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Verbissener Kampf um privates Lebensglück

Maja Abramowna ununterbrochener Kampf um materiellen Aufstieg und ein besseres Leben ist die Rahmenhandlung dieses Romans, der immer wieder auch die historischen Gegebenheiten für Juden in der Sowjetunion der 40er- bis 70er-Jahre thematisiert.

Von Karla Hielscher | 16.08.2012
    Dieser Roman eröffnet dem Leser eine unbekannte, vergessene Welt: die Lebenswelt der ukrainischen Juden in der Sowjetunion der 40er- bis 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts.

    Es geht um jene Generation, die in ihrer Kindheit im Zweiten Weltkrieg die Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung durch die Deutschen überlebt hat. Und die in der schwierigen Nachkriegszeit während der Kampagne gegen den sogenannten "Kosmopolitismus" einem zuletzt ganz offenen staatlichen Antisemitismus ausgesetzt war. Durch Stalins Tod 1953 wurde zwar die geplante Deportation abgewendet und die in einem wahnwitzigen Prozess als "Mörder in weißen Kitteln" beschuldigten jüdischen Ärzte wurden entlastet, aber die erzwungene Assimilation und Russifizierung der Juden bei gleichzeitiger Diskriminierung, etwa beim Zugang zu den Hochschulen, ging weiter.

    Der Stoff dieses Romans ist auch für den russischen Leser literarisches Neuland, denn Themen wie Holocaust und russischer Antisemitismus waren zu Sowjetzeiten tabu und sind auch nach der Ausreise von hunderttausenden Juden aus Russland in der russischen Literatur kaum thematisiert worden.

    Margarita Chemlin, Jahrgang 1960, schildert in ihrer mehrfach preisgekrönten Prosa wie auch in diesem Roman immer wieder jüdische Schicksale aus der Generation ihrer Eltern. Auch in "Die Stille um Maja Abramowna" geht es um die unspektakuläre Lebensgeschichte einer einfachen sowjetischen Frau, in deren Pass unter Punkt 5 als Nationalität "Jüdin" eingetragen ist.

    Maja Abramowna, 1930 im ehemaligen jüdischen Stetl Ostjor geboren, hat – wie alle in ihrer Generation - "mehr gesehen, als guttut". Während der Evakuierung in Kasachstan erfahren sie und ihre Mutter, dass in ihrem Heimatort alle Juden in einer Schlucht oberhalb der Desna erschossen worden sind.

    Nach dem Krieg absolviert sie in Kiew ein Abendstudium am Pädagogischen Institut. Als äußerst attraktive Frau kämpft die völlig unpolitische junge Frau unter den bedrückenden politischen und sozialen Bedingungen verbissen um ihr privates Lebensglück. In drei aufeinanderfolgenden Ehen, bei denen die Wohnungsfrage jeweils eine nicht unerhebliche Rolle spielt und in denen zwei Kinder geboren werden, versucht sie, Sicherheit, Wohlstand und Ruhe zu finden. All ihre Anstrengungen aber sind vergeblich. Alle Menschen ziehen sich vor ihr zurück und sie endet in Einsamkeit und Verbitterung.

    Der ganz besondere Reiz, ja das Einzigartige, an diesem Buch ist die Art und Weise des literarischen Verfahrens, mit dem die Autorin diesen Familienroman gestaltet hat. Maja Abramowna selbst nämlich ist die Ich-Erzählerin, die in einer Art monologischer Beichte von ihrem ununterbrochenen Kampf um materiellen Aufstieg und ein besseres Leben erzählt.

    Alles Geschehen - ihre komplizierten Beziehungen zur Mutter, zu ihren Männern und den beiden Kindern Mischenka und Ellotschka - wird also allein aus ihrer subjektiv beschränkten Perspektive dargestellt und es wird schnell deutlich, dass sie keine Person ist, mit der sich der Leser identifizieren kann.

    Maja Abramowna ist eine lebenshungrige, aber hartherzige, egoistische und rechthaberische Frau, die ihr Leben absolut berechnend organisiert und dafür auch die nahen Menschen, von denen sie selbst meint, dass sie sie liebt, voller Anmaßung beherrscht, bevormundet und ausnützt. Obwohl sie eine engstirnige Hausfrau ist, die kaum in ihrem Beruf gearbeitet hat, hält sie sich "als Pädagogin" für kompetent und unfehlbar und sucht in allen Konflikten die Schuld bei anderen. Im russischen Titel des Romans "Klotzwog", dem seltsam sperrigen Mädchennamen der Heldin, ist die Härte und seelische Taubheit dieser Frau schon angedeutet.

    Maja Abramowna sieht in ihrem Judentum die Ursache aller Unannehmlichkeiten. Ihrem Sohn Mischenka, der im warmherzigen jüdischen Milieu bei ihrer Mutter in Ostjor aufgewachsen ist und seine Großeltern "Mamele" und "Tatele" nennt, verbietet sie, jiddisch zu sprechen. Von ihren im Kiewer Stadtteil Podol lebenden jüdischen Verwandten will sie nichts wissen. Und ihren Sohn lässt sie von ihrem zweiten Mann – weil er dadurch zum "Ukrainer" wird – adoptieren.

    Es ist die Kunst der Andeutung, die diesen Roman so spannend und dicht macht und bei der Lektüre höchste Aufmerksamkeit und aktives Mitdenken fordert. Der Leser muss die selbstgefällige Darstellung Maja Abramownas und die boshaften Urteile über ihre Mitmenschen mit kritischer Distanz aufnehmen und sich ein eigenes Bild vom Geschehen machen.

    Vor allem auch muss er den immer nur angedeuteten historischen Hintergrund mit im Blick haben. Denn fast alle Personen haben furchtbare seelische Wunden und Narben: Majas erster Mann Fima hat während der deutschen Besatzung seine Frau und die Kinder verloren, wird darüber zum Alkoholiker und schließlich wahnsinnig. Die Eltern und Großeltern vom Uhrmacher Marik Fajnman, Majas drittem Ehemann, sind in der Synagoge von den Deutschen verbrannt worden. Und erst bei einem Streit mit ihr nach vielen Jahren Ehe bricht diese tief vergrabene Erinnerung aus ihm heraus. Und auch Maja ist in all ihrer bösartigen Selbstgerechtigkeit, mit der sie ihre Familienangehörigen kaputt macht, von ständiger Angst und innerer Unruhe getrieben.

    Zu ihrem Alltag in der Sowjetunion der 50er-Jahre gehört es, dass die schwangere Maja, die befürchtet, dass ihre Lügen über den Vater des Kindes auffliegen, sich manchmal wünscht, die angedrohte Deportation möge bald stattfinden, noch vor der Geburt des Kindes. Oder dass Mischa aus der Schule kommt und fragt: "Mama, bist du ein Judenweib?"

    Und ganz beiläufig scheint im Bericht Majas über ihre ganz privaten Verwicklungen häufig das Grauen auf: "In Babij Jar liegen massenhaft Mischlinge" ist das Argument der Ehefrau von Majas erster großer Liebe, mit dem sie ihre Nebenbuhlerin, die von ihrem Mann ein Kind erwartet, in ihre Schranken weist.

    Eine ganz besondere Rolle spielt in der literarischen Konstruktion des Romans die Sprache, die Maja Abramowna spricht. Es ist die stilisierte gesprochene Sprache einer halbgebildeten Sowjetfrau, hölzern und voller Sprachklischees oder Fremdwörter, die sie für ein Zeichen von Bildung hält. Da spricht sie von "sanitären Einrichtungen" oder der "zukünftigen Nationalität" ihres Sohnes, Mischa gehorcht ihr "durch seine Akustik", sie selbst liest die "maßgeblichen Publikationen", hat "Probleme mit der nationalen Frage" und so weiter.

    Trotzdem ist es auf eigenartige, auch befremdliche Art manchmal berührend, wenn sie in dieser Sprache ihre Liebe, ihren Hass oder ihre Verzweiflung ausdrückt.

    Noch dazu ist die Rede Majas, die selbst so großen Wert auf ein korrektes Russisch legt, durchsetzt von Einflüssen des Ukrainischen und Jiddischen, ein Sprachphänomen, das auch in der guten Übersetzung von Olga Radetzkaja eine schlechterdings unlösbare Aufgabe bleibt.

    In dem Roman "Die Stille um Maja Abramowna" weitet sich die realistische Geschichte einer einfachen jüdisch-ukrainischen Familie – durch die Fülle an zeittypischen Details und die unaufdringlichen Hinweise auf die politische Situation – zum bewegenden Bild einer unheilvollen historischen Epoche.

    Buchinfos:
    Margarita Chemlin: Die Stille um Maja Abramowna. Roman. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 301 Seiten