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Verheugen: Scheitern der EU-Verfassung führt zu politischer Handlungsunfähigkeit

Verhalten äußert sich EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen zu Fortschritten bei den Verhandlungen zur Verfassung der Europäischen Union. Das Scheitern der Verhandlungen werde die Union in politische Handlungsunfähigkeit stürzen, warnte der Kommissar. Auch die Möglichkeit, dass der Integrationsprozess eines Tages zum Stillstand kommen könnte, will Verheugen nicht ausschließen.

    Limberg: Herr Verheugen, das erste Mal in ihrer Geschichte sind Politiker der EU als EU-Politiker Ziel von Gewalttätern. Brüssel war bisher bei vielen eher Synonym für einen fernen seelenlosen Apparat, aber zieht doch offenbar einen abgrundtiefen Hass auf sich. Die EU ist für manche jedenfalls zum richtigen Feindbild geworden. Haben Sie eine Erklärung dafür?

    Verheugen: Es gibt mehrere Erklärungen dafür, und eine Erklärung ist ganz sicherlich, dass die Europäische Union in den letzten Jahren an politischem und wirtschaftlichem Gewicht gewonnen hat und deshalb notwendigerweise in das Visier des internationalen Terrorismus geraten ist. Und die Europäische Union wird nach meiner Meinung fälschlich auch von radikalen und gewaltbereiten Globalisierungsgegnern wahrgenommen als ein Faktor, der Globalisierung vorantreibt, ohne Rücksicht auf die Folgen für Mensch und Umwelt. Aber ich sage noch einmal: Diese Auffassung ist ja völlig falsch. Aber es war zu erwarten, dass irgendwann die Brüsseler Beschaulichkeit vorbei sein würde, was Sicherheit angeht. Und da sind wir jetzt angekommen.

    Limberg: Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die EU?

    Verheugen Nun, ich glaube, dass unsere Institutionen ein größeres Sicherheitsbewusstsein entwickeln müssen. Daran führt kein Weg vorbei. Ich muss sagen, ich persönlich habe es als außerordentlich angenehm empfunden, dass das manchmal etwas übersteigerte Sicherheitsbedürfnis der nationalen Politik in Brüssel überhaupt nicht existiert und kein Mensch etwas dabei findet, dass ich meinen Weg vom und zum Büro jeden Tag zu Fuß zurücklege. Das wird wohl nicht mehr möglich sein in Zukunft. Es werden Einschränkungen auch der persönlichen Freiheit der Hauptakteure jetzt wohl unvermeidlich sein. Das ist immer die bittere Kehrseite solcher Dinge, und wir werden möglicherweise auch technische Vorkehrungen treffen müssen. Zum Beispiel sind Briefbomben ja etwas, was nicht in erster Linie den politischen Hauptakteur trifft, sondern – in meinem Falle zum Beispiel – nicht ich bin gefährdet, ich öffne keine Post, aber meine Sekretärinnen zum Beispiel. Und da muss man jetzt doch ein lückenloses System schaffen, mit dem sichergestellt wird, dass eingehende Post in jedem Falle untersucht wird. Also solch eine Reihe von technischen Dingen sind sicherlich erforderlich. Aber ich hoffe, dass es uns gelingen wird, trotzdem dieses hohe Maß an – sagen wir – Normalität und Transparenz, das wir in Brüssel haben, weitestgehend aufrecht zu halten.

    Limberg: Herr Verheugen, die EU beginnt das neue Jahr in einer tiefen Krise. Nach dem Scheitern der Verfassung herrscht große Ratlosigkeit. Haben Sie denn selbst in den vergangenen Wochen den Eindruck gewonnen, dass die Beteiligten, an deren Kompromisslosigkeit dieses Projekt erst einmal gescheitert ist, zur Besinnung gekommen sind? Fangen wir mit Polen an, die Polen, die so knallhart auf ihrer Position beharrten. Hat man denn in Warschau Ihnen den Eindruck vermittelt, dass man sich bewusst ist, dass dies nicht gerade ein glänzender Einstieg für ein neues Mitglied war?

    Verheugen Ich kann vielleicht so viel sagen, dass die Situation sich insoweit ein bisschen entspannt hat, als die teilweise sehr schroffe Rhetorik aufgehört hat. Aber in der Substanz sehe ich im Augenblick noch überhaupt keine Bewegung. Ich bin nicht sehr optimistisch im Hinblick auf eine schnelle Annäherung in der Substanz, wenn sie überhaupt möglich sein sollte. Die grundlegenden Faktoren, die zu der Krise geführt haben, sind ja unverändert: Einerseits die innenpolitische Situation in Polen, die es der Regierung fast unmöglich macht, in dieser Frage sich inhaltlich zu bewegen, und auf der anderen Seite die Notwendigkeit, dem Europa der 25 eine Form zu geben, die es sicherstellt, dass wir auch in Zukunft in schwierigen Situationen entscheidungsfähig sein werden und dass diese Entscheidungen eben wenigstens einem Mindestmaß an demokratischen Ansprüchen genügen. Und deshalb ist der Punkt, um den gestritten wird, kein nebensächlicher Punkt. Es ist eine wirklich wichtige Frage. Also, wir werden uns wohl noch mit etwas Geduld wappnen müssen.

    Limberg: Heißt das, dass Sie auch in diesem Jahr nicht mehr damit rechnen, dass man sich verständigt? Der Kanzler hat ja noch mal betont, dass es in der Frage der Stimmengewichtung von Deutschland kein Nachgeben geben kann.

    Verheugen: Ja, darüber habe ich ja gerade gesprochen, dass sich die Positionen der Protagonisten in keiner Weise verändert haben bisher. Ich habe mit Interesse und Sympathie gehört, dass die deutsche Regierung der Auffassung ist – das muss man aber noch sehen –, bis zum Ende des Jahres das Projekt abzuschließen. Das würde ich mir auch wünschen. Ich halte das auch für möglich, aber es gibt im augenblicklichen Zeitpunkt keine Garantie dafür. Mein Rat ist, dass man jetzt erst einmal die irische Präsidentschaft in aller Ruhe arbeiten lässt und den Iren wirklich die Chance gibt, herauszufinden, ob es einen Weg aus dieser Krise gibt. Was ich aus der Sicht der Kommission dazu sagen kann, ist: Wir brauchen diese Verfassung, nicht nur wegen des einen Punktes, der strittig ist. Was mich wirklich umtreibt, ist die Tatsache, dass ein Scheitern dieses Projektes dazu führen würde, dass das erweiterte Europa, das größer werdende Europa, seinen Aufgaben nicht mehr gerecht werden könnte. Denn was für mich fast das Wichtigste war an dem ganzen Verfassungsprojekt, sind die Fortschritte im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, also die Chance, die sich hier geöffnet hätte, Europa endlich auch außen- und sicherheitspolitisch handlungsfähig zu machen. Wenn diese Chance vorbeigeht, das wäre wirklich fatal.

    Limberg: Nach dem Debakel mit der Verfassung gerät ja das Konzept eines Kern-Europa wieder ins Blickfeld – oder das eines Europas mehrerer Geschwindigkeiten. Wie kann denn dieses Kern-Europa aussehen, ohne dass dies das Ende der EU bedeuten würde?

    Verheugen: Es ist vielleicht noch ein bisschen zu früh, schon konkrete Modelle zu entwickeln. Und um Missverständnissen vorzubeugen, sollte man auch immer ganz deutlich sagen: Der bevorzugte Weg der europäischen Integration, sozusagen der Königsweg der europäischen Integration, ist der gemeinsame Fortschritt aller, das gemeinsame Vorgehen aller – auch wenn es ein bisschen langsamer vielleicht geht. Ich würde immer den langsamen Fortschritt aller dem schnellen Fortschritt einiger weniger vorziehen. Die Frage stellt sich: Wird überhaupt Fortschritt noch möglich sein in Zukunft, oder ist eine Situation denkbar, in der der Integrationsprozess zum Stillstand kommt? Und diese Situation ist denkbar, der Meinung bin ich auch. Und darauf muss man sich vorbereiten. Erst dann, wenn wir feststellen, dass ein Europa der 25, 27 oder noch mehr Mitglieder in der Vertiefung der Integration zu einem tatsächlichen Stillstand käme, dann muss man sich mit der Frage befassen, ob innerhalb des Systems, das wir geschaffen haben, ein Gravitationszentrum geschaffen werden kann. Und Gravitationszentrum heißt ja, dass diejenigen angezogen werden sollen, die nicht von Anfang an dabei sind. Also, ich denke mir, dass innerhalb des Vertrages die Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssten, zu einer vertieften Zusammenarbeit zu kommen. Und das muss offen sein für alle, die daran mitwirken können. Schon die jetzige Vertragsgestaltung erlaubt das ja in einigen Bereichen, wenn auch in einigen Bereichen nur teilweise.

    Limberg: Muss man nicht die Frage der Erweiterung nach den Erfahrungen mit der letzten Runde, die im Mai dieses Jahres ja ihren Höhepunkt finden wird, wenn die zehn neuen Mitglieder tatsächlich auch Mitglieder der EU sein werden – muss man nicht die Frage der Erweiterung jetzt ganz neu diskutieren? Muss man sich jetzt nicht wirklich auf die Vertiefung der EU konzentrieren, ohne dass man bereits wieder weiteren Staaten die Mitgliedschaft in der EU verheißt?

    Verheugen: Also, ich warne davor, noch einmal die völlig unfruchtbare Diskussion zu beginnen, was man zuerst machen muss – Vertiefung oder Erweiterung. Es hat sich gezeigt, dass eine solche Diskussion zu nichts führt und dass es wahrscheinlich gar keinen anderen Weg gibt, als die beiden großen Aufgaben gleichzeitig zu verfolgen, nämlich einerseits die politische Geografie Europas friedlich und im Konsens so zu verändern, dass für einen immer größeren Teil des europäischen Kontinents Frieden, Stabilität und Wohlstand gesichert sind. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass das inhaltlich nur möglich ist durch eine fortschreitende Integration, insbesondere im Hinblick auf die neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – nicht nur im wirtschaftlichen Bereich, sondern auch im ökologischen Bereich und im Sicherheitsbereich. Wenn man die Frage konkret betrachtet, wie geht es denn jetzt weiter mit der Erweiterung, so habe ich jedenfalls immer sehr deutlich gesagt, dass man dieser großen Erweiterungsrunde, in der wir uns noch befinden und die erst abgeschlossen sein wird, wenn auch Bulgarien und Rumänien – wahrscheinlich im Jahr 2007 – beigetreten sind, dass dann zunächst einmal wir uns die Zeit nehmen sollten, zu analysieren, wie der Prozess verlaufen ist, zu welchen Ergebnissen er geführt hat, also nicht sofort die nächste große Erweiterungsrunde in Gang setzen. Aber Politik ist nun einmal nicht so, dass diese gedanklichen Modelle so einfach verwirklicht werden könnten. Da ist die Frage der Türkei. Diese Frage muss am Ende diesen Jahres entschieden werden. Die Türkei hat entsprechende Zusagen. Es muss nicht entschieden werden, ob die Türkei beitritt. Das Missverständnis entsteht ja gelegentlich in Deutschland. Es muss entschieden werden, ob Beitrittsverhandlungen beginnen sollen. Und da ist die Frage der Balkanländer, die zumindest mittelfristig eine Beitrittsperspektive haben. Für alle anderen aber sage ich ganz klar: Das Thema Erweiterung, Thema Beitritt, steht nicht auf der Tagesordnung, sondern für alle anderen entwickeln wir ja gerade eine völlig neue Politik, eine Politik der europäischen Nachbarschaft, die engste Zusammenarbeit mit allen unseren Nachbarn im Osten und im Süden – also einschließlich der Mittelmeeranrainer – vorsieht, aber eben nicht die Perspektive der Mitgliedschaft.

    Limberg: Wie hoch schätzen Sie denn die Chancen ein, dass die Kommission am Ende des Jahres der Türkei einen konkreten Termin für Beitrittsverhandlungen nennt?

    Verheugen: Ich hätte noch vor einem Jahr gesagt, dass die Chance gering ist. Inzwischen bin ich zu der Auffassung gekommen, dass wir nicht mehr so ohne weiteres hinweggehen können über die enormen Fortschritte, die die Türkei gemacht hat. In irgendeiner Form werden sich die großen Fortschritte der Türkei in der Entscheidung, die am Ende dieses Jahres zu treffen ist, positiv widerspiegeln müssen. Ich kann heute nicht sagen, wie das geschehen kann. Ich möchte auch keine Voraussage machen über den Inhalt der Empfehlung. Ich kann nur sagen, dass insbesondere seit dem Regierungswechsel in der Türkei das Reformtempo enorm zugenommen hat und eigentlich die Türkei-Politik geradezu ein Lehrbeispiel ist für den Erfolg der These, dass der Gedanke der europäischen Integration friedensstiftend auch heute noch wirken kann. Also, das, was am Anfang des ganzen Prozesses stand, ist auch heute noch wirkungsvoll: Frieden und Stabilität durch Integration. Jeder, der sich an dieser Diskussion beteiligt, gerade auch in Deutschland, darf ja nicht verschweigen, dass die klare und glaubwürdige Perspektive, die wir der Türkei gegeben haben, dazu geführt hat, dass dieses Land sich in den letzten Jahren dramatisch verändert hat. Und ich finde schon, dass in der deutschen Diskussion etwas stärker berücksichtigt werden sollte, dass jeder Sträfling, jeder Häftling, jeder Verdächtige, der in der Türkei nicht mehr gefoltert wird, jeder Verurteilte, der nicht mehr hingerichtet wird, jede Demonstration, die nicht zusammengeknüppelt wird, jede freie Meinungsäußerung, die nicht mehr unterdrückt wird, das haben wir heute täglich, das ist ein Erfolg der Politik der Europäischen Union.

    Limberg: Aber deswegen bleibt ja trotzdem die Frage: Übernimmt sich die EU nicht mit der Aufnahme eines so riesigen Landes – auch mit den enormen Schwierigkeiten, die die Türkei auch dann haben wird, wenn sie den Reformprozess weiterhin beschreitet? Die CDU/CSU meint ja, dass die EU sich übernähme. Sie lehnt deshalb eine Aufnahme der Türkei in die EU ab und will dies auch zum Thema des Wahlkampfes machen.

    Verheugen: Ja, dagegen ist ja nichts einzuwenden, dass eine solche Frage im Wahlkampf diskutiert wird – wo sonst? Das ist eine Frage, die die Bürgerinnen und Bürger angeht. Aber man muss wahrheitsgemäß hinzufügen, dass das in diesem Jahr zu wählende Europäische Parlament in dieser Frage noch keine Entscheidungen zu treffen haben wird. Unter keinen Umständen wird es zu einer Entscheidung über den Beitritt der Türkei noch in diesem Jahrzehnt kommen, unter keinen Umständen. Also, es steht nicht unmittelbar vor der Tür, wenn überhaupt. Und es ist auch gar nichts darüber gesagt worden, wie wir eigentlich die Beitrittsbedingungen für die Türkei definieren wollen, wenn es zur Aufnahme von Verhandlungen käme. Man muss schon auch die Frage stellen, welche Reformen innerhalb der Europäischen Union notwendig sein werden, um – wie Sie völlig richtig gesagt haben – ein Land wie die Türkei überhaupt verkraften zu können. Ich glaube nicht, dass unsere Agrarpolitik so bleiben kann, wie sie ist. Ich glaube auch nicht, dass unsere Strukturpolitik so bleiben kann, wie sie ist. Also unser gesamter Gemeinschaftshaushalt wird sich in seiner Struktur erheblich verändern müssen. Ich glaube auch nicht, dass der institutionelle Rahmen, den wir heute haben, ausreicht. Und vor allen Dingen glaube ich nicht, dass die Europäische Union von heute in der Lage ist, die wachsende außenpolitische Verantwortung, die sich mit einem Mitgliedsland Türkei ergäbe, auf sich zu nehmen. Man muss sich ja vorstellen, was das heißt: Mit der Türkei als Mitglied wäre Europa mittendrin in dem Kreuzungspunkt aller schwierigen Krisengebiete der ganzen Welt. Wir wären nahe am Nahost-Konflikt, wir wäre in unmittelbarer Nähe der Kaukasus-Konflikte, wir wären in unmittelbarer Nähe der zentralasiatischen Probleme. Dazu müssten wir dann eine Politik haben und müssten diese Politik auch umsetzen können. Aus der Sicht von heute kann ich nur sagen: Dazu sind die Europäer heute überhaupt nicht fähig. Das sind alles Dinge, die auf unserer Seite als Voraussetzung noch getan werden müssen, ehe eine solche Entscheidung überhaupt getroffen werden kann.

    Limberg: Herr Verheugen, Sie haben es schon angesprochen – der Haushalt der EU, die Finanzen. Es geht jetzt darum, die mittelfristige Planung für die Jahre 2007 bis 2013 festzulegen. Da haben ja sechs Nettozahler, unter ihnen die Bundesrepublik, einen Brief geschrieben, in dem sie fordern, dass die Ausgaben der EU auf ein Prozent des Brutto-Nationaleinkommens begrenzt bleiben sollen. Dagegen hat es massiven Widerspruch gegeben, auch wegen der Kosten, die natürlich mit der Erweiterung verbunden sind. Wie ist denn da ein Kompromiss möglich?

    Verheugen: Das wird eine sehr, sehr schwierige Auseinandersetzung. Hier kündigt sich ein sehr langwieriger, sehr schwieriger und sehr kontroverser Prozess an. Und mein Rat an die Kommission ist – und meine Position in der Kommission in dieser Frage ist –, dass die Kommission einen Vorschlag machen muss, der sie ins Zentrum der Debatte stellt. Also, ich glaube nicht, dass die Kommission gut beraten wäre, wenn sie einen exzentrischen Vorschlag machen würde . . .

    Limberg: Ist er bis jetzt exzentrisch?

    Verheugen: Nein, wir haben ja noch gar keinen Vorschlag gemacht. Aber es gibt schon auch exzentrische Ideen in Brüssel. Das heißt, die Haushaltsentwicklung des Gemeinschaftshaushaltes muss nicht nur Bedacht nehmen auf den Zuwachs der Aufgaben – das müssen wir natürlich –, man muss auch Bedacht nehmen auf die finanzpolitische Situation und die wirtschaftliche Situation in Europa überhaupt. Und wir können nicht gut von unseren Mitgliedsländern strikte Ausgabendisziplin verlangen und sie uns selber nicht auferlegen. Auf der anderen Seite muss ich aber an die Adresse der Mitgliedsländer, auch an die Adresse derjenigen, die den Brief geschrieben haben, ganz klar eines sagen: Man kann nicht gut ständig neue Aufgaben beschließen, die die Europäische Union erledigen soll – einschließlich der Erweiterung –, dann sagen, aber es darf nicht teurer werden, ohne zu sagen, wie die Prioritäten anders gesetzt werden müssen. Denn wenn wir mit gleichbleibender Finanzmasse mehr Aufgaben erledigen sollen, dann liegt es ja auf der Hand, dass wir einsparen sollten. Und ich habe das schon einmal gesagt: Die Unterschrift des französischen Präsidenten unter diesem Brief hat mich schon gewundert, denn es liegt ja an Frankreich, dass wir beispielsweise den größten Brocken im Gemeinschaftshaushalt nicht ernsthaft anpacken können und nicht ernsthaft zur Disposition stellen können, nämlich den Agrarhaushalt. Wenn wir beim Agrarhaushalt wirklich etwas machen könnten, Mittel freisetzen könnten für Zukunftspolitiken statt für eine strukturerhaltende oder strukturkonservierende Politik, die ja schon Jahrzehnte alt ist, dann sähe das ein bisschen anders aus. Also, die Kommission wird ganz sicherlich an die Adresse der Briefschreiber sagen: Ja schön, also wenn ihr eine solche Ausgabenbeschränkung wollt, dann sagt uns aber bitte auch, was wir in Zukunft nicht mehr machen sollen. Deshalb ist meine Vermutung, dass das endgültige Ergebnis schon etwas über dem liegen wird, was die Sechs in ihrem Brief geschrieben haben. Aber es muss Bedacht nehmen auf die Notwendigkeit der Ausgabendisziplin.

    Limberg: Haben Sie denn da schon konkretere Vorstellungen?

    Verheugen: Ja sicher gibt es konkrete Vorstellungen. Die Kommission ist mitten in dem Prozess der Entwicklung der finanziellen Vorausschau. Wir werden am 25. dieses Monats eine abschließende Beratung haben. Und ich denke, dass unmittelbar danach die Kommission ihren Vorschlag machen wird. Und dann haben wir ein neues großes Projekt auf dem Tisch. Und ich bin etwas unglücklich darüber, dass es nicht vermieden werden konnte, dass dieses neue große Projekt parallel behandelt werden muss mit dem Projekt der Verfassung. Wir hätten das gerne verhindert, aber das ist ja nun leider gescheitert. Man sollte aber hier keine Verbindungen herstellen, ich muss das deutlich sagen.

    Limberg: Wie sehen Sie denn ganz realistisch die Chancen, das zu tun, was Sie verlangen, nämlich die Prioritäten anders zu setzen, also die ‚Heilige Kuh’ der riesigen Agrarsubventionen anzugehen oder auch im Strukturfonds Veränderungen vorzunehmen?

    Verheugen: Bei den Agrarausgaben bin ich eher pessimistisch, weil ich keinerlei Bewegung, insbesondere der französischen Haltung sehe. Und das würde natürlich nach der Erweiterung nicht einfacher, weil wir natürlich nach der Erweiterung ja eine Reihe von Mitgliedern bekommen werden, insbesondere Polen, die eher an hohen Agrarausgaben interessiert sein werden, wenn auch an solchen, die einen Strukturwandel in der europäischen Landwirtschaft begünstigen. Was die Strukturpolitiken angeht, so glaube ich, ist die Reformbereitschaft groß, auch innerhalb der Kommission, die hohen Ausgaben, die wir in diesem Bereich haben, stärker daraufhin zu prüfen, wie sie dem Wachstums- und Beschäftigungsziel dienen können. Und ich muss ganz ehrlich sagen, ich bin nicht davon überzeugt, dass wir für die erheblichen Milliardenbeträge, die wir jedes Jahr aufwenden für Strukturpolitik, einen entsprechenden Gegenwert in Form von Wachstum und Beschäftigung auch bekommen. Da können wir sicherlich mehr erreichen durch Reformen innerhalb des Systems.

    Limberg: Herr Verheugen, das Klima in der EU wurde ja schon vor dem Verfassungsdebakel stark getrübt durch den Umgang Deutschlands und Frankreichs mit dem Stabilitätspakt. Das normalerweise fällige Defizitverfahren wurde nicht zuletzt auf deutschen Druck hin ausgesetzt, obwohl beide Länder zum dritten Mal die Kriterien des Stabilitätspaktes verletzen. Damit seien Geist und Buchstaben des Stabilitätspaktes verletzt – zu dieser Schlussfolgerung kommen Juristen der Kommission. Wird es eine Klage geben, und wenn ja, macht sie Sinn?

    Verheugen: Das ist in dieser Woche zu entscheiden, am Mittwoch. Der Präsident der Kommission und mein für diese Frage zuständige Kollege Solbes haben ihre Ansicht bereits deutlich gemacht, dass sie den Klageweg beschreiten wollen. Ich teile diese Auffassung nicht. Ich glaube, dass das eine unnötige Verschärfung der Situation innerhalb der Europäischen Union ist. Ich würde es bevorzugen, den Weg des Gesprächs zu gehen, des Gesprächs zwischen der Kommission und den Mitgliedsländern, um zunächst einmal auszuloten, wie viel Bereitschaft besteht, darüber zu sprechen, wie der Stabilitätspakt in Zukunft angewendet werden soll und wie sichergestellt werden kann, dass er seine Wirkung nicht verfehlt. Ich glaube schon, dass auf der Seite der Mitgliedsländer eine solche Gesprächsbereitschaft da ist, und ich kann nicht erkennen, wie eine Klage der Kommission beim Europäischen Gerichtshof das Gesprächsklima fördern sollte. Und ich kann auch nicht erkennen, welcher praktische Nutzen dann aus einer solchen Klage erwachsen soll. Ich halte das nicht für eine Rechtsfrage, sondern das ist eine politische Frage. Selbst wenn die Rechtslage im Sinne der Kommission geklärt würde, wäre die Situation ja hinterher nicht viel anders, als sie jetzt auch ist. Darum ist mein Rat eigentlich, unnötige Konfrontationen zu vermeiden, aufeinander zuzugehen, miteinander zu sprechen und zu sehen, ob man Elemente zusammenbringen kann, die den Stabilitätspakt für die Zukunft handhabbar machen.

    Limberg: Aber die Sorge ist doch berechtigt, dass sich niemand mehr an diesen Pakt hält, wenn ausgerechnet die beiden Großen – Deutschland und Frankreich – das nicht tun.

    Verheugen: Das ist nicht ganz richtig. Also zunächst einmal es nichts mit groß und klein zu tun, ich halte das für ein großes Missverständnis. So war es ja nicht, auf der einen Seite die Großen, auf der anderen Seite die Kleinen, ganz und gar nicht. Zum anderen sind Deutschland und Frankreich Verpflichtungen eingegangen, was die Einhaltung von Stabilitätskriterien angeht. Ich finde, das wichtigste Ziel unserer Politik sollte es jetzt sein, Deutschland und Frankreich dabei zu helfen, diese eingegangenen Verpflichtungen in bezug auf die Einhaltung der Defizitziele auch wirklich zu erfüllen.

    Limberg: Die beiden haben sich ja sowieso nicht gerade beliebt gemacht in den letzten Monaten und Jahren. Viele werfen dem Tandem Arroganz vor. Viele sehen in ihm das eigentliche Problem in Europa, während sie früher ja gefragt waren als Motor, der das ganze zum Laufen bringt.

    Verheugen: Wissen Sie, da bin ich etwas gelassener, weil ich da schon sehr viel auf und ab erlebt habe. Wir haben Zeiten erlebt, in denen das deutsch-französische Tandem außer Tritt war. Da hat alle Welt sich darüber aufgeregt, dass die Deutschen und die Franzosen ihrer Verantwortung für die europäische Integration nicht gerecht werden. Jetzt funktioniert das Tandem wieder, und jetzt ist es auch wieder nicht richtig. Also, ich glaube, hier sollte man mit großer Ruhe und Gelassenheit einfach mal die Grundsatzfrage betrachten. Und die Grundsatzfrage ist eben die, ob es auch weiterhin stimmt, dass die ganze europäische Integration und der ganze Prozess der europäischen Einigung sozusagen um Deutschland und Frankreich herum gebaut ist, dass der eigentliche Kern des ganzen Prozesses das deutsch-französische Verhältnis ist. Und ich bekenne mich hier zu der vielleicht altmodischen Ansicht, dass auch die Erweiterung daran nichts ändert. Der eigentliche Kern des Prozesses bleibt die Friedensfrage, bleibt die Frage der europäischen Stabilität. Und die europäische Stabilität ist letztlich abhängig davon, wie eng und freundschaftlich das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich ist oder nicht ist. Davon lasse ich mich nicht abbringen, so lange Deutschland und Frankreich nicht den Anspruch erheben, innerhalb der Europäischen Union eine Art Direktorium zu bilden. Aber so lange Deutschland und Frankreich ihre Auffassungen koordinieren, sich gut abstimmen und ihre Ideen als Initiativen darstellen, finde ich nicht, dass da irgendwas dran auszusetzen ist. Übrigens, jeder andere kann dasselbe tun.