."

    Vom Stadtarchiv, einem fensterlosen Betonklotz aus den 70er-Jahren, bleibt nur noch ein drei Meter hoher Schuttberg übrig. Die Nachbarhäuser sind so stark beschädigt, dass sie abgerissen werden müssen. Es dauert mehrere Tage, bis die Feuerwehrleute die Leichen von zwei verschütteten jungen Männern geborgen haben. Die übrigen Anwohner kommen mit dem Schrecken davon, doch sie haben ihr Hab und Gut verloren.

    In den Wochen nach dem Einsturz ist der Lärm der schweren Räumgeräte das vorherrschende Geräusch in der gesamten Kölner Südstadt. Über der Einsturzstelle ist ein provisorisches Dach gespannt. Daran sind Seilwinden angebracht, mit denen sich die Feuerwehrleute absichern, um bei der Bergung der Akten nicht in das 30 Meter tiefe Loch zu stürzen. Sie bergen die Akten aus mehr als 1000 Jahren Stadtgeschichte – eine der bedeutendsten kommunalen Sammlungen Deutschlands.

    Fleckenstein: "Das ist nass."
    "Ja, also Nasses bitte in die Kiste ... Hier sind keine Bedenken, das ist einfach trocken und staubig ... Sie haben gerade so eine Mischung gehabt, das waren Verwaltungsakten der Stadt Köln mit Akten des 17. Jahrhunderts gemischt. Man lernt die Bestände auf eine ganz neue Art und Weise kennen."

    Gisela Fleckenstein leitet die Abteilung Nachlässe des Stadtarchivs. Erst im Februar hatte sie ihre Stelle angetreten, freute sich darauf, die handschriftliche Notensammlung des Komponisten Jacques Offenbach und die Briefe Heinrich Bölls neu zu katalogisieren. Nun sortiert sie nasse Schnipsel und trocknet Urkunden.

    Fleckenstein: "Aus der Sammlung Jacques Offenbach ist ein bisschen was aufgetaucht, Jens Hagen, ein Schriftsteller, es tauchen immer mal wieder verschiedene Splitter auf, nur man kann nicht sagen, dass ganze Strecken geborgen werden oder ein ganzer Bestand. Es liegt sehr, sehr viel durcheinander, weil das Haus eben nicht systematisch zusammengestürzt ist, sondern wir haben hinten einen Trichter und so sind aus mehreren Stockwerken die Archivalien gemischt, sodass da auch Schreinsbücher und Verlagsbücher herauskommen."

    Die Archivare und die Anwohner beschäftigt seit dem Einsturz vor sechs Monaten noch immer vor allem eine Frage: Wie konnte es dazu kommen? Unter dem Pflaster der Severinstraße soll die neue U-Bahn verlaufen. Sie wird die Stadt in einigen Jahren von Nord nach Süd queren. Bauherr sind die Kölner Verkehrsbetriebe, KVB, eine Tochtergesellschaft der Stadt und gleichzeitig Aktiengesellschaft. In ihrem Auftrag arbeiten mehrere große Baufirmen, darunter Bilfinger Berger und HochTief, am größten Verkehrsprojekt der vergangenen Jahrzehnte. Der Tunnel in dieser Gegend ist längst fertig – es fehlt nur noch die Gleiswechselanlage am "Waidmarkt" auf Höhe des Stadtarchivs. Deswegen haben die Bauarbeiter die Straße noch einmal aufgerissen und ein mehr als 30 Meter tiefes Loch ausgehoben. Die sogenannten "Schlitzwände" an den Außenwänden der Grube sind bereits eingebracht – sie sollen das Erdreich stabilisieren, damit der Untergrund mit Beton ausgegossen werden kann. Doch dazu kommt es nicht mehr – am 3. März läuft die Baugrube voll Grundwasser, das Erdreich gibt nach, das Archiv stürzt ein. Seither spekulieren Ingenieure und Statiker über die Unglücksursache.

    Fenske: "Es gibt zwei Hypothesen, die eine ist, dass es einen sogenannten hydraulischen Grundbruch gegeben hat, das heißt, das Erdreich bricht auf, Wasser strömt nach und hat Hohlräume gebildet. Die andere Hypothese ist, dass an der Schlitzwand ein Defekt gewesen ist. Es sind aber leider Hypothesen, es wird leider noch Monate dauern, bis wir Gewissheit haben."

    Jürgen Fenske, der Vorstandssprecher der Kölner Verkehrsbetriebe, bemüht sich nach der schlechten Presse der vergangenen Monate um Transparenz und Aufklärung. In den Trümmern des Archivs am "Waidmarkt" suchen Ingenieure und Gutachter im Auftrag der Staatsanwaltschaft nach Hinweisen auf die Einsturzursache. Denn die ermittelt wegen fahrlässiger Tötung und Baugefährdung. Der Verdacht: KVB und Baufirmen könnten Warnhinweise ignoriert haben. Vorwürfe gibt es genug. Eberhard Illner, früherer Abteilungsleiter des Archivs, hatte am Abend des 3. März im Deutschlandfunk erklärt, er habe schon vor Monaten versucht, die Stadt auf Risse im Gemäuer aufmerksam zu machen.

    Illner: "Es gab ganz klare Warnungen, auch vorher. Ich selber habe im Keller des Gebäudes im Sommer des Vorjahres Setzungsrisse, das natürlich auch an die Archivleitung weitergegeben. In der letzten Woche wurden Hinweise laut auf erhebliche Senkungsrisse. Wie ich von der Stadt Köln erfahren konnte, wurde auch von offizieller Seite bestätigt, dass diese Hinweise eingegangen sind."

    Die Katastrophe sei somit absehbar gewesen. Ein Vorwurf, den der Bauleiter der Kölner Verkehrsbetriebe, Rolf Pabst, sofort mit Nachdruck zurückweist.

    Pabst: "Wir haben, je nachdem in welcher Bauphase wir uns befanden, bei den Schildfahrten stündlich, bei anderen Maßnahmen täglich, Vermessungsarbeiten durchgeführt und haben so mindestens Woche für Woche, Tag für Tag gemerkt, um wie viel sich die Gebäude bewegen. Ich behaupte: Um 13.58 Uhr ist dieses Schadensereignis eingetreten. Wenn wir zehn Minuten vorher gemessen hätten, wären keine Auffälligkeiten da gewesen."

    Eine wagemutige Behauptung. Schließlich sind auch in einem statischen Gutachten vom Januar diverse Schäden am Archivgebäude aufgelistet. Die Risse und Betonabplatzungen seien jedoch hauptsächlich im Bereich von Dehnungsfugen entstanden, heißt es in dem Dokument, das ein Leverkusener Ingenieurbüro im Auftrag der Kölner Verkehrsbetriebe erstellt hat.

    "Die entstandenen Risse sind unbedenklich. Das Gebäude ist im jetzigen Zustand in statischer Hinsicht ausreichend standsicher. Sicherungsmaßnahmen müssen nicht getroffen werden. Um eine genaue Ursache für das unterschiedliche Setzungsverhalten herauszufinden und um eventuell weitere Schäden am Gebäude zu vermeiden, empfehle ich Ihnen, einen öffentlich anerkannten Sachverständigen für Bauwerksschäden einzuschalten."

    Dies ist jedoch nicht geschehen, wie Baudezernent Bernd Streitberger offen zugibt.

    Streitberger: "Wir haben davon abgesehen, dort noch mal mit einem Bauschadenssachverständigen zu sprechen, weil wir natürlich wussten, warum sich das Gebäude unterschiedlich setzte. Es hat entlang der Nord-Südbahn bei den Bauarbeiten natürlich ständig Setzungen an Gebäuden. Das gehört natürlich mit zum Wesen solcher Bauarbeiten. Und da es sich um einen sechsgeschossigen vorderen Bauteil handelte, der deutlich schwerer war als der eingeschossige rückwärtige Bauteil, ist es sehr gut nachvollziehbar, dass es dort ein unterschiedliches Setzungsverhalten gegeben hat. Dafür gibt es auch Dehnungsfugen im Gebäude, die genau für so einen Sachverhalt ausgelegt sind."
    Als Streitberger dann noch erklärt, Informationen zu einem ersten hydraulischen Grundbruch im September erst mit Verspätung weitergeleitet zu haben, zieht Oberbürgermeister Schramma die Konsequenz: Er leitet ein Disziplinarverfahren gegen seinen Baudezernenten ein. Im Rathaus macht daraufhin das Wort "Bauernopfer" die Runde. Schließlich hat Schramma selbst in den Tagen nach dem Unglück hilflos und überfordert gewirkt.

    Schramma: "Eins ist mir jetzt schon klar, dass die Frage, ob man in Zukunft U-Bahn-Bauten in einer bewohnten Stadt in dem Maße durchführen kann und soll, die muss wirklich auf den Prüfstand gestellt werden. Denn es ist ja nicht das einzige Haus, das Risse und Schäden zeigt. Deswegen muss man jetzt hier grundsätzlich darüber nachdenken. Ich halte das eigentlich für unverantwortlich."

    Spricht's und rudert wenige Stunden darauf zurück – nach wütenden Protesten der Kölner Verkehrsbetriebe. Schließlich sind bereits mehrere hundert Millionen Euro verbuddelt, fast alle Tunnel sind fertig. Zurücktreten will der glücklose Oberbürgermeister dennoch nicht. Genauso wenig wie sein Parteifreund und Vorstandschef der Kölner Verkehrsbetriebe, Walter Reinartz. Der war noch bis 2008 in Personalunion Chef der Kölner CDU – bis er den Posten nach massiver Kritik der Linken im Stadtrat aufgab. Das Amt des KVB-Chefs hat Reinartz bis heute inne. Selbstzweifel sind von ihm bisher nicht zu hören, auch nicht, als das Kölner Umweltamt mit folgender Auskunft überrascht: Die von der KVB beauftragten Baufirmen hätten am Waidmarkt deutlich mehr Brunnen zum Abpumpen des Grundwassers gebaut als die vier bis dahin genehmigten.

    "Zusätzlich wurden vom 22. April bis 11. Dezember 2008 19 weitere Brunnen errichtet, die in den Plänen als Zusatzbrunnen bezeichnet wurden. Damit ist festzustellen, dass entgegen der wasserrechtlichen Erlaubnis insgesamt 23 Brunnen gebohrt wurden. Die Anzahl der ungenehmigten Brunnen erhöht sich damit auf neunzehn."

    Ob tatsächlich, wie die Mitteilung nahe legt, zu viel Grundwasser abgepumpt wurde, untersucht derzeit die Staatsanwaltschaft. Schließlich könnte auch dies ein Grund für den Einsturz sein: Wird dem Erdreich zu viel Wasser auf einmal entzogen, wird dies porös und gibt nach. Dass der Untergrund in der Gegend instabil sein kann, wissen die Kölner Verkehrsbetriebe spätestens seit dem Jahr 2004. Damals hatte sich bei Vorarbeiten zum Tunnelbau der Turm der St. Johann-Baptist-Kirche an der Severinstraße um mehr als 70 Zentimeter geneigt. Der "schiefe Turm von Köln" muss abgestützt werden. Die Staatsanwaltschaft schaltet sich ein. Ein Gutachten ergibt jedoch, dass das Gebäude nicht einsturzgefährdet ist, die Nachforschungen werden eingestellt. Außerdem wird Kritik laut, die Bautechnik mit sogenannten "Schlitzwänden" sei dem Untergrund nicht angemessen. Statt das Grundwasser mit Hilfe von Brunnen abzupumpen, sei es sicherer, den Boden unter Wasser mit Beton auszugießen. Ein Vorwurf, den Vorstandssprecher Jürgen Fenske zurückweist.

    Fenske: "Die Schlitzwände haben am Waidmarkt eine Einbindung von 43 Metern. Das alles ist mehrfach gutachterlich untersucht worden und auch als eine ausreichende Einbindung gesehen worden. Dort ist alles mehrfach geprüft worden von den Gutachtern, von uns und auch von den Statikern."

    Auch die Bezirksregierung Düsseldorf, die in Nordrhein-Westfalen für die Oberaufsicht bei U-Bahnbauten zuständig ist, zieht bis heute das Verfahren nicht in Zweifel. Matthias Vollstedt, Hauptdezernent für Verkehr bei der Bezirksregierung.

    Vollstedt: "Im Rahmen unserer Aufsichtstätigkeit gab es keinerlei Hinweise darauf, dass da irgendwas hätte passieren können. Soweit wir die restliche Baustelle, die ja nach wie vor läuft, beurteilen können, wird da nach den anerkannten Regeln der Technik gebaut. Das läuft nach unserem Eindruck ordnungsgemäß."

    Für ordnungsgemäß hielt die Bezirksregierung bis vor kurzem auch, dass die Stadt Köln die Bauaufsicht für die U-Bahn an die Verkehrsbetriebe weitergereicht hatte. Das Unternehmen kontrollierte sich also selbst. Die Aufsicht bei U-Bahnbauten ist in Deutschland Ländersache. Und so verwundert es nicht, dass die Vorschriften dazu überall unterschiedlich sind. Im Saarland wird die Kontrolle zum Beispiel an externe Ingenieurbüros vergeben. In Nordrhein-Westfalen ist es dagegen bisher üblich, dass die Aufsicht beim Betriebsleiter oder beim Bauherrn selbst liegt. Den Vorwurf, dass somit eine unabhängige Kontrolle fehle, weist der Düsseldorfer Regierungspräsident Jürgen Büssow auch nach dem Einsturz des Archivs zunächst zurück.

    Büssow: "Der Hintergrund ist der, dass man damit das Know-How eines Bauunternehmens in Anspruch nehmen will. Das Unternehmen kennt ja auch die gesetzlichen Auflagen, die an Baustellen zu richten sind. Die müssen sich auch an die Gesetze halten. Das tun die auch. Sie werden in den wirtschaftlichen Regress genommen. Und wenn Gesetze überschritten werden, müssen sie sich gegebenenfalls, wie wir das in Köln ja auch erleben, vor den Gerichten und den Staatsanwälten verantworten. Kein Bauunternehmen wird nachlässig eine solche Baustelle betreiben."
    Inzwischen hat Jürgen Büssow seine Meinung geändert. Die Landesregierung hat seine Behörde aufgefordert, den Kölner Verkehrsbetrieben die Aufsicht über den weiteren U-Bahnbau zu entziehen. Die Aufgabe übernimmt jetzt ein unabhängiges Ingenieurbüro aus Düsseldorf.

    Im Krater der Einsturzstelle an der Severinstraße fährt langsam ein Bagger hin und her, planiert den Boden. Die Aufräumarbeiten ruhen, bis die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft abgeschlossen sind. Das Erdreich ist mit mehr als 1000 Kubikmetern Beton stabilisiert. Wie dort je weiter an der Gleiswechselstelle gebaut werden soll, ist nicht geklärt. Anja Spörk steht vor dem Eingang ihrer Kneipe "Papa Rudi's" und blickt durch die Maschen des Drahtzauns auf das riesige Loch. Genau wie damals vor sechs Monaten, als sie am 3. März um 13.58 Uhr auf eine Freundin wartet.

    Spörk: "Das ging also von dieser Seite aus los, also von dem Eckhaus Severinstraße. Da war unten eine Spielhalle drin. An der linken Seite der Spielhalle ging dann plötzlich ein Riss die Wand hoch. Dann flitschte der erste Putz von den Wänden. Dann sind die ersten Fenster geborsten, die dann raus sprangen. Und dann ging alles eigentlich relativ schnell. Dann sackte ein Haus nach dem anderen in die Grube. Und dann sah man, wie sich das Stadtarchiv nach vorne neigte und dann auch nach unten ging. Dann kam schon diese enorme Schuttwolke, die sich dann langsam auf das Haus zugeschoben hat. Und dann habe ich gedacht, es ist jetzt besser, wenn du läufst."

    Neun Wochen dauert es, bis Anja Spörk ihre Kneipe wieder aufmachen kann. Für den Verdienstausfall bekommt sie, wie die anderen Betroffenen, eine Entschädigung von den Kölner Verkehrsbetrieben. Für fast alle Anwohner, die in den eingestürzten Nachbarhäusern lebten, sind neue Wohnungen gefunden. Die Hilfe läuft schnell und unbürokratisch. Doch um den Umsatzrückgang der Geschäftsinhaber auszugleichen, dazu reicht das Geld nicht. Schließlich ist die Severinstraße seit dem Einsturz eine Sackgasse. Hinter der Kneipe geht es nicht mehr weiter, wer auf die andere Seite will, muss einen Umweg über die Parallelstraße nehmen. Dennoch: Aufgeben will die Wirtin nicht. An diesem Wochenende feiert sie das einjährige Bestehen ihres Hauses. Ein Fest, das sie sich bei der Eröffnung vor einem Jahr anders vorgestellt hatte – schließlich sollten die Bauarbeiten hier 2010 beendet sein. Davon ist längst keine Rede mehr. 2013 wird jetzt als vages Datum gehandelt.

    Spörk: "Ich schwanke manchmal ein wenig. Ich bin manchmal schon an dem Gedanken, dass ich sage: Komm, lass alles fallen. Aber dazu bin ich nicht der Typ, jetzt haben wir gesagt: Jetzt erst recht."

    Das sagt sich auch die Archivarin Gisela Fleckenstein jeden Morgen, wenn sie ihr provisorisches Büro im Rathaus der Stadt betritt. 85 Prozent der Archivalien sind inzwischen geborgen, in Kisten verpackt und in anderen Archiven in ganz Deutschland zwischengelagert. Gisela Fleckenstein und ihre Kollegen wollen demnächst mit der systematischen Erfassung der Dokumente beginnen. Wie viel davon zu retten ist, werden sie erst in einigen Jahren sagen können.

    Fleckenstein: "Der Zustand ist sehr unterschiedlich, von Archivalien, die an der Severinstraße unbeschädigt aus dem Loch herausgekommen sind. Die sind auf jeden Fall verstaubt und müssen trocken gereinigt werden. Es gibt Archivalien, die sind sehr stark zerstört, sodass man auch anhand der Signatur nicht mehr erkennen kann, aus welchem Bestand sie kommen. Da muss man dann eine inhaltliche Autopsie machen, um festzustellen, aus welchem Bestand sie kommen. Es gibt Archivalien, die sind sehr stark fragmentiert, sprich Schnipsel."

    In fünf Jahren soll das neue Archivgebäude eingeweiht werden – über den Standort will der Rat der Stadt noch im Laufe dieses Monats entscheiden. Eines ist jedoch jetzt schon klar – es wird erdbebensicher und weit weg von irgendwelchen U-Bahntunneln stehen.
    Auf der Baustelle am historischen Rathaus watet Vorstandssprecher Jürgen Fenske in strömendem Regen durch die Pfützen, steigt die enge Eisentreppe hinunter in die Baugrube. Die handgenähten Lederschuhe hat der Manager gegen schwere Arbeitsstiefel eingetauscht, auf dem Kopf trägt er vorschriftsmäßig einen Bauhelm. Zusammen mit Kollegen will er sich ein Bild vom Fortgang der Bauarbeiten an der Haltestelle der Nord-Südbahn machen. Der Bahnsteig ist bereits gemauert, Fenske blickt zufrieden in die Tunnelröhre. Trotz der geschätzten Zusatzkosten durch den Einsturz des Archivs von 200 bis 500 Millionen Euro ist er überzeugt: Das Bauprojekt Nord-Südbahn ist notwendig und sinnvoll.

    Fenske: "Ich will nur mal drei Gründe nennen: Erstens natürlich ein Reisezeitvorteil von acht Minuten. Noch wichtiger ist die gute Erschließung des Kölner Südens. Und das dritte ist, wir haben dann in der Innenstadt einen weiteren U-Bahntunnel. Bisher haben wir nur einen einzigen in einer Ein-Millionen-Stadt. Und wenn dort mal ein Zug liegen bleibt, dann wirkt sich das aus im gesamten Netz. Insofern haben wir jetzt über diesen zweiten Tunnel eine Entlastung und insofern hat der Kölner Rat aus guten Gründen entschieden, die Nord-Südstadtbahn zu bauen."

    Wann am historischen Rathaus allerdings der erste Zug halten wird, darüber wagt auch Jürgen Fenske keine Prognose. Schließlich muss erst der Gleiswechsel in der Severinstraße fertig gestellt werden. Wann die Staatsanwaltschaft die Unglücksstelle wieder freigibt, ist derzeit nicht abzusehen. Und auf die Frage, wie die Baufirmen die 1000 Kubikmeter Beton wieder aus dem Boden holen wollen, die nach dem Einsturz ins Erdreich gekippt wurden, weiß auch Jürgen Fenske keine Antwort.