Juli 1914 – ein Sommer, wie es keinen mehr gab.
Seidenblau der Himmel durch Tage und Tage, weich und doch nicht schwül die Luft, duftig und warm die Wiesen, dunkel und füllig die Wälder mit ihrem jungen Grün; heute noch, wenn ich das Wort Sommer ausspreche, muss ich unwillkürlich an jene strahlenden Julitage denken, die ich damals in Wien verbrachte.
So erinnerte sich der Schriftsteller Stefan Zweig noch Jahrzehnte später in seinem brasilianischen Exil. Nachdem sich die erste Aufregung über das Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914 gelegt hatte, glaubte kaum jemand mehr daran, dass es zu einem großen militärischen Konflikt kommen würde. Wer es sich leisten konnte, der reiste in die beliebten Badeorte. Doch seit dem 23. Juli, dem Tag des Ultimatums Österreich-Ungarns an Serbien, überstürzten sich die Ereignisse. Am 2. August notierte der Heidelberger Historiker Karl Hampe in sein Tagebuch:
So ist denn heute wirklich der Weltkrieg entbrannt. Dass es mit so reißender Schnelligkeit geschehe, konnte man nicht ahnen.
Über den Beginn des Ersten Weltkriegs haben die Historiker lange gestritten. Unzählige Bücher sind geschrieben worden, in denen die Frage nach der Verantwortung für diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts immer wieder gestellt und neu beantwortet wurde. In der Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik gibt es heute niemand mehr, der die Legende von Deutschlands Unschuld am Ausbruch des Kriegs aufzutischen wagte, wie sie noch die nationalistisch aufgeheizte Debatte um die Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik beherrschte. Dass die Reichsleitung eine Hauptverantwortung nicht nur für die Verschärfung der Spannungen vor 1914, sondern auch für die Auslösung des Krieges trug, das wird seit der Kontroverse um das Buch des Hamburger Historikers Fritz Fischer "Griff nach der Weltmacht" aus dem Jahre 1961 nicht mehr ernsthaft bezweifelt. Umstritten ist jedoch nach wie vor, welche Motive der deutschen Politik in den kritischen Julitagen zugrunde lagen.
Nun, vier Jahre, bevor sich der Kriegsausbruch zum 100. Mal jährt, erscheint ein Buch, das Bewegung in die erstarrten Fronten bringen könnte. Die These des Verfassers, des Historikers Dieter Hoffmann, lautet knapp zusammengefasst: Das Deutsche Reich hat den Ersten Weltkrieg "entfesselt", allerdings nicht, wie Fischer annahm, um sich endlich über die angestrebte Hegemonie in Europa zur Weltmacht aufzuschwingen, sondern im Gegenteil: um einer vermeintlichen Bedrohung seiner Großmachtposition zuvorzukommen. Es hat demnach nicht einen Hegemonialkrieg, sondern einen Präventivkrieg geführt. Diese These ist keineswegs neu. Sie wurde bereits in den 60er-Jahren von Egmont Zechlin und Karl-Dietrich Erdmann diskutiert, freilich nur in Form von Aufsätzen, nicht in einer umfangreichen Monografie. Die präsentiert nun Dieter Hoffmann. Er hat keine neuen Quellen in Archiven aufgespürt, sondern die bereits veröffentlichten, die amtlichen Dokumente ebenso wie die Briefwechsel, Tagebücher und Erinnerungen der Hauptakteure, noch einmal durchgemustert und daraus eine dichte, scheinbar schlüssige Interpretation der deutschen Politik in der Julikrise 1914 abgeleitet.
Hoffmann belegt anhand vieler Zeugnisse, dass die hohen Militärs, allen voran der Chef des Generalstabs, Helmuth von Moltke – ein Neffe des berühmten Vorgängers unter Wilhelm I. – seit Herbst 1912 mit wachsendem Nachdruck auf einen Präventivkrieg drängten.
Je eher desto besser", so lautete das Motto. Das Hauptmotiv war die Furcht vor der wachsenden militärischen Macht Russlands. Besonders beunruhigt zeigten sich die Militärs durch die Nachricht, dass das Zarenreich mithilfe französischer Anleihen einen strategischen Ausbau der Eisenbahnlinien durch seine polnischen Gebiete bis an die deutsche Grenze plane. Das militärische Konzept des deutschen Generalstabs für den Zweifrontenkrieg, der sogenannte Schlieffen-Plan, sah vor, zunächst die französischen Streitkräfte innerhalb von 40 Tagen in einer gewaltigen Zangenbewegung einzukesseln und zu vernichten, um danach alle verfügbaren Kräfte an die Ostfront zu werfen. Wenn Russland aber seine Truppen rascher als erwartet an seine Westgrenze verlegen konnte, drohte der gesamte Feldzugsplan hinfällig zu werden. Dieser Gefahr, so forderte Moltke im Mai 1914, müsse man zuvorkommen.
In zwei bis drei Jahren würde Russland seine Rüstungen beendet haben. Die militärische Übermacht unserer Feinde wäre dann so groß, dass er nicht wüsste, wie wir ihrer Herr werden könnten. Es bliebe seiner Ansicht nach nichts übrig, als einen Präventivkrieg zu führen, um den Gegner zu schlagen, solange wir den Kampf noch einigermaßen bestehen könnten.
Das Attentat von Sarajewo schien eine günstige Gelegenheit zum Losschlagen zu bieten. Dass das Drängen der Militärs die Entscheidungen der Politiker in der Julikrise maßgeblich beeinflusste, hat Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg im Januar 1918, wenige Monate nach seiner Entlassung selbst eingestanden:
Ja, Gott, in gewissem Sinne war es ein Präventivkrieg. Aber wenn der Krieg doch über uns hing, wenn er in zwei Jahren noch viel gefährlicher und unentrinnbarer gekommen wäre und wenn die Militärs sagen, jetzt ist es noch möglich, ohne zu unterliegen, in zwei Jahren nicht mehr. Ja, die Militärs!
Mit diesem Stoßseufzer suchte Bethmann Hollweg allerdings zu verdecken, dass er selbst in der Julikrise höchst energisch, ja gerissen agiert hatte. Hoffmann stellt den Kanzler eher als einen zaudernden, von den Militärs getriebenen Politiker dar und wird damit seiner Rolle nicht gerecht. Treffend charakterisiert findet sich hingegen die ambivalente Position Moltkes, der die verheerenden Folgen eines Krieges für Europa hellsichtig voraussah und dennoch mit aller Macht auf seine Auslösung hinarbeitete.
So erdrückend die Belege sind, die der Autor für seine These ins Feld führt, stellen sich doch einige Fragen. Von einem "Prävenire" im üblichen Sinne kann man nur sprechen, wenn von der Gegenseite eine reale Gefahr droht – eine Situation, die im Juli 1914 nachweislich nicht gegeben war. Und es gibt, wie auch Hoffmann einräumen muss, keine Anhaltspunkte dafür, dass die Ententemächte für 1916/17 einen Angriffskrieg planten. Tatsächlich waren Deutschland und Österreich-Ungarn viel weniger bedroht, als es die Militärs mit ihren Schreckensszenarien an die Wand malten. Und das wirft die weitere Frage auf, ob sich hinter der defensiven Motivation nicht doch auch offensive Ziele verbargen. Hoffmann selbst betont an einer Stelle, dass es sich bei dem geforderten Präventivkrieg um einen "verdeckten Angriffskrieg" gehandelt habe.
Dahinter verbarg sich die Aggressivität der Militärs, die Frankreichs und Russlands Macht brechen wollten, was mit einer Vorherrschaft des Deutschen Reiches auf dem europäischen Kontinent gleichzusetzen war.
Hier nähert sich der Autor, wie unschwer zu erkennen ist, doch stark der These Fischers vom "Griff nach der Weltmacht" an.
Trotz dieser Einwände handelt es sich um einen bemerkenswerten Forschungsbeitrag. Ob damit, wie der Historiker und Politologe Peter Graf Kielmansegg im Vorwort prophezeit, eine neue Runde in der Debatte um die Entfesselung des Ersten Weltkriegs eingeläutet wird, erscheint eher zweifelhaft. Aber sicher ist, dass das Buch von Dieter Hoffmann in der Flut von Neuerscheinungen, die 2014 zum 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs zu erwarten ist, seinen Platz behaupten wird.
Dieter Hoffmann: Der Sprung ins Dunkle. Oder: Wie der 1. Weltkrieg entfesselt wurde. Das Buch ist bei Militzke erschienen, 368 Seiten gibt´s für 29, 90 Euro, ISBN: 978-3-861898276.
Seidenblau der Himmel durch Tage und Tage, weich und doch nicht schwül die Luft, duftig und warm die Wiesen, dunkel und füllig die Wälder mit ihrem jungen Grün; heute noch, wenn ich das Wort Sommer ausspreche, muss ich unwillkürlich an jene strahlenden Julitage denken, die ich damals in Wien verbrachte.
So erinnerte sich der Schriftsteller Stefan Zweig noch Jahrzehnte später in seinem brasilianischen Exil. Nachdem sich die erste Aufregung über das Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914 gelegt hatte, glaubte kaum jemand mehr daran, dass es zu einem großen militärischen Konflikt kommen würde. Wer es sich leisten konnte, der reiste in die beliebten Badeorte. Doch seit dem 23. Juli, dem Tag des Ultimatums Österreich-Ungarns an Serbien, überstürzten sich die Ereignisse. Am 2. August notierte der Heidelberger Historiker Karl Hampe in sein Tagebuch:
So ist denn heute wirklich der Weltkrieg entbrannt. Dass es mit so reißender Schnelligkeit geschehe, konnte man nicht ahnen.
Über den Beginn des Ersten Weltkriegs haben die Historiker lange gestritten. Unzählige Bücher sind geschrieben worden, in denen die Frage nach der Verantwortung für diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts immer wieder gestellt und neu beantwortet wurde. In der Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik gibt es heute niemand mehr, der die Legende von Deutschlands Unschuld am Ausbruch des Kriegs aufzutischen wagte, wie sie noch die nationalistisch aufgeheizte Debatte um die Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik beherrschte. Dass die Reichsleitung eine Hauptverantwortung nicht nur für die Verschärfung der Spannungen vor 1914, sondern auch für die Auslösung des Krieges trug, das wird seit der Kontroverse um das Buch des Hamburger Historikers Fritz Fischer "Griff nach der Weltmacht" aus dem Jahre 1961 nicht mehr ernsthaft bezweifelt. Umstritten ist jedoch nach wie vor, welche Motive der deutschen Politik in den kritischen Julitagen zugrunde lagen.
Nun, vier Jahre, bevor sich der Kriegsausbruch zum 100. Mal jährt, erscheint ein Buch, das Bewegung in die erstarrten Fronten bringen könnte. Die These des Verfassers, des Historikers Dieter Hoffmann, lautet knapp zusammengefasst: Das Deutsche Reich hat den Ersten Weltkrieg "entfesselt", allerdings nicht, wie Fischer annahm, um sich endlich über die angestrebte Hegemonie in Europa zur Weltmacht aufzuschwingen, sondern im Gegenteil: um einer vermeintlichen Bedrohung seiner Großmachtposition zuvorzukommen. Es hat demnach nicht einen Hegemonialkrieg, sondern einen Präventivkrieg geführt. Diese These ist keineswegs neu. Sie wurde bereits in den 60er-Jahren von Egmont Zechlin und Karl-Dietrich Erdmann diskutiert, freilich nur in Form von Aufsätzen, nicht in einer umfangreichen Monografie. Die präsentiert nun Dieter Hoffmann. Er hat keine neuen Quellen in Archiven aufgespürt, sondern die bereits veröffentlichten, die amtlichen Dokumente ebenso wie die Briefwechsel, Tagebücher und Erinnerungen der Hauptakteure, noch einmal durchgemustert und daraus eine dichte, scheinbar schlüssige Interpretation der deutschen Politik in der Julikrise 1914 abgeleitet.
Hoffmann belegt anhand vieler Zeugnisse, dass die hohen Militärs, allen voran der Chef des Generalstabs, Helmuth von Moltke – ein Neffe des berühmten Vorgängers unter Wilhelm I. – seit Herbst 1912 mit wachsendem Nachdruck auf einen Präventivkrieg drängten.
Je eher desto besser", so lautete das Motto. Das Hauptmotiv war die Furcht vor der wachsenden militärischen Macht Russlands. Besonders beunruhigt zeigten sich die Militärs durch die Nachricht, dass das Zarenreich mithilfe französischer Anleihen einen strategischen Ausbau der Eisenbahnlinien durch seine polnischen Gebiete bis an die deutsche Grenze plane. Das militärische Konzept des deutschen Generalstabs für den Zweifrontenkrieg, der sogenannte Schlieffen-Plan, sah vor, zunächst die französischen Streitkräfte innerhalb von 40 Tagen in einer gewaltigen Zangenbewegung einzukesseln und zu vernichten, um danach alle verfügbaren Kräfte an die Ostfront zu werfen. Wenn Russland aber seine Truppen rascher als erwartet an seine Westgrenze verlegen konnte, drohte der gesamte Feldzugsplan hinfällig zu werden. Dieser Gefahr, so forderte Moltke im Mai 1914, müsse man zuvorkommen.
In zwei bis drei Jahren würde Russland seine Rüstungen beendet haben. Die militärische Übermacht unserer Feinde wäre dann so groß, dass er nicht wüsste, wie wir ihrer Herr werden könnten. Es bliebe seiner Ansicht nach nichts übrig, als einen Präventivkrieg zu führen, um den Gegner zu schlagen, solange wir den Kampf noch einigermaßen bestehen könnten.
Das Attentat von Sarajewo schien eine günstige Gelegenheit zum Losschlagen zu bieten. Dass das Drängen der Militärs die Entscheidungen der Politiker in der Julikrise maßgeblich beeinflusste, hat Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg im Januar 1918, wenige Monate nach seiner Entlassung selbst eingestanden:
Ja, Gott, in gewissem Sinne war es ein Präventivkrieg. Aber wenn der Krieg doch über uns hing, wenn er in zwei Jahren noch viel gefährlicher und unentrinnbarer gekommen wäre und wenn die Militärs sagen, jetzt ist es noch möglich, ohne zu unterliegen, in zwei Jahren nicht mehr. Ja, die Militärs!
Mit diesem Stoßseufzer suchte Bethmann Hollweg allerdings zu verdecken, dass er selbst in der Julikrise höchst energisch, ja gerissen agiert hatte. Hoffmann stellt den Kanzler eher als einen zaudernden, von den Militärs getriebenen Politiker dar und wird damit seiner Rolle nicht gerecht. Treffend charakterisiert findet sich hingegen die ambivalente Position Moltkes, der die verheerenden Folgen eines Krieges für Europa hellsichtig voraussah und dennoch mit aller Macht auf seine Auslösung hinarbeitete.
So erdrückend die Belege sind, die der Autor für seine These ins Feld führt, stellen sich doch einige Fragen. Von einem "Prävenire" im üblichen Sinne kann man nur sprechen, wenn von der Gegenseite eine reale Gefahr droht – eine Situation, die im Juli 1914 nachweislich nicht gegeben war. Und es gibt, wie auch Hoffmann einräumen muss, keine Anhaltspunkte dafür, dass die Ententemächte für 1916/17 einen Angriffskrieg planten. Tatsächlich waren Deutschland und Österreich-Ungarn viel weniger bedroht, als es die Militärs mit ihren Schreckensszenarien an die Wand malten. Und das wirft die weitere Frage auf, ob sich hinter der defensiven Motivation nicht doch auch offensive Ziele verbargen. Hoffmann selbst betont an einer Stelle, dass es sich bei dem geforderten Präventivkrieg um einen "verdeckten Angriffskrieg" gehandelt habe.
Dahinter verbarg sich die Aggressivität der Militärs, die Frankreichs und Russlands Macht brechen wollten, was mit einer Vorherrschaft des Deutschen Reiches auf dem europäischen Kontinent gleichzusetzen war.
Hier nähert sich der Autor, wie unschwer zu erkennen ist, doch stark der These Fischers vom "Griff nach der Weltmacht" an.
Trotz dieser Einwände handelt es sich um einen bemerkenswerten Forschungsbeitrag. Ob damit, wie der Historiker und Politologe Peter Graf Kielmansegg im Vorwort prophezeit, eine neue Runde in der Debatte um die Entfesselung des Ersten Weltkriegs eingeläutet wird, erscheint eher zweifelhaft. Aber sicher ist, dass das Buch von Dieter Hoffmann in der Flut von Neuerscheinungen, die 2014 zum 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs zu erwarten ist, seinen Platz behaupten wird.
Dieter Hoffmann: Der Sprung ins Dunkle. Oder: Wie der 1. Weltkrieg entfesselt wurde. Das Buch ist bei Militzke erschienen, 368 Seiten gibt´s für 29, 90 Euro, ISBN: 978-3-861898276.