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"Verschärfte Verteilungskämpfe"

Die verschärfte Tonlage in der Hartz-IV-Debatte spiegelt für den Sozialethiker Bernhard Emunds die Verteilungskämpfe in der Krise wider. Er fordert einen flächendeckenden Mindestlohn und eine zusätzliche Förderung von Familien mit geringem Einkommen.

Bernhard Emunds im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 20.02.2010
    Tobias Armbrüster: Knapp zwei Wochen ist es her, das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Die Berechnung der Hartz-IV-Sätze müsse transparenter sein, haben die Richter gefordert - nicht besonders überraschend. Aber wer gedacht hat, die Aufregung über das Urteil wäre nach ein, zwei Tagen verflogen, der hat sich getäuscht. Kein Tag vergeht ohne eine neue Wende im Hartz-IV-Streit. In den letzten Tagen hat vor allem eine OECD-Studie für Aufsehen gesorgt. Derzufolge haben viele Arbeitslose in Deutschland keinen Anreiz zur Arbeitssuche. Von Leistungsverweigerern spricht deshalb FDP-Vize Pinkwart. Am Telefon bin ich jetzt verbunden mit dem Sozialethiker Bernhard Emunds. Er ist Leiter des Nell-Breuning-Instituts, schönen guten Morgen, Herr Emunds!

    Bernhard Emunds: Guten Morgen nach Köln!

    Armbrüster: Überrascht Sie dieser Ton in der Hartz-IV-Debatte?

    Emunds: Nicht wirklich. Die verschärfte Tonlage spiegelt ja verschärfte Verteilungskonflikte wider. Diese Verschärfung der Verteilungskonflikte geht zurück auf die Finanzkrise, die eben dem Staat Milliarden kostet, und entsprechend haben wir steigende Belastungen, und das führt jetzt zur aktuellen Debatte.

    Armbrüster: Das heißt, so ein Streit ist eigentlich unvermeidbar, wir müssen ihn führen?

    Emunds: Wir müssen einen solchen Streit führen, wobei natürlich hochnotpeinlich ist, dass ausgerechnet die Partei, die FDP, die im Grunde die Koalition im Moment in ein Desaster führt, weil sie die Verteilungskonflikte noch weiter verschärft durch die Ankündigung großer Steuerentlastungen, dass genau diese Partei jetzt zu diesem Ventil greift und auf die Schwächsten einschlägt.

    Armbrüster: Sie reden jetzt von Verteilungskämpfen, was wird denn da zwischen wem verteilt?

    Emunds: Na ja, Sie müssen sich vorstellen, dass wir steigende Lasten haben aufgrund des Einspringens des Staates bei den Finanzinstituten aufgrund der Konjunkturmaßnahmen, die der Staat ergreifen musste, und jetzt geht es darum, wie das verteilt wird. Wir haben ja eine Debatte in den deutschen Gazetten, angestoßen von Sloterdijk, wo es auch darum geht, dass im Grunde die Reicheren sich entziehen wollen der Verpflichtung, Steuern zu bezahlen, und lieber sozusagen auf Almosen setzen wollen. Wir haben Probleme sozusagen, wirklich die Reichen dazu zu bekommen, dass sie ihre Steuern zahlen – denken Sie an die Steuerhinterziehung, die ja große Kreise schlägt. Das ist sozusagen auf der einen Seite das, was zu zahlen ist, und auf der anderen Seite haben wir Problemlagen, die teils viel älter sind als die Finanzkrise, Problemlagen einer modernen Gesellschaft, die eben zusätzliche staatliche Ausgaben erfordern.

    Armbrüster: Verstehe ich Sie da jetzt richtig, dass wir eigentlich oder dass die Debatte eigentlich die Falschen ins Visier nimmt, statt über Hartz-IV-Empfänger sollten wir lieber über die Reichen und die Steuerflüchtlinge reden?

    Emunds: Ja, das sollten wir auch tun. Wir sollten auf der anderen Seite natürlich das kleine, kleine Körnchen Wahrheit, das klitzekleine Körnchen Wahrheit in den Angriffen von Westerwelle und Co. aufgreifen, denn es gibt tatsächlich ein großes Problem im unteren Einkommensbereich, und zwar nicht in dem Sinne, dass die Hartz-IV-Sätze zu großzügig wären – da hat die OECD-Studie, die Sie ja auch eben erwähnt haben, genau das Gegenteil gesagt, dass Deutschland im europäischen Vergleich sehr niedrig liegt sozusagen in der Versorgung von Arbeitslosen –, sondern es geht um den Bereich niedriger Arbeitseinkommen im Verhältnis eben zum Sozialeinkommen. Und da hat sich in Deutschland eine Menge fehlentwickelt – eine Menge fehlentwickelt nicht, weil wir großzügige Hartz-IV-Sätze hätten, sondern weil die prekäre Beschäftigung zugenommen hat.

    Armbrüster: Heißt das, wir brauchen höhere Mindestlöhne?

    Emunds: Erstens brauchen wir überhaupt erst mal ein vernünftiges Mindestlohn-Instrument und nicht nur so kleine Einzellösungen, die es für einzelne Branchen gibt – da ist natürlich die FDP der große Bremser schlechthin –, wir brauchen aber neben dem Mindestlohn natürlich eine wirklich sichere Grundsicherung im Bereich von Hartz IV, da hat das Bundesverfassungsgerichtsurteil, denke ich, den Weg gewiesen. Und wir brauchen drittens aber – und damit kommen wir zu dem Punkt, auf den ich eigentlich hinaus will –, wir brauchen entweder eine Entlastung von Familien mit niedrigem Arbeitseinkommen, oder wir müssen eben eine zusätzliche Förderung für diese Familien einführen, so etwas wie ein extra Kindergeld im unteren Einkommensbereich. Denn wenn wir das nicht haben, dann haben wir nicht ein Problem der Anreize, wie der Herr Westerwelle das formuliert oder auch viele Ökonomen das formulieren. Es ist ja so, dass die meisten Arbeitslosen nichts dringender wollen als einen Job in dieser Zeit, das muss man ja einfach mal festhalten. Wir haben nicht ein Problem der Anreize, sondern wir haben ein Problem, dass allein aufgrund des Arbeitseinkommens viele Familien unterhalb des Arbeitslosengelds II und Sozialgelds landen, unterhalb von Hartz IV landen. Sie können das aufstocken lassen, aber es gibt eine verschämte Armut in Deutschland, gerade im Bereich der Familien, weil viele das nicht tun. Und das ist sozusagen ein ganz zentrales Problem. Das heißt, wir müssten ein neues Förderinstrument finden gerade für Familien, die erwerbstätig sind und im niederen Einkommensbereich sind.

    Armbrüster: Nun, was sollen wir denn machen mit den Leuten, die es sich mit den bestehenden Hartz-IV-Sätzen bequem eingerichtet haben?

    Emunds: Ja, ich glaube, man muss auch jetzt fünf Jahre nach Einführung von Hartz IV sozusagen ein sehr differenziertes Urteil finden. Ich halte überhaupt nichts von Sanktionen und der angedrohten Verschärfung sozusagen jetzt von Sanktionen, wie wir das im Moment diskutieren. Sie müssen sich vorstellen, das ist ja auch sozusagen Gegenstand des Bundesverfassungsgerichtsurteils, dass es ein Grundrecht darauf gibt, eben den soziokulturellen Mindestbedarf in der Gesellschaft zu decken. Da können wir nicht raus, das ist auch sinnvoll, weil wir in einer Arbeitsgesellschaft leben, das heißt, die Erwerbsarbeit ist ganz zentral für die persönliche Entfaltung des Einzelnen, für die Integration in die Gesellschaft. Und wir haben einfach nicht so viele Arbeitsplätze, wie wir bräuchten. Das heißt, wenn wir schon diese Arbeitsplätze nicht bereitstellen, die die normale Form der Integration in unsere Gesellschaft wären, dann müssen wir wenigstens denjenigen, die solche Arbeitsplätze nicht bekommen, die müssen wir eben vernünftig absichern. Also das heißt, der Bereich des Forderns im Sinne der Sanktionen war aus meiner Sicht eine Fehlentwicklung in Hartz IV. Der Bereich des Förderns, der mag sozusagen in der Verwirklichung noch sehr schwach sein, aber die Grundidee, dass man sozusagen stärker auf persönliche Förderungsprozesse setzt und den Sozialarbeiter sozusagen nicht den Fall verwalten lässt, sondern in einen Beratungsprozess mit den Menschen eintreten lässt, das scheint mir richtig zu sein. Das funktioniert allerdings eben gerade nur, wenn man die Sanktionen da rausnimmt, weil sonst ist sozusagen dieses Beratungsverhältnis gar nicht so vertraulich zu erreichen, wie es notwendig ist.

    Armbrüster: FDP-Chef Guido Westerwelle hat jetzt immer wieder gesagt, dass er hier Wahrheiten ausspricht, die sich sonst niemand mehr auszusprechen wagt. Zeigt uns diese aktuelle Debatte auch, dass wir in Deutschland freier geworden sind und Denkverbote abbauen?

    Emunds: Was heißt hier Denkverbote abbauen? Also der Herr Westerwelle schlägt in diese Richtung seit eh und je aus und seine Parteikollegen auch. Es ist eigentlich eher erstaunlich, dass sozusagen selbst der Außenminister, der ja im Grunde in Deutschland eine Position hat, die fast vergleichbar ist mit dem Bundespräsidenten, wagt, sich derartig polarisierend in der Öffentlichkeit zu äußern.

    Armbrüster: Bernhard Emunds war das, Sozialethiker und Leiter des Nell-Breuning-Instituts, live hier bei uns in den "Informationen am Morgen". Vielen Dank für das Gespräch, Herr Emunds!

    Emunds: Gerne!