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Vater und Tochter

"Crazy for love" von Johanna Driest sei der "frechste Mädchen-Roman des Sommers", heißt es. Kennzeichnend an dieser Charakterisierung ist zweierlei, dass zum einen "frech" und "Mädchen" das Buch schon als "Roman" legitimieren sollen und dass zum anderen die Frischedauer des Buches auf eine Jahreszeit, den Sommer, begrenzt wird.

Von Hans-Jürgen Heinrichs |
    In diesen Punkten berühren sich seit einigen Jahren die Kultur- und die Unterhaltungsindustrie. Exemplarisch in der Modebranche, in den Casting-Shows, aber auch in Samstagabend-Unterhaltungssendungen hat sich der Trend durchgesetzt, immer jüngere Mädchen als frech und sexy auszustellen und sie für immer kürzere Intervalle zu exhibitionieren.

    Diese Form der Sexualisierung und Vermarktung von Körper, Kindfrau-Habitus und Unreife hat auch den Literaturmarkt erreicht. Johanna Driests Tagebuch-Aufzeichnungen, versehen mit dem Label "Roman", reihen sich - erst einmal völlig unabhängig davon, ob sie eine literarische Qualität haben - in diese Marketing-Strategie ein. Johanna Driest:

    " Ich bin darauf gekommen, mein Buch in Tagebuch-Form zu fassen, denn es war ja vorher ein Roman, als ich das Buch von Anne Frank gelesen habe, ihr Tagebuch. Mir liegt es schon sehr am Herzen, dass die Leute das als Literatur ansehen, das würde mir sehr gefallen. Die Leute sollten sich identifizieren und es unterhaltsam finden."

    Johanna Driest hat ihren Roman als 13jährige verfasst und ihm dann die Form eines Tagebuchs gegeben, das schließlich mithilfe der Sekretärin ihres Vaters - des Schriftstellers Burkhard Driest - und einer Lektorin so weitgehend überarbeitet wurde, dass das Ganze lesbar ist. Wer soll es lesen? Die ebenfalls 13-14-Jährigen, die sich dieselben Fragen wie die Autorin stellen und ähnliche Antworten ausprobieren?

    Ab wann dürfen Mädchen Sex haben? ... Ich denke, ein Mädchen sollte Sex haben, wenn es dazu bereit ist. Aber nicht vor sechzehn ... Ich werde noch warten, aber ich glaube, ich werde Sex zum Vergnügen haben. Alle sagen, es sei großartig. Ganz toll. Manche Leute sagen, man sollte nur Sex haben, wenn man verliebt ist. Der Überzeugung bin ich nicht. Man kann auch Sex haben, wenn man geil ist.

    Das meint wohl die Charakterisierung des Buches als "frech". Befriedigt wird ein bestimmtes voyeuristisches Bedürfnis: Treiben es die Mädchen, die in Tops, Strings, tatoo-geschmückten und gepiercten Körpern durch die Straßen gehen, schon mit Jungen, oder ist es die reine Vorlust und narzisstische Selbstverliebtheit, das Experimentieren mit dem Körper und der erwachenden Sexualität? Natürlich läuft bei ihnen viel weniger, als die Männer sich vorstellen; sie sind ja trotz aller zur Schau gestellten offensiven Erotik schüchtern und ängstlich. Was sie sagen und wie sie sich zeigen, hat mehr mit Phantasien als mit Gelebtem zu tun. Auch Johanna Driest bestätigt dies für ihr Buch:

    " Es ist sehr schwer zu sagen, weil ich sehr aus dem Gefühl heraus schreibe... Die Geschichte vom Buch ist größtenteils erfunden. Was darin wahr ist, ist, dass ich mich auch schon mal verliebt habe."

    Der coole Habitus, den die Autorin in diesem Buch und auch in ihrem Auftreten an den Tag legt, hat viel mit ihrem Vater zu tun, dessen Biographie geprägt ist von spektakulären Auftritten, die unter anderem in seine Drehbücher und Romane (wie etwa "Die Verrohung des Franz Blum", der mit ihm in der Hauptrolle verfilmt wurde) eingegangen sind.

    Der heute auf Ibiza lebende Autor hat nun zeitgleich mit seiner Tochter auch einen neuen Roman, "Liebestod", vorgelegt. Es gehört zur Komik des heutigen Literaturbetriebs, dass der erfahrene, ältere Schriftsteller gleichsam im Fahrwasser der jungen Hobby-Schriftstellerin aufgewertet wird; gleichzeitig ist die Thematik des Buches "Crazy for love" ganz das Thema des Vaters und schwimmt in dessen Fahrwasser.

    Burkhard Driest, wegen seiner als männlich, hart und souverän geltenden Ausstrahlung von den Frauen stets umschwärmt - berühmt Romy Schneiders Hinschmelzen in einer Talkshow -, schreibt seit Jahren Romane, ist längst nicht mehr darauf erpicht, die Frauen zu betören (von seiner Tochter sogar als asexuell beschrieben), hat mit "Liebestod" ein spannendes Buch mit lockeren, leichtfüßigen Dialogen im Tonfall eines psychologischen Kriminalromans geschrieben.

    "'Habt ihr einen Täter? Gibt es Verdächtige?' fragte Kommissar Costa. 'Der Bischof verhört sie gerade.' Torres ging zu dem Wagen, auf den Elena gezeigt hatte, um sich den Toten auf der Rückbank anzusehen. Costa wandte sich an den Bischof, der sich gerade die Handschuhe auszog. 'Wie steht's?' 'Mach du weiter, sie ist ziemlich wirr. Hast du keine Handschuhe? Hier nimm meine.' 'Hast du Angst, dass sie mich beißt?', spottete Costa. 'Halte ich für unwahrscheinlich, nachdem sie so was Appetitliches wie dich verschmäht hat.' Der Bischof reagierte nicht; er war die Spötteleien gewöhnt.'"

    Kommissar Toni Costa hat Ähnlichkeit mit dem alten Alain Delon, der jüngst in einem Fernseh-Krimi einen eigenwilligen Kommissar spielte: auch Costa geht eigene Wege und verknüpft sein privates Leben und seine Erinnerungen an seine Vergangenheit mit dem Mordfall, den er untersucht.

    Während der Lektüre beider Bücher (von Johanna und Burkhard Driest) machte ich die Erfahrung, dass es mich zunehmend faszinierte, wie ein bestimmtes Image vom Vater auf die Tochter übergeht und wahrscheinlich auf beide gar nicht so zutrifft. Das Interesse der Tochter für die Sexualität ist ganz normal und erhält allererst durch den Titel, die Umschlaggestaltung und die mediale Inszenierung des Buches etwas Skandalöses. Eher rührend liest sich das Tagebuch, wenn die Autorin zum Beispiel ihren Vater als einen beschreibt, der eine Schraube locker hat und im Grunde ganz toll ist.

    Er ist ein lieber Mann. Nur leider sehr stur. ... Ich finde es einfach mit ihm. Bis auf manchmal ... Ich finde, er ist eine Kartoffel. Auf jeden Fall redet er viel, isst viel, belehrt viel, trinkt viel Tee, springt viel auf und wedelt mit den Armen ... zum Schreiben setzt Papa sich in immer andere Winkel.


    In solchen Winkeln ist nun "Liebestod" entstanden.

    Zur Zeit vollzieht sich ein Rollenwandel: nicht mehr die Jungen, sondern die Mädchen haben jetzt die Rolle der Verführer und Aktiven übernommen. Sie suchen sich die Partner aus, die sie wollen, selbstbewusst und bestimmt. Dies spiegelt sich in der Art wider, wie sie sich anziehen, und die Mode springt, gewinnorientiert, auf diesen Zug auf.

    Die Literaturbranche ebenso. Aber damit vollzieht sich auch ein Wandel innerhalb des literarischen Genres: Es sind nicht mehr die Männer, die, wie Nabokov, die Lolitas erfinden, sondern die Mädchen stellen sich selbst den Phantasien der Männer zur Verfügung. Freilich fällt damit viel von der literarischen Virtuosität und Finesse weg. Literatur wird flacher.

    Dieser Trend umfasst die ganze Spannweite von den Mädchen-Romanen bis zu den Autobiographien der Politiker, Schauspieler, Stars und Sternchen. Im Grunde zerplatzen zumeist die voyeuristischen Erwartungen, die man an diese Bücher heftet, wie Seifenblasen. Letztlich geht es im frechen Mädchen-Roman der Johanna Driest um das ewig gleiche Spiel von Deprimiertsein (über die Pickel), von Glück (beim Anruf des Möchtegern-Lovers) und von Skepsis, dass alles schief gehen könnte und man selbst vielleicht hässlicher als alle anderen ist, "hässlich wie ein Stück Klopapier", wie es bei der in der Tat besonders klugen, reizenden und liebenswürdigen Autorin heißt. Bei ihr verbleibt - wie sollte es anders sein! - letztlich alles Reden über die Sexualität in der Vorlust, während in dem vor einigen Jahren erschienenen, vergleichbar spektakulären Buch des damals siebzehnjährigen Benjamin Lebert mit dem etwas misstrauisch machenden, fast identischen Titel "Crazy", sich die Orgasmusfixiertheit des Mannes schon Bahn bricht:

    Marie reitet und reitet. Wir sind gleich da. Mein Körper zittert. Irgendwie ist das cooler als alles andere. Ich weiß auch nicht warum. Ich finde es crazy.

    Die in jenen Jahren für die Literatur ausprobierte Formel "Jung + schön = Bestseller" (die sogar auf den teils gelähmten Autor zutraf) bürdet den Jung-Dichtern eine Hypothek auf, die sie, in der Regel, gerade mal für eine Saison auszuhalten in der Lage sind. Inzwischen sehen selbst Fußballtrainer davon ab, ihre Jungstars zu verheizen, und setzen eher darauf, sie langsam an die Höhenluft heranzuführen und aufzubauen.

    Benjamin Lebert hatte, wie Johanna Driest, mit zwölf, dreizehn zu schreiben angefangen - im übrigen in guter Gesellschaft mit den berühmtesten Schriftstellern, ob Goethe, Hofmannsthal oder Rimbaud, die alle auch schon fleißig schrieben, bevor sie sechzehn waren. Aber Lebert ist heute fast vergessen, und es ist zu befürchten, dass sich in ein paar Jahren niemand mehr für Johanna Driests schriftstellerischen Reifeprozess interessiert - was sehr zu bedauern wäre.

    "Crazy for love"
    Von Johanna Driest
    (Heyne Verlag)

    "Liebestod"
    Von Burkhard Driest
    (Diana Verlag)