Auch ihr eben erschienenes Buch "Vendetta", Commissario Brunettis vierter Fall, und der Vorgänger "Venezianische Scharade" sind auf diese Weise entstanden. In beiden Fällen führt Leon ihren liebenswerten Kommissar ins Prostituiertenmilieu Venedigs. In Vendetta landet Brunetti auch prompt für einige Zeit zwecks Recherche auf der Bettkante einer Straßenprostituierten. Der treue Ehemann und Vater zweier Kinder muß sich der geschäftstüchtigen Frau eisern erwehren. Aber: Er bekommt die Informationen, die er braucht. Brunetti ist ein Kommissar, der beharrlich fragt, sich zu nachtschlafender Zeit in dunkelste Ecken vorwagt, um Informanten zu treffen und: skrupellos italienisch schöpft er seine vielfältigen privaten Quellen aus. Ganz ähnlich ist Donna Leon auch für Brunettis Fall drei "Venezianische Scharade" vorgegangen, da geht es um einen vermeintlichen Transvestitenmord. "Die Informationen über Transvestiten habe ich von zwei Prostituierten, Pia und Carla", so Donna Leon. "Während eines Mittagessens erzählten sie mir über ihre Kunden und ihre Freunde, womit ich einen Einblick in ihr Leben bekam. Mich interessierte das. Da entstand auch die Idee über Transvestiten zu schreiben, die ich als sehr, sehr verwirrend empfinde. Tja und dann habe ich angefangen zu schreiben und innerhalb von wenigen Monaten war es fertig."
Donna Leon schreibt schnell. Sie überarbeitet ihre Krimis auch kaum - was dem ersten Buch allerdings mit seinen manchmal sehr hölzernen und einfallslosen Formulierungen gut getan hätte. Aber je mehr Routine sie bekommt, desto ausgefeilter, durchdachter und geschickter wird Leons Sprache, so daß wilde Verfolgungsjagden und Schießszenen die Spannung nur stören würden. Ihre Geschichten werden krimineller, spannender und ihre Bilder immer mörderischer. Im jetzt erschienenen Buch lassen die Pornovideos, in denen Frauen nach mehrfacher Vergewaltigung die Kehle durchgeschnitten wird, den Leser schlicht erstarren. Der sonst so ruhige, weinliebende und bedachte Brunetti hingegen kommt zum ersten Mal richtig in Wallung: Er brüllt, er ist wütend, er kocht - nicht nur der grausamen Brutalität wegen, sondern auch weil zum ersten Mal seine Tochter, als Mini-Detektivin und mögliche Kronzeugin, mit in den Fall verwickelt ist. Ein Fall ohne Lösung.
Die Drahtzieher sind zwar bekannt, doch die Täter arbeiten so raffiniert im Schatten des Geflechtes aus Korruption und eigensüchtigen Interessen, daß der mit viel gesundem Menschenverstand ausgerüstete Brunetti keinen vollen Erfolg verbuchen kann - auch wenn seine Autorin ihm das, "von ganzem Herzen" wünscht: "Niemand wird je richtig bestraft, verurteilt und ins Gefängnis gesteckt in meinen Büchern. Irgendwas oder -wer kommt immer dazwischen und nimmt Brunetti das aus den Händen. Armer Kerl! Ich wollte nicht, daß er ständig frustriert ist. Ich mag ihn nämlich sehr. Einmal wünsche ich ihm einen Riesenerfolg, wo er alle fängt und hinter Gitter bringt. Das würde ihn doch bestätigen."
Statt Bestätigung steht am Ende meist ein hilfloser Brunetti, dem die Ermittlungen entglitten sind. Bestätigung erfährt der Kommissar aber immerhin als treuer Ehemann von seiner Frau, der Literaturprofessorin Paola - die übrigens in ihrer naseweißen, sozialistisch angehauchten Art und Weise der Autorin verdächtig ähnelt -, Bestätigung aber auch als Familienvater von zwei pubertierenden Kindern, die Brunetti so manches mal nur ratlos den Kopf schütteln lassen. Und wenn die Familie nicht über die ausweglosen Fälle hinwegtrösten kann, gibt er sich anderen Freuden des Lebens hin: dem venezianischen Essen und dem Trinken eines guten italienischen Weines oder Grappas. Dieser Kommissar ist eher ein Mann des Verstandes und nicht der spektakulären Tat. Donna Leon bedient sich lieber eines sarkastisch-ironischen Tonfalls, wenn es gilt in vertrackten Situationen Spitzen gegen den Staat abzuschießen oder die mit Obrigkeitshörigkeit gepaarte Dummheit von Brunettis Vorgesetzten zu geißeln. Die Autorin versteht es ausgezeichnet, alles und jeden, aber vor allem den italienischen Staat, auf die Schippe zu nehmen. Leider wird auch immer mehr deutlich: Für Leon diktieren Gesellschaftskritik und politische Korrektheit den Verlauf ihrer Krimis.
Donna Leon dazu: "Ich glaube die Gesellschaftskritik kommt daher, daß das Leben in Italien sehr viel mehr von Politik beeinflußt wird als das in Amerika. Vielleicht kommt das daher, daß was in Italien legal ist, oft nicht richtig ist. Und was illegal ist, ist nicht unbedingt falsch. Ich glaube, das ist auch Brunettis Problem, daß es zwar eigentlich sein Job ist, nach dem Rechten zu sehen, aber weil er so clever und empfindsam und vor allem anständig ist, sieht er, daß oftmals das, was richtig ist, nicht unbedingt auch legal ist."
Leons Bücher spiegeln den Balanceakt zwischen Recht und Unrecht wider. In aggressivem Tonfall prangert sie in all ihren Büchern gesellschaftliche Doppelmoral an. Ihre Kritik an der korrupten Regierung findet sich in allen Krimis. Dieses Mal laufen die Fäden der Drahtzieher beim Justizminister zusammen. Die Dinge, die geschehen, sind erschreckend und die Täter skrupellos. Auch wenn all dies an einem Ort geschieht, wo, laut Brunetti, "eigentlich keine Morde passieren". Wo höchstens Diebstahl und Einbruch zum Polizeitalltag gehören.
Dennoch, Leon legt Wert auf einen Bezug zu: aktueller Umweltproblematik, Kulturpolitik oder Frauenrechten. Gefordert ist der etwas anspruchsvollere, kultur-interessierte Krimi-Leser. Am liebsten würde Leon ausschließlich über ihre Passion, die Oper, schreiben - so entstand auch, eher zufällig, der erste Brunetti-Fall in der Oper: "Die Brunetti Geschichte fing aus Jux an", erzählt Donna Leon. "Ein Freund, der Dirigent ist, sagte im Fenice Theater, wie schrecklich er den Dirigenten der Aufführung fand. Und da er Sizilianer ist, sagte er :‘Ich könnte den umbringen’. Seiner Frau, die ebenfalls aus Sizilien stammt, fiel ein: ‘Ja wie sollen wir ihn umbringen?’. Und da ich in Italien lebe, machte ich mit. Also planten wir an dem Abend im Theater einen Mord, und als ich nach Hause kam, begann ich das erste Buch zu schreiben. Ich dachte nicht im Traum daran, es zu veröffentlichen oder gar eine Serie daraus zu mache."
Mittlerweile sind die Brunetti Bücher in Serienproduktion, Fall eins bereits in Japan verfilmt und die Filmrechte in Deutschland verkauft. Das deutsche Publikum, bei dem Brunetti wohl nicht zuletzt wegen der gelungenen Übersetzungen von Monika Elwenspoek am besten ankommt, kann sich also auf eine neue Fernsehreihe mit wunderschönem italienischem Flair freuen. Unterdessen schreibt Donna Leon an ihrem Fall. Brunetti hat ihr Leben verändert: "Ich bin ziemlich kriminell geworden - gedanklich. Ich gehe in keine Bank mehr, ohne daß ich mir ausmale, wie ich sie überfallen könnte, und ich beobachte auch keine Kinder mehr, ohne mir zu überlegen, wie man sie kidnappen könnte. Schlimm. Aber im Grunde plane ich ständig zukünftige Verbrechen. Wen bringe ich heute um?"
Wer wird wohl der nächste sein, der dran glauben muß? Fest steht jedenfalls, daß es wohl noch so einige sein werden. Übrigens: im nächsten Buch Aqua Alta, da geht es um Kunstdiebstahl und die Opernsängerin Flavia aus Fall eins taucht auch wieder auf.