Wenn sich ein Autor in die Situation von Kindern, die ohne elterliche Fürsorge auskommen müssen, hineinversetzen kann, dann ist es Peter Härtling. An das Gefühl des Verlassenseins, aber auch der Selbstbehauptung kann er sich auch noch nach Jahrzehnten erinnern. Um so schmerzlicher, wenn Peter Härtling heute im Alltag entdecken muss, wie anwesende Väter und Mütter nur noch ihrer Karriere hinterherjagen oder aufgrund permanenter beruflicher Überforderung ihre Kinder vernachlässigen.
Exemplarisch erzählt Peter Härtling vom fast 13-jährigen Paul Beerbaum. Er wohnt mit seinen Eltern in einem Frankfurter Mehrfamilienhaus, umringt von einer multikulturellen, intakten Hausgemeinschaft. Pauls Mutter arbeitet in New York, der Vater reist als Werbefachmann durch die Welt. Auch wenn die Eltern per Handy oder Mail jederzeit erreichbar sind, sie wissen wenig über das Innenleben ihres Kindes. Behütet wird der Junge von seinen Nachbarn, die wie selbstverständlich das Sorgerecht für Paul übernommen haben. Ersatzoma Käthe aus der Wohnung gegenüber räumt das Mädchenzimmer ihrer Tochter für Paul um, der knorrige, alte Dr. Schwarzhaupt aus der 1. Etage bietet sich als Vertrauensperson an und Familie Kober aus dem 4. Stock quartiert den Jungen in ihrer Rumpelkammer ein.
Paul kam es vor, als wandere der Schmerz aus seiner Schulter in die Brust. Darauf war er nicht gefasst. Niemandem auf der Welt wünschte er, so allein zu sein. Auch wenn sich ständig jemand um ihn kümmerte. Irgendjemand, bloß nicht seine Mama und sein Papa. Ihm war schlecht.
Als Paul mit gebrochenem Schlüsselbein allein von der Klassenfahrt zurückkehrt, bezieht der Gewürzhändler Uedal aus der 3. Etage ein Bett für den einsamen Jungen. Zwar idealisiert Peter Härtling die Hausgemeinschaft in all ihrer ethnischen Vielfalt und Lebendigkeit, lässt aber auch durchblicken, wie belastend es sein kann, sich um einen vorpupertierenden Jungen zu kümmern. Ob das Architektenehepaar Drübernaus, der Oberstudienrat Kimmich oder Carlos und Carmen, die zusammen ein Brautmodengeschäft führen, alle Nachbarn haben immer ein offenes Ohr für ihr "Hauskind" Paul, aber niemand äußert ein kritisches Wort zum Verhalten der Beerbaums. Paul jedenfalls hat es satt herumgereicht zu werden, er ist nur noch sauer auf seine Eltern.
Oma Käthe schüttelte energisch den Kopf. "Damit tust du ihnen unrecht. Sie sorgen sich um dich, deine Mama und dein Papa. Sie müssen halt beruflich oft unterwegs sein."
"Die sind dauernd weg." Er steckte seinen Zeigefinger ins Zuckerfässchen und leckte ihn ab.
"Du bist ein Ferkel", schimpfte Oma Käthe und schüttelte sich.
"Ich bin ein unnötiges Kind", sagte er.
Resignation, Verzweiflung und Wut helfen Paul, ob er nun mit Worten um sich wirft, das Legoschiff, dass er einst mit seinem Vater gebaut hat, an die Wand donnert oder bei Telefonaten mit der Mutter enttäuscht das Gespräch beendet. Als Pauls Vater seinem Sohn bei einer seiner Stippvisiten mitteilt, dass die Eltern sich trennen werden, stürzt der Junge in eine tiefe Krise. Jetzt probt er den Aufstand, läuft aufgebracht davon und verschanzt sich im Keller des Hauses. Der überlastete Vater jedoch reist ab, ohne mit seinem Kind gesprochen zu haben. Die Enttäuschung über die Eltern, die sich in Paul aufstaut, überträgt sich im Laufe der Lektüre immer mehr auf den Leser. Die Sommerferien stehen vor der Tür und Pauls Vater kehrt nicht heim. Er leidet unter Depressionen.
"Muss er in die Klapse?"
Carlos blies hörbar Luft zwischen den Zähnen aus.
"Ja, in eine Klinik."
Wenn es so weiterginge, würde er seinem Papa noch in die Klinik folgen.
" Ich finde das beknackt."
"Was?", fragt Carlos.
"Dass meine Eltern mich so hängen lassen."
Findet Peter Härtling wie in jedem seiner realistischen Romane mühelos einen verständlichen, klaren Tonfall, so fehlt aber der dem Leben abgelauschten Geschichte der moderne Hintergrund eines fast 13-Jährigen. Paul ist eng mit Felix befreundet, aber die Jungen hängen weder vorm Computer ab, noch verfolgen sie spezielle Interessen. Zu Beginn erzählt Paul noch seinem Spiegelbild, dass er ohne elterliche Aufsicht nun machen könne, was er wolle. Wütend und allein lotet er jedoch keine Freiräume aus. Er konzentriert sich lieber auf die Fahrraddiebe in seiner Straße.
Aber diese kurzen Episoden wirken eher wie ein freundliches Anhängsel, um Paul wieder Kind sein zu lassen. Und fraglich ist, welcher 13-Jährige, der sowieso bereits von Erwachsenen umzingelt ist, seine Klassenlehrerin zum Geburtstag einlädt. Der allzu gute Geist der Hausgemeinschaft ist der korrekte, moralisch integere Dr. Schwarzhaupt, der verständnisvoll und feinfühlig reagiert, wenn es um Pauls familiäre oder schulische Probleme geht. Als Anwalt im Ruhestand vermittelt er zwischen Paul und seinem Vater, und was besonders schwer ist, zwischen Paul und seiner fernen Mutter. Dr. Schwarzhaupt schenkt dem Jungen, und hier liegen literarische Figur und Autor offensichtlich auf einer Wellenlänge, die Kinderromane von Erich Kästner. Auch an dieser Stelle wird der junge Leser kurz stutzen, denn altersgerechte Lektüre und Wunschdenken driften weit auseinander.
Peter Härtling konfrontiert seinen Paul, der sich nicht wie ein Erwachsener jeder Situation anpassen kann, mit unterschiedlichen Menschen und ihren vielfältigen Lebensformen. Und er lässt dem Kind seine Wut und weiß, dieses starke Gefühl wird Paul dabei helfen mit den inneren und äusseren Konflikten umzugehen. Die Abfuhr, die der Junge seiner fremd gewordenen Mutter am Ende des Romans erteilen wird, zeigt dem jungen Leser auch ohne Happy End, Paul lässt sich nicht unterkriegen. Und hier bleibt der 78-jährige Peter Härtling seinem poetischen Programm treu, er stärkt nicht nur Paul, sondern auch den Leser.
Peter Härtling: "Paul das Hauskind"
Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2010
184 Seiten, EUR12,95
Exemplarisch erzählt Peter Härtling vom fast 13-jährigen Paul Beerbaum. Er wohnt mit seinen Eltern in einem Frankfurter Mehrfamilienhaus, umringt von einer multikulturellen, intakten Hausgemeinschaft. Pauls Mutter arbeitet in New York, der Vater reist als Werbefachmann durch die Welt. Auch wenn die Eltern per Handy oder Mail jederzeit erreichbar sind, sie wissen wenig über das Innenleben ihres Kindes. Behütet wird der Junge von seinen Nachbarn, die wie selbstverständlich das Sorgerecht für Paul übernommen haben. Ersatzoma Käthe aus der Wohnung gegenüber räumt das Mädchenzimmer ihrer Tochter für Paul um, der knorrige, alte Dr. Schwarzhaupt aus der 1. Etage bietet sich als Vertrauensperson an und Familie Kober aus dem 4. Stock quartiert den Jungen in ihrer Rumpelkammer ein.
Paul kam es vor, als wandere der Schmerz aus seiner Schulter in die Brust. Darauf war er nicht gefasst. Niemandem auf der Welt wünschte er, so allein zu sein. Auch wenn sich ständig jemand um ihn kümmerte. Irgendjemand, bloß nicht seine Mama und sein Papa. Ihm war schlecht.
Als Paul mit gebrochenem Schlüsselbein allein von der Klassenfahrt zurückkehrt, bezieht der Gewürzhändler Uedal aus der 3. Etage ein Bett für den einsamen Jungen. Zwar idealisiert Peter Härtling die Hausgemeinschaft in all ihrer ethnischen Vielfalt und Lebendigkeit, lässt aber auch durchblicken, wie belastend es sein kann, sich um einen vorpupertierenden Jungen zu kümmern. Ob das Architektenehepaar Drübernaus, der Oberstudienrat Kimmich oder Carlos und Carmen, die zusammen ein Brautmodengeschäft führen, alle Nachbarn haben immer ein offenes Ohr für ihr "Hauskind" Paul, aber niemand äußert ein kritisches Wort zum Verhalten der Beerbaums. Paul jedenfalls hat es satt herumgereicht zu werden, er ist nur noch sauer auf seine Eltern.
Oma Käthe schüttelte energisch den Kopf. "Damit tust du ihnen unrecht. Sie sorgen sich um dich, deine Mama und dein Papa. Sie müssen halt beruflich oft unterwegs sein."
"Die sind dauernd weg." Er steckte seinen Zeigefinger ins Zuckerfässchen und leckte ihn ab.
"Du bist ein Ferkel", schimpfte Oma Käthe und schüttelte sich.
"Ich bin ein unnötiges Kind", sagte er.
Resignation, Verzweiflung und Wut helfen Paul, ob er nun mit Worten um sich wirft, das Legoschiff, dass er einst mit seinem Vater gebaut hat, an die Wand donnert oder bei Telefonaten mit der Mutter enttäuscht das Gespräch beendet. Als Pauls Vater seinem Sohn bei einer seiner Stippvisiten mitteilt, dass die Eltern sich trennen werden, stürzt der Junge in eine tiefe Krise. Jetzt probt er den Aufstand, läuft aufgebracht davon und verschanzt sich im Keller des Hauses. Der überlastete Vater jedoch reist ab, ohne mit seinem Kind gesprochen zu haben. Die Enttäuschung über die Eltern, die sich in Paul aufstaut, überträgt sich im Laufe der Lektüre immer mehr auf den Leser. Die Sommerferien stehen vor der Tür und Pauls Vater kehrt nicht heim. Er leidet unter Depressionen.
"Muss er in die Klapse?"
Carlos blies hörbar Luft zwischen den Zähnen aus.
"Ja, in eine Klinik."
Wenn es so weiterginge, würde er seinem Papa noch in die Klinik folgen.
" Ich finde das beknackt."
"Was?", fragt Carlos.
"Dass meine Eltern mich so hängen lassen."
Findet Peter Härtling wie in jedem seiner realistischen Romane mühelos einen verständlichen, klaren Tonfall, so fehlt aber der dem Leben abgelauschten Geschichte der moderne Hintergrund eines fast 13-Jährigen. Paul ist eng mit Felix befreundet, aber die Jungen hängen weder vorm Computer ab, noch verfolgen sie spezielle Interessen. Zu Beginn erzählt Paul noch seinem Spiegelbild, dass er ohne elterliche Aufsicht nun machen könne, was er wolle. Wütend und allein lotet er jedoch keine Freiräume aus. Er konzentriert sich lieber auf die Fahrraddiebe in seiner Straße.
Aber diese kurzen Episoden wirken eher wie ein freundliches Anhängsel, um Paul wieder Kind sein zu lassen. Und fraglich ist, welcher 13-Jährige, der sowieso bereits von Erwachsenen umzingelt ist, seine Klassenlehrerin zum Geburtstag einlädt. Der allzu gute Geist der Hausgemeinschaft ist der korrekte, moralisch integere Dr. Schwarzhaupt, der verständnisvoll und feinfühlig reagiert, wenn es um Pauls familiäre oder schulische Probleme geht. Als Anwalt im Ruhestand vermittelt er zwischen Paul und seinem Vater, und was besonders schwer ist, zwischen Paul und seiner fernen Mutter. Dr. Schwarzhaupt schenkt dem Jungen, und hier liegen literarische Figur und Autor offensichtlich auf einer Wellenlänge, die Kinderromane von Erich Kästner. Auch an dieser Stelle wird der junge Leser kurz stutzen, denn altersgerechte Lektüre und Wunschdenken driften weit auseinander.
Peter Härtling konfrontiert seinen Paul, der sich nicht wie ein Erwachsener jeder Situation anpassen kann, mit unterschiedlichen Menschen und ihren vielfältigen Lebensformen. Und er lässt dem Kind seine Wut und weiß, dieses starke Gefühl wird Paul dabei helfen mit den inneren und äusseren Konflikten umzugehen. Die Abfuhr, die der Junge seiner fremd gewordenen Mutter am Ende des Romans erteilen wird, zeigt dem jungen Leser auch ohne Happy End, Paul lässt sich nicht unterkriegen. Und hier bleibt der 78-jährige Peter Härtling seinem poetischen Programm treu, er stärkt nicht nur Paul, sondern auch den Leser.
Peter Härtling: "Paul das Hauskind"
Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2010
184 Seiten, EUR12,95