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Verpatzte Gelegenheit

Auch Istanbul ist in diesem Jahr Europäische Kulturhauptstadt. Das Programm am Bosporus ist nicht nur unübersichtlich, sondern stößt auch auf massive Kritik - sogar einige Mitveranstalter sprechen vor allem von einer verpassten Chance für die türkische Metropole.

Von Sabine Küper-Büsch | 20.07.2010
    Als Kulisse ist Istanbul ein Ort mit unbegrenzten Möglichkeiten. Die Werbeclibs von Istanbul 2010 umweht etwas von Märchen aus Tausendundeiner Nacht und teuren Jeansreklame-Spots. Minarette und Shoppingmalls, Frauen mit Kopftuch und in engen Jeans wirbeln durch die blaue Moschee. Alles schrillbunt und irgendwie gestellt.

    Was das alles mit Istanbul als Kulturhauptstadt Europas zu tun hat, fragen sich mittlerweile viele. Selbst die Organisatoren der eigens eingerichteten Agentur sind frustriert. Stadtplaner Korhan Gümüş hat in deren Planungskommission das Konzept für Istanbul 2010 miterarbeitet. Danach sollten Kultur und Kunst in der Stadt volksnah, multikulturell und stadtteilbezogen sein:

    "Wir wollten Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammenbringen. Aber so etwas ist in der Türkei alles andere als einfach. Die Lokalşpolitik wird immer wieder von der Ankaraner Regierungspolitik dominiert."

    Im Zentrum der Kritik steht vor allem die selektive Gewichtung von Kulturgeschichte bei der Bewilligung von Projekten. Das die Restaurierung der Außenfassade der Hagia Sophia nach 17 Jahren passend für 2010 fertiggestellt wurde, gehört zu den lobenswerten Maßnahmen.

    Doch warum der jüdische Friedhof von Hasköy trotz großer Proteste vieler Istanbuler immer noch einer Müllhalde gleicht, erbost etwa Nora Şeni, Direktorin des französischen Instituts für Anatolienforschung.

    "Der Friedhof sollte im Kulturhauptstadtjahr restauriert werden. Die Agentur 2010 hat von Anfang an viel über dieses Projekt gesprochen, um zu bezeugen, wie multikulturell Istanbul ist."

    Der Friedhof liegt im Schatten des städtischen Fuhrparks. LKW der Müllabfuhr donnern vorbei, Staub und Müllreste regnen auf verwüstete Grabsteine. Im Zentrum der Ruhestätte steht das Mausoleum von Abraham Salomo de Camondo. Ein jüdischer Bankier, der im 19. Jahrhundert als Geldgeber und Berater des osmanischen Hofes den Ausbau des Schienenverkehrs und die Einrichtung eines Fährverkehrs auf dem Bosporus finanzierte. Auch Stadtplaner Korhan Gümüş von Istanbul 2010 gehörte zu den Planern eines Restaurierungsplans für das Mausoleum:

    "Als wir die Restaurierungspläne der Öffentlichkeit präsentierten, schrieb eine konservative Tageszeitung: 2010 präsentiert einen der Blutsauger des Volkes als Philanthropen. Einfach nur, weil Camondo Bankier war. Das ist eine grauenvolle Doppelmoral, offensichtlich haben wir ein großes Problem im Umgang mit unserer Geschichte."

    Der jüdische Friedhof ist nur ein Beispiel für viele verpatzte Chancen. Der Abriss des historischen Romaviertels Sulukule an der historischen Stadtmauer geschah Anfang des Jahres trotz einer breiten Protestbewegung verschiedener Istanbuler Initiativen, zu der auch die Kunsthistorikerin Derya Nükhet Özer gehört:

    "Die Erhaltung und Sanierung von Sulukule war Teil der in Brüssel eingereichten Bewerbung für 2010. Der komplette Abriss des 1000 Jahre alten Viertels ist deswegen so unglaublich, weil er der eigentlichen Mission einer europäischen Kulturhauptstadt völlig entgegenläuft."

    Mit der Bewerbung für Istanbul 2010 wurde auch ein Aufschub bei der UNESCO-Kommission für Weltkulturerbe erwirkt. Ende Juli wird sie darüber entscheiden, ob Istanbul von der Liste des Weltkulturerbes gestrichen wird. Für Istanbul wäre das 2010 eine mehr als bittere Bilanz.

    Istanbul ist Kulturhauptstadt 2010 (tagesschau.de)