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Verbotsverfahren
Freispruch für NPD wäre fatales Signal an AfD und Pegida

Die Diskussion um ein Verbot der NPD ist so alt wie die 1964 gegründete Partei. Derzeit bemüht sich der Bundesrat erneut um ein Verbot, nachdem er 2003 - damals noch zusammen mit der Bundesregierung - gescheitert ist. Ist die NPD eine wirklich verfassungswidrige Partei? - Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts macht es den Klägern und ihrem Antrag nicht leicht. Eine Beschreibung der drei Prozesstage.

Von Claus Leggewie und Horst Meier | 18.09.2016
    Wahlplakate der Parteien AfD und NPD (von oben nach unten) hängen am 30.08.2016 in Berlin an einem Laternenpfahl.
    Peter Müller (l-r), Präsident Andreas Voßkuhle, Herbert Landau, Monika Hermanns und Doris König vom Senat des Bundesverfassungsgerichts bei der Fortsetzung der mündlichen Verhandlung über ein Verbot der rechtsextremen NPD (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Zweiter Prozesstag, Mittwoch, 2. März 2016, Schlag 10 Uhr: das Bundesverfassungsgericht, Einzug der farbenprächtigen roten Roben. "Bitte nehmen Sie Platz-" Aufruf des Aktenzeichens, Feststellung der Anwesenheit. Dann unvermittelt der entscheidende, geradezu geflüsterte Satz des Vorsitzenden:
    "Der Senat ist zu der vorläufigen Einschätzung gelangt, dass zur Zeit kein Verfahrenshindernis vorliegt. Wir treten damit in die Verhandlung zur Sache ein."
    Rechtsanwalt Richter macht nicht einmal Anstalten, einen förmlichen Beschluss zu erzwingen. Dafür darf der NPD-Anwalt nun wieder lang und breit seine Rechtsansichten vortragen: "Herr Präsident, hoher Senat, verehrte Verfahrensbeteiligte." Wie ein Musterschüler ergeht er sich in Mutmaßungen über das Verfassungsrecht. Zum Beispiel mit seiner bizarren These, die Parteiverbotsnorm des Grundgesetzes sei eigentlich kein geltendes Recht.
    Dann geht es wirklich zur Sache. Professor Christoph Möllers, Prozessvertreter des Bundesrats, trägt die Kernthesen des Verbotsantrags vor: Parteien müssen verfassungstreu sein und riskieren bereits wegen menschenfeindlicher Ziele ihr Verbot. Präventiver Verfassungsschutz kann gar nicht früh genug eingreifen, sei die Partei auch noch so klein. Daher kommt es weder auf Einfluss und Gefahr noch auf Verhältnismäßigkeit an; einschüchternde Agitation und Dominanzstreben genügen. Richter Müller konfrontiert Möllers mit seiner Vergangenheit:
    "Sie haben 2008 etwas geschrieben, das ich Ihnen vorlesen möchte: Parteiverbote helfen der Demokratie nicht. Eine antidemokratische Partei, die die Unterstützung eines nennenswerten Teils der Bevölkerung gewonnen hat, muss man demokratisch bekämpfen, nicht mithilfe eines Gerichts. Ein gerichtliches Verbot bestätigt genau den Verdacht gegen die Demokratie, der den Erfolg jeder extremistischen Partei begründet: Nicht mehr offen für Anliegen der Leute zu sein, sondern sich gegenüber diesen zu verselbstständigen. Mit einem Gerichtsverfahren gibt die demokratische Politik die demokratische Konfrontation auf und leitet ihre Verantwortung einfach weiter. Auch in diesem Fall herrscht das falsche Bedürfnis, die Gegner der Demokratie aus dem öffentlichen Sichtfeld zu verbannen. Nur das Gegenteil kann das Problem lösen."
    Richter Müller lässt das Zitat einen Augenblick nachklingen, dann will er wissen: "Wie verträgt sich das mit Ihrem Antrag?"
    Professor Möllers, zögernd, in die gespannte Stille hinein, wie zu sich selbst:
    "Das ist im Wagenbach Verlag erschienen."
    Gleich am Anfang eine Schlappe für die Kläger
    Heiterkeit im Saal. Dann bekennt Möllers, leise und verhaspelt, seine "biografische Kehre", angestoßen durch ernste Gespräche, die er über die besorgniserregenden Zustände in Mecklenburg-Vorpommern geführt habe. Zu spät! All das verfängt nicht mehr; der Auftritt geht daneben. Möllers hantiert mit dem schillernden Begriff "handlungsleitende Äußerungen". Der Senat hakt nach, etwa Richter Huber:
    "Müssen wir nicht, ähnlich wie im Atomrecht, ein Restrisiko hinnehmen? Gilt nicht auch für Parteiaktivitäten eine Art Bagatellgrenze? Oder wollen wir etwa das Grundrauschen der Demokratie verlassen?"
    Präsident Voßkuhle wendet ein:
    "Kommt es nicht auf die Möglichkeit des Erfolges an?"
    Richter Müller bohrt weiter:
    "Und der Selbstwiderspruch, dass Demokratie durch ein Verbot teilweise unterbunden wird, muss der nicht auf die Interpretation durchschlagen? Sodass es schon ziemlich dick kommen muss?"
    Da schaltet sich noch Richter Landau ein:
    "Wir sind am entscheidenden Punkt: Geht es um ein konkretes oder ein abstraktes Gefährdungsdelikt? Muss ein Schaden wirklich greifbar drohen oder reicht es schon, wenn ein Schadenseintritt nach allgemeiner Erfahrung zu erwarten ist?"
    Möllers bemerkt, er kenne sich im Strafrecht nicht so gut aus. Eine harmlose Floskel, doch Richter Landau, seines Zeichens Strafrechtler, reagiert sichtlich gereizt. Dann für Augenblicke Situationskomik:
    - Landau: "Wir kommen da nicht weiter, das können Sie vielleicht noch nachtragen in Ihrer bunten Art."
    - Möllers (an seinem Maßanzug herunterblickend): "Ich trage blau."
    - Präsident Voßkuhle: "Herr Landau, Herr Landau!"
    - Landau: "Ist gut, ich nehme meine Formulierung zurück."
    "Mit Blick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof", erklärt Richterin König, "muss ein Eingriff verhältnismäßig sein. Wie wollen Sie um diese Klippe herumkommen ohne gewisse Anhaltspunkte für eine potenzielle Verwirklichung?"
    Und Richterin Hermanns ergänzt:
    "Sie sprechen von 'handlungsleitendem Potenzial' politischer Äußerungen. Woran machen Sie das fest?"
    Möllers nennt Demonstrationen gegen Flüchtlingsheime, das Anheizen der Stimmung. Wobei NPD-Leute kräftig mitmischen - "immer an der Schwelle zur Gewalt, ohne gewalttätig zu sein" -, was auch unterhalb einer Nötigung "unangenehm und bedrohlich" sein kann.
    "Aber landen wir dann nicht doch beim Gesinnungsdelikt?", will Präsident Voßkuhle wissen: "Zählen provozierende Inhalte nicht zu den wechselseitigen Zumutungen? Ist das nicht gerade das Salz in der Suppe der Demokratie?"
    Aufgefordert, in puncto fremdenfeindliche Demonstrationen nachzuliefern, beruft sich der Bundesrat etwa auf den Fall Tröglitz. Dort war im Frühjahr 2015 der Ortsbürgermeister zurückgetreten, weil die NPD vor seinem Privathaus eine Protestkundgebung durchführen wollte. Auch damit macht Möllers keinen Punkt. Richter Müller kommt auf sein früheres "befangenheitsgeneigtes Leben", wie er ironisch formuliert, zu sprechen:
    "Ich war Ministerpräsident, als im Saarland das Sterben des Steinkohlebergbaus politisch durchgestanden werden musste. Und erinnere mich lebhaft an die Wochen, da hunderte empörte Bergleute vor meinem Haus demonstrierten. Das war nicht gerade angenehm, vor allem für meine Familie und meine Nachbarn. Aber meinen Sie nicht, dass ein demokratischer Politiker solche Zumutungen aushalten muss?"
    Präsident Voßkuhle, um einen wohltemperierten Prozess bemüht: "Vielleicht noch zwei Fragen, dann kann sich Herr Möllers erst mal erholen."
    Richter Huber meldet ein "kleines Störgefühl" an: "Wenn anstößige Ziele als solche ausreichen, dann hat die Partei einen kleineren Aktionsradius. Und am Ende geht es doch um Gesinnungen."
    Richter Landau meldet ein "großes Störgefühl" an: "Wird nicht durch ein zu frühes Parteiverbot die politische Willensbildung verkürzt?"
    Ein anderer Vorwurf lautet, die NPD-Ideologie sei teilweise "mit dem historischen Nationalsozialismus wesensverwandt". Der Bundesrat stützt sich auf zwei Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, das mehrere tausend Zitate auswertete. Professor Christian Waldhoff erklärt:
    "Mit dem Nationalsozialismus wesensverwandte Ziele sind als solche schon Ausdruck einer aggressiv-kämpferischen Haltung. Sie untergraben die Grundordnung und sind für die Partei unmittelbar handlungsleitend."
    - Richter Müller: "Reichen sie oder reichen sie nicht für ein: Darauf ausgehen?"
    - Professor Waldhoff: "Wesensverwandte Ziele reichen, mindestens als Indikator, für eine aggressiv-kämpferische Haltung."
    - Müller: "Wieso reicht NS-Gesinnung?"
    - Waldhoff: "Weil die Partei ihrer inneren Dynamik nach handeln muss."
    - Müller: "Und das reicht, ohne Rücksicht auf jede Erfolgswahrscheinlichkeit? Sie würden also den Verbotsartikel so lesen: Mit dem NS wesensverwandte Parteien sind verfassungswidrig?"
    - Waldhoff: "Ja."
    - Müller: "Aber der Wortlaut ist anders!" Dann, laut nachdenkend: "Man könnte auch auf die Idee kommen, die Frage der Wesensverwandtschaft auf die 'freiheitliche demokratische Grundordnung' zu beziehen - die Ordnung also, mit der solche Ziele offenkundig unvereinbar sind."
    Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte
    Das hört sich nicht danach an, als wolle der Zweite Senat aus dem Argument der Wesensverwandtschaft ein Sonderrecht gegen neonazistische Parteien schmieden. Doch gerade darauf setzen die Verbotsbetreiber - auf eine Analogie zum Wunsiedelbeschluss des Ersten Senats, der 2009 Sonderrecht gegen neonazistische Meinungen erfunden hatte, um die Verbote der im fränkischen Wunsiedel stattfindenden Gedenkmärsche für Rudolf Hess, den "Stellvertreter des Führers", rechtfertigen zu können. Später erklärt Präsident Voßkuhle:
    "Der Senat misst beiden Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte keine große Bedeutung bei."
    Gedankengut, vorzugsweise verfassungsfeindliches, wird hierzulande gern als Verbotsargument angeführt. 1948 schrieb der amerikanische Philosoph Alexander Meiklejohn:
    "Vor Ideen Angst zu haben, was immer sie aussagen mögen, heißt, zur Selbstregierung unfähig sein."
    Gegen 13:45 Uhr ist Mittagspause. Unten vor dem Saalanbau spannen die persönlichen Referenten große schwarze Regenschirme auf. Alles eilt zu den Tagesgerichten. Wir rekapitulieren die kritischen Fragen zu den Maßstäben: wie durchdacht, wie präzise. Und haben den Eindruck, dass die Antragsteller, konfrontiert mit diesem Problembewusstsein, nicht wissen, womit sie echte Gefahren belegen könnten.
    Oder, überlegen wir, ist alles doch ganz anders? Fragen die Richter deshalb so munter nach, weil sie, auf ein Verbotsurteil schielend, Durchblick und Souveränität zur Schau stellen wollen? Gegen 15:30 Uhr wird der Prozess fortgesetzt. Der NPD-Anwalt gibt sich servil:
    "Ich habe schon einmal, über Nacht sozusagen und spontan, einige Einwände zusammengestellt. Das habe ich auch auf USB-Stift. Darf ich dem Hohen Senat vielleicht schon mal ..."
    Spricht es und zieht einen prallen Aktenordner aus der Tasche, den er unter großem Gelächter auf die Richterbank wuchtet. Präsident Voßkuhle:
    "Im Protokoll wird jetzt vermerkt: allgemeine Heiterkeit."
    Dann werden die Sachverständigen aufgerufen. Der erste, Eckhard Jesse, Politologe von der TU Chemnitz und Doyen der deutschen Extremismusforschung, schöpft aus 40 Jahren Berufserfahrung:
    "Ich bin ein engagierter Anhänger einer liberalen Spielart der streitbaren Demokratie und als solcher ausdrücklich gegen ein Verbot der NPD. Denn sie stellt für die Demokratie keine Gefahr dar."
    Jesse warnt davor, die vollmundigen Parolen dieser "Zwergpartei" mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Seine Stichworte heißen: Mitgliederschwund, desolate Lage, keine bis abnehmende Kampagnenfähigkeit.
    "Ich fasse meinen Befund zusammen: Eine Partei, die, wenn überhaupt, nur unter massivem Polizeischutz einige Leute auf die Straße bringt, hat nicht die politische Kraft, ein Klima der Angst zu schaffen. Die NPD, organisatorisch entkräftet, finanziell ausgezehrt, ideologisch und strategisch zerstritten, ist ein Winzling, ein Gernegroß. Sie ist isoliert und geächtet. Sie verdient es, weiter dahinzuvegetieren. Es ist nicht angängig, ihre so plumpen wie primitiven Parolen für bare Münze zu nehmen. Dominanzstreben ist nicht Dominanz!"
    Jesse wird im Anschluss an sein Statement intensiv befragt, praktisch von der gesamten Richterbank. So geht es allen Sachverständigen. Der nächste, der Politologe Steffen Kailitz, ein Schüler von Jesse, geht auf Distanz zu seinem Lehrer und malt eine ganz andere NPD an die Wand. Nach dem Motto "Was wäre wenn ...?"
    "Was wäre, wenn die NPD eine Diktatur in Deutschland errichtet hätte und eines Tages in der Lage wäre, die von ihr propagierte Ausländerrückführung zu verwirklichen? Ein monströses Vertreibungsprogramm wäre die Folge. Um es gegen acht bis zehn Millionen Menschen durchzusetzen, wäre letztlich eine gewaltsame Deportation unausweichlich."
    Ja, wenn: Das ist die Methode Science-Fiction, hinlänglich bekannt aus Verfassungsschutzberichten, die sich darin ergehen, sogar Sekten wie die Scientology Church zur Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu stilisieren.
    Nun tritt der dritte Sachverständige, der Politologe Dierk Borstel auf. Ein Gutachten, das er im Auftrag des Bundesrats 2013 erstattete, wird im Verbotsantrag vielfach bemüht. Borstel ist ein exzellenter Kenner der Szene in Mecklenburg-Vorpommern. Er lebte mehrere Jahre in der Nähe von Anklam, heute beobachtet er Neonazis im Ruhrgebiet. Borstel beschreibt die "abgehängten Gebiete", einst durch die Agrarindustrie der DDR geprägt, wo junge Leute in den Westen abwandern und die Dagebliebenen die Versprechen der ungelernten Demokratie an den desolaten Verhältnissen vor Ort messen. Diese sind stark durch vorpolitische Strukturen wie Nachbarschaften, Cliquen und Vereine geprägt ist. In diesem Milieu verzeichnet die NPD begrenzte Erfolge.
    "'Braun gehört für mich zu bunt dazu', hat mir ein Bürger offen gesagt. In dieser politischen Kultur empfinden Demokraten ein Gefühl der Angst und Mutlosigkeit."
    Borstels dichte Beschreibung, so realistisch wie beklemmend, beeindruckt sichtlich. Da steht ein Wissenschaftler, der, biografisch beglaubigt, nüchterne Einblicke in die sagenumwobenen "national befreiten Zonen" eröffnet. Sein Resümee, unprätentiös, fast gehaucht:
    "Vor diesem Hintergrund spreche ich mich nach wie vor gegen ein Verbot der NPD aus. All das Engagement, das man in dieses Unternehmen investiert, habe ich in den letzten Jahren vermisst zur Stärkung der demokratischen Initiativen vor Ort."
    "Kronzeuge" der Kläger ist gegen das Verbot der NPD
    Irritation im Saal über den Kronzeugen des Bundesrats, darauf Richter Müller:
    "Weil doch etliche hier im Saal die Akten nicht kennen, darf ich erklären, Ihr Gutachten geht auf die Antragsteller zurück."
    Betretenes Schweigen bei den Verbotsbetreibern. Zuletzt wird Andrea Röpke aufgerufen, eine engagierte Buchautorin und mutige Journalistin. Im Laufe ihres Vortrags steigert sie sich in atemlose Antifa-Rhetorik. Ihre Geschichten, in Ablauf und Bedeutung für das Verfahren oft nicht konkret nachzuvollziehen, ergeben in der Summe eine ungute Mischung aus gereizter Empörung und Alarmismus. Einmal, während Röpke sich nach rechts gewandt mit einem "alten Bekannten", einem NPD-Funktionär anlegt, weist Voßkuhle sie zurecht:
    "Unterlassen Sie die Metakommunkation!"
    Es bleibt die einzig scharfe Bemerkung eines Vorsitzenden, der diesen Prozess auf unnachahmlich sanfte Weise leitet. Unterdessen sucht Richter Huber sicheren Grund:
    "Wir müssen auch mal über Zahlen reden. Der Ring Nationaler Frauen hat bundesweit 100, die Jungen Nationaldemokraten 300 bis 350 und die NPD an die 5.000 Mitglieder. Schwer vorzustellen, wie man mit so bescheidenen Größen die ganze Republik aufmischen kann."
    Nach vier Sachverständigen steht es abends 2:2 unentschieden. Doch die langen Gesichter auf den Bänken der Antragsteller künden davon, dass der Prozess gekippt sein könnte. Die Gutachter Borstel und Jesse markieren den Wendepunkt. Soweit wir unserer Wahrnehmung trauen dürfen, ist die Partei als das sichtbar geworden, was sie bundesweit ist: eine isolierte Splittergruppe. Misst man dieses schwindsüchtige Gebilde an den vormittags zu erkennenden anspruchsvollen Maßstäben, so kann daraus eigentlich nur die Abweisung des Verbotsantrags folgen. Eigentlich.
    Während wir den Senat gestern noch für gespalten ansahen, fragen wir uns am Abend des zweiten Tages, wer von den acht überhaupt ein Verbotsurteil unterschreiben würde. Und, wie bitte schön, sollten die dafür notwendigen sechs Stimmen zusammenkommen? Praktische Vernunft muss und wird den Antrag spätestens mangels Verhältnismäßigkeit scheitern lassen. Doch Prozessbeobachter tun gut daran, sich in Demut zu üben. Wie einen Prozess nüchtern einschätzen, der niemanden kalt lässt?
    Dritter Prozesstag: Einschätzung des NPD-Gedankenguts
    Dritter Prozesstag. Donnerstag, 3. März 2016, wieder Schlag 10 Uhr. Einzug der scharlachroten Roben. "Bitte setzen Sie sich!" Was folgt, ist kaum mehr als ein Nachgeplänkel. Die Verhandlungsgliederung spricht in guter Juristenmanier von Subsumtion. In der Subsumtion begegnen sich Norm und Wirklichkeit, werden systematisch aufeinander bezogen - und am Ende ist der Fall schön handlich, also entscheidungsreif. Der letzte Tag steht ganz im Zeichen der Frage des Vorsitzenden: "Wie ist das Gedankengut der NPD einzuschätzen und welche Folgen ergeben sich daraus?"
    Zunächst haben die Innenminister von Bayern und Mecklenburg-Vorpommern, Hermann und Caffier, einen peinlichen Auftritt. Sie beschwören die Gefahren, die vom Treiben der NPD ausgehen und beteuern, zum Verbot gebe es keine Alternative: "Ultima ratio" - Richter Müller hält beiden Ministern ungerührt Formulierungen aus ihren neuesten Verfassungsschutzberichten vor:
    "'Niedergang', 'nahezu keine Aktivitäten feststellbar', 'desolater Zustand', 'weder willens noch in der Lage'. Das kontrastiert doch irgendwie mit einer 'Atmosphäre der Angst'."
    Die Innenminister werden kleinlaut und bestehen tapfer darauf, dass die NPD in ihrem Bundesland irgendwie existiert, jedenfalls "erkennbar" ist. Sie winden sich. Richter Müller wird das alles zu bunt:
    "Hartz-IV-Beratung, Kinderfeste, Unterwanderung von Sportvereinen: Wo ist da die Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung?"
    Viel Raum nimmt an diesem Tag die Frage ein, ob die Volksgemeinschaft der NPD mit der freiheitlichen, demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes vereinbar ist. Sie ist es offenkundig nicht. Der rassistisch motivierte Ausschluss bestimmter Menschen negiert deren Würde und Gleichheit. Das Gericht wird nicht müde, unter anderen Funktionären der NPD den Bundesvorsitzenden Frank Franz zu befragen. Er ist, anders als die meisten anwesenden Parteigenossen, kein Hardliner und will die NPD in Richtung FPÖ modernisieren. Es hagelt Fragen von der Richterbank:
    "Was ist das für eine Volksgemeinschaft? Wer darf ihr angehören? Was erwartet sogenannte 'alkoholisierte Asylneger'?"
    Dann spitzt Präsident Voßkuhle die Sache zu: "Warum kann ein 'Neger' oder 'Asiat' trotz deutschen Passes nicht Deutscher werden?"
    Franz: "Weil er, Herr Präsident, eben kein Biodeutscher ist!"
    Voßkuhle: "Und könnte er Mitglied der Volksgemeinschaft werden?"
    Franz: "Im Prinzip ja, Herr Präsident, nur fühlen sich Ausländer in ihrer Heimat eigentlich am wohlsten."
    Voßkuhle: "Und was heißt 'Ausschluss von den Sozialsystemen'? Sollen die Flüchtlinge verhungern?"
    Franz: "Nein, Herr Präsident, nur in kostengünstigen Lagern wohnen!"
    Die Antworten, mal beredsam, mal stockend, folgen ein und demselben Muster: Verschlagenheit, Wortklauberei, Abwiegeln. Nimmt man die Riege der Parteioberen in den Blick, die da artig in Schlips und Anzug sitzt, kann man sich lebhaft vorstellen, dass der Mut dieser deutschen Männer sich am liebsten an Wehrlosen austobt. Vor jeglicher Staatsmacht, und komme sie noch so sanft wie Präsident Voßkuhle daher, kuschen sie. Mit Fragen zum Konzept dieser Volksgemeinschaft schalten sich praktisch alle Richterinnen und Richter ein. Am Ende platzt Richter Landau der Kragen:
    "Die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube!"
    Präsident Voßkuhle trocken: "Einige Millionen Eingebürgerte, sogenannte Neger und Asiaten - all die sollen doch irgendwie dazugehören? Dann haben Sie ja am Ende eine Volksgemeinschaft, die Sie sich eigentlich gar nicht wünschen!"
    Die Verbotsbefürworter wittern Morgenluft: "Sehen Sie, diese Volksgemeinschaft ist total unvereinbar mit unserer Grundordnung!"
    Nur vergessen sie dabei, dass das Gericht gewisse Ziele durchaus als verfassungswidrig einstufen kann, ohne die Partei automatisch verbieten zu müssen. Im Kontext der vielbesagten "Dominanzansprüche, seien sie räumlich oder ideologisch", stellt Richter Müller eine schlichte Frage:
    "Da Sie im Verbotsantrag davon sprechen. Gibt es in Deutschland 'national befreite Zonen'?"
    - Professor Waldhoff: "Gemeint ist damit ein Dominanzstreben, ein Konzept."
    - Müller: "Ich meine nicht ein Streben, sondern die Realität."
    - Waldhoff: "Also, der Kleinstort Jamel in Mecklenburg-Vorpommern ist so eine Zone."
    - Müller: "Ich habe mir sagen lassen, dort wohnen 30 Erwachsene und 17 Kinder. Dann hätten wir also eine 'national befreite Zone'?"
    - Einwurf Präsident Voßkuhle: "Das letzte gallische Dorf sozusagen!" - Heiterkeit im Saal.
    - Müller: "Und sonst? Vielleicht noch eine?"
    - Waldhoff: "Die Kleinstadt Anklam, wo es Ansätze, entsprechende Bestrebungen gibt."
    - Müller: "Also bleibt es dabei: eine 'national befreite Zone' in ganz Deutschland?"
    - Waldhoff: "Ja."
    In solchen Momenten schweigt Rechtsanwalt Richter. Ein geistig arretierter Parteifunktionär, der versagt, wann immer er sein stärkstes Argument ausspielen müsste: die Schwäche seiner Partei. Auch mit der Liste, die Straftaten von NPD-Funktionären präsentiert, konfrontiert Richter Müller den Vertreter des Bundesrats:
    "Ich habe an die 60 Straftaten gezählt - seit 1991. Und frage mich: Was bedeutet das? Abgesehen von der Unterscheidung zwischen Äußerungsdelikten und Gewalttaten ist mitunter nicht mal ein politischer Hintergrund zu erkennen. Da kann ein Handwerksbetrieb die Löhne nicht bezahlen; ein anderer Streit, am Rande eines Fußballspiels, dreht sich um Besitzansprüche auf eine Freundin. Was sollen wir damit anfangen?"
    300 von 230.000 Kommunalmandaten gehören der NPD
    Waldhoff versucht es so: Die Straftaten in der Summe zeigten eben "das Potenzial" der NPD. Vielfach ist von den "über 300 Kommunalmandaten" der NPD die Rede, einmal hakt Richter Müller nach:
    "Ist das wirklich eine Aktionsbasis? Wie viele kommunale Mandate gibt es eigentlich in Deutschland?" Der Angesprochene schätzt "an die 70.000". Daraufhin Müller, nach einer genüsslichen Pause: "Es sind ungefähr 230.000."
    Am Abend erlebt die sichtlich ermüdete Versammlung noch einen pflichtschuldigen Appell des sächsischen Ministerpräsidenten Tillich, gefolgt von farblosen Schlussvorträgen beider Seiten.
    Donnerstag, 3. März 2016, kurz nach 19 Uhr - Präsident Voßkuhle erklärt: "Die Verhandlung ist damit geschlossen. Ergänzende Stellungnahmen sind binnen sechs Wochen einzureichen."
    Nach und nach erheben sich die Leute von ihren Plätzen, ein wenig benommen. In den Gesichtern allseits Erschöpfung - und die Erleichterung, drei volle Tage, an denen gut sieben Stunden verhandelt wurde, hinter sich zu haben. Oben im Saal schwärmen die Kamerateams noch einmal aus; unten im Foyer flüchtige Wortwechsel über den dritten Tag und wie es jetzt wohl weiter geht.
    - "Nein, zusätzliche Termine wird es nicht geben, die NPD hat doch nichts mehr auf der Pfanne!"
    - "Dann war das also schon der ganze NPD-Prozess?"
    - "Ja, was denken Sie denn?"
    - "Und was kommt dabei heraus?"
    - "Ein Verbotsurteil! Was denn sonst?"
    Davon, dass dieser Prozess für die Verbotsbetreiber denkbar schlecht gelaufen ist, drang erstaunlich wenig an die Öffentlichkeit. Ursula Knapp, "Frankfurter Rundschau", erklärte: "Es wird eng für die NPD."
    Heribert Prantl, in dieser Frage alles andere als linksliberal, blieb sich treu: "Ist die NPD [...] so gefährlich, dass sie verboten werden muss? Es wäre gut, wichtig und richtig, wenn das Gericht mit 'Ja' antwortet."
    Christian Rath von der "taz" bilanzierte: "NPD vor dem Aus."
    Dagegen resümierte Heinrich Wefing, für "Die Zeit" vor Ort: "Im Grunde war das gesamte Verfahren eine [...] Demonstration der Gelassenheit. Der Stärke. Der Unbeirrtheit des Rechtsstaates. Die Frage ist allein, ob die Richter den Mut finden werden, mit dieser Gelassenheit auch ihr Urteil zu formulieren."
    Eingedenk des staatspolitischen Erwartungsdrucks scheint die Verbotslogik zwingend: Der Antrag ist nun einmal gestellt und muss jetzt, Zweifel hin oder her, auch Erfolg haben. Man kann doch den Staat nicht abermals blamieren. Und die NPD ist nun wirklich zu unappetitlich braun für einen Persilschein. Was soll die Öffentlichkeit denken, wenn Karlsruhe gerade jetzt eine rechtsradikale Partei freispricht? Ein fatales Signal an AfD, Pegida und Konsorten!
    Es stimmt, der politische Druck, der auf dem Gericht lastet, ist schwer. Aber was folgt daraus? Dass die Richter und Richterinnen ihm nachgeben? Dass sie sich zu Erfüllungsgehilfen eines miserablen Antrags machen lassen? Man traut ihnen offenbar wenig zu. Warum sollten sie in einer politisch heiklen Frage nicht imstande sein, die eigene Urteilskraft zu schärfen?
    Wir wissen nicht, wie das Karlsruher Orakel sprechen wird. Doch eine gute Frage, heißt es, ist schon die halbe Antwort. Wir haben in diesen Tagen viele gute Fragen gehört: aufdeckende und konfrontierende, insistierende und bohrende. Sollte das hohe Problembewusstsein, das daraus spricht, auch nur halbhohe Hürden errichten, dann bahnt sich für den Bundesrat eine herbe Niederlage an. Kurz und gut: Wenn uns nicht alles täuscht, wird es kein Verbotsurteil geben. Wohl aber eines, das - weit über den armseligen Fall der NPD hinaus - die Parteienfreiheit stärkt und ihre Grenzen reformuliert.
    Der Wettbewerb der Parteien, die Debatte öffentlicher Angelegenheiten soll uneingeschränkt, robust und weit offen sein. Wir brauchen ein konfliktorientiertes Verfassungsverständnis; eines, das, wie der Staatsrechtslehrer Horst Dreier sagt, auf die "Integrationskraft des Dissenses" baut:
    "Dahinter steckt die Vermutung, dass der Konflikt - besser vielleicht noch: der nach bestimmten Regeln und in bestimmten Formen ausgetragene Konflikt - einen starken Integrationsfaktor bilden kann."
    Zu den Kardinaltugenden eines Verfassungsgerichts zählt die wohlbegründete Bereitschaft, herrschende Politik an den Freiheitsrechten von Minderheiten scheitern zu lassen. Wo, wenn nicht in Sachen Parteiverbot, wäre das Verfassungsgericht gehalten, dem Drängen der Mehrheitsparteien das Recht auf Opposition entgegenzuhalten?
    Der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm erklärte vor Jahr und Tag, dass Distanz zur Politik die Voraussetzung ihrer Kontrolle ist:
    "Diejenige Institution, die die Rechtsbindung der Politik durchsetzen soll, darf nicht die Politik in sich wiederholen, sondern muss gerade die systembedingten Defizite des zunehmend professionalisierten Politikbetriebes ausgleichen, indem sie die überparteilich gültigen Prinzipien der Verfassung hochhält. Kein noch so erwünschter Momentsvorteil wäre es wert, dass das Gericht davon abginge."
    Nur zu! Leitplanken für härtere Zeiten kann diese Gesellschaft gut gebrauchen.