Dienstag, 07. Mai 2024

Archiv


Verschollen

Komapatienten sind Nutznießer moderner Hightech-Medizin. Sie werden künstlich beatmet und ernährt, trotz schwerster Verletzungen leben sie. Doch was empfinden Sie? Wer ins Koma fällt, ist ohne Bewusstsein. So lautet die medizinische Lehre.

Von Martin Hubert | 19.04.2009
Selbst im Wachkoma, einem Zustand, in dem Patienten mit offenen Augen vor sich hin starren und reflexartige Bewegungen zustande bringen, geht die Schulmedizin davon aus, dass dies ohne Bewusstsein geschieht. Doch immer wieder berichten Menschen, denen eine Rückkehr aus dem Koma gelang, von Empfindungen und traumartigen Vorstellungen. Ein vages Unbehagen bleibt: Was erleben Komapatienten tatsächlich?

Mit Hirnscans versuchen Mediziner seit einiger Zeit sich jenem Zustand zu nähern. Erste Ergebnisse erregten Aufsehen. Einige scheinen die Dogmen der Schulmediziner schon jetzt ins Wanken zu bringen. Dennoch ist Vorsicht geboten. Wird man mit Hilfe der Apparaturen das Erwachen besser vorhersagen können? Wird man ihnen gar beim Zurückkehren helfen?

Verschollen
Wie Ärzte zu Komapatienten durchdringen wollen
Von Martin Hubert

"Ich habe diesen Zustand meinen Aufenthalt im Komaland genannt, weil das für mich nicht nur ein ganz fremdes Land war, sondern eigentlich ein ganz fremder Kontinent."

Susanne Rafael. Ihr Name ist ein Pseudonym. Vor mehr als dreißig Jahren – sie war damals 21 Jahre alt - fällt sie nach einem Autounfall ins Koma. Nachdem sie daraus erwacht, schreibt sie ihre Erinnerungen auf. Erinnerungen, die es nach medizinischer Lehre eigentlich nicht geben dürfte.

"Also Angst war so das hervorragendste Gefühl, weil das einfach so schrecklich ist, wenn man von allem abgetrennt ist, von allem Lebendigem, was es sonst noch gibt."

Koma ist medizinisch als bewusstloser Zustand definiert. Aber Susanne Rafael erinnert sich.

"Mal war ich wieder ein bisschen außen, dann war ich wieder weg. Also ich glaube, man sollte sich das nicht so kontinuierlich vorstellen: also ich bin im Komaland gewesen, dann kam ich wieder ein bisschen an die Oberfläche zurück, in den normalen Alltag, in den Krankenhausalltag, dann war ich wieder im Komaland, also das ging so hin und her."

Verschollen. Wie Ärzte zu Komapatienten durchdringen wollen. Von Martin Hubert.

Vor kurzem hat Susanne Rafael ihre Erinnerungen veröffentlicht. Denn viel zu wenig Menschen, meint sie, hätten eine Vorstellung davon, was es wirklich heißt, Komapatient zu sein.

"Es gibt viele Dinge, die wir einfach noch nicht verstehen."


Steven Laureys ist Neurologe an der Universität Lüttich und einer der weltweit führenden Komaspezialisten.

"In der Wissenschaft brauchen wir natürlich Schubladen, wir ziehen scharfe Abgrenzungen in den kontinuierlichen Lauf der Dinge ein, um sie zu begreifen. Aber die Realität ist natürlich oft viel komplizierter und chaotischer."

Komapatienten sind Nutznießer der modernen Hightech-Medizin. Sie werden künstlich beatmet und ernährt. Trotz schwerster körperlicher Verletzungen leben sie. Doch was empfinden Sie? Nichts, sagt die Schulmedizin. Selbst im Wachkoma, einem Zustand, in dem Patienten mit offenen Augen vor sich hin starren und reflexartige Bewegungen zustande bringen, gehen Ärzte davon aus, dass dies ohne Bewusstsein geschieht. Gleichzeitig berichten ehemalige Komapatienten immer wieder von Empfindungen und traumartigen Zuständen. Mit Hirnscans versuchen Mediziner seit einiger Zeit, sich jenem Zustand zu nähern. Erste Ergebnisse erregten Aufsehen. Und sie nähren neue Hoffnungen. Wird man endlich das Erwachen vorhersagen können? Wird man Komapatienten gar beim Zurückkehren helfen?

Zuerst kommt nach schulmedizinischer Lehre das eigentliche, tiefe Koma. Es kann entstehen, wenn Schlaganfall, Tumoren, entzündliche Erkrankungen oder Sauerstoffmangel das Großhirn eines Menschen entscheidend schädigen. Der Patient ist bewusstlos, reagiert auf keinerlei äußere Reize, seine Augen sind geschlossen. Eigentlich dürfte er überhaupt keine Empfindungen mehr haben.

"Was irre war, war, dass ich die ganze Zeit immer das Gefühl hatte: mich gibt's, mich gibt's, mich gibt's! Auch wenn ich mich überhaupt nicht gespürt hab!"

Eigentlich. Denn Susanne Rafaels Aufzeichnungen sprechen eine andere Sprache.

"Ich hab nur diesen alten Satz von Descartes gehabt: "Ich denke, also bin ich". Als welche Person ich hier liege, wie ich heiße, wie alt ich bin, das wusste ich alles überhaupt nicht, ich wusste nur unbedingt sicher: Es gibt mich!"

Nach einiger Zeit wachen die meisten Komapatienten wieder auf und erholen sich. Eine Minderheit jedoch gerät in einen dauerhaften Komazustand, das so genannte Wachkoma; englisch "vegetative state", der vegetative Zustand. In Deutschland gibt es jährlich 3000 bis 5000 solcher Fälle. Der Patient atmet jetzt meist von selbst, er ist wach, öffnet die Augen und kann seine Glieder bewegen. Auch schläft er regelmäßig ein, wenn auch in einem untypischen Rhythmus. Aber er kann nicht gezielt auf äußere Reize reagieren. Spricht man ihn an, erhält man keine willentliche Antwort. Auch im Wachkoma nehmen die Patienten ihre Umwelt nicht bewusst wahr - glauben die Mediziner.

"Da hatte ich immer das Gefühl, ich hab ne einfache Wohnung mit ner großen Glasfront und ich sitze da und gucke aus dem Fenster und draußen sehe ich meine ganzen Freundinnen und Freunde vorbeigehen, und dann rufe ich: kommt doch rein, besucht mich mal - und die haben so getan als wenn sie mich gar nicht hören und sehen und sind einfach vorbeigegangen."

War Susanne Rafael, die medizinisch als Komapatientin der ersten Stufe galt, vielleicht doch im Wachkomazustand - oder sogar in einer noch späteren Phase? Erst vor einigen Jahren haben die Mediziner dieses Nachfolgestadium des Wachkomas genauer definiert. Sie nennen es "minimal conscious state: "Zustand minimalen Bewusstseins". Die Patienten zeigen dann Reaktionen, die darauf schließen lassen, dass sie in elementarer Weise Situationen verstehen. Sie folgen zum Beispiel mit dem Blick der eigenen Mutter, wenn diese das Zimmer betritt. Oder sie lächeln, wenn sie kommt. Trotzdem kann man nicht wirklich mit ihnen kommunizieren.

"Zum Beispiel war ein Arzt, der ist jeden Tag gekommen und dann hat er mir immer viel erzählt von sich und ich hab überhaupt nie reagiert am Anfang, und irgendwann, sagte er mir später, hätte ich dann gesagt zu ihm: "Wie heißt du eigentlich?" Und dann hat er wohl zu mir gesagt, "Ich heiße Fritz", und dann habe ich gesagt "Und ich heiße Susanne". Und das nächste mal zum Beispiel, als er da war, hab ich gar nichts mehr gesagt, also das war immer ganz unterschiedlich."

Koma, Wachkoma, Zustand minimalen Bewusstseins. Berichte wie die von Susanne Rafael scheinen nicht so recht in diese klare Einteilung zu passen. Natürlich könnte es sein, dass solche Erinnerungen den Komazustand nur nachträglich interpretieren. Steven Laureys sieht diese Gefahr zwar, hält die Berichte aber trotzdem für bedenkenswert.

"Wir wissen sehr wenig über diese Berichte von Patienten, die das Koma überlebt haben. Wir müssen zum Beispiel berücksichtigen, dass die meisten dieser Patienten bewusstseinsbeeinflussende Medikamente erhalten und dadurch in ein so genanntes "pharmakologisches Koma" versetzt werden. Manchmal wachen sie daraus etwas auf und sinken dann wieder in den Schlaf zurück. Also wir haben hier wirklich eine Mischung verschiedenster Zustände, was es oft sehr schwer macht, die Situation eindeutig zu interpretieren."

Solche Unklarheiten werden vor allem brisant, wenn Entscheidungen über Leben und Tod anstehen: Bekannt wurde etwa der Kampf um das Weiterleben der Amerikanerin Terri Schiavo, die mehr als 15 Jahr im Wachkoma lag. Ihr Mann setzte sich gegen die Eltern durch und ließ die künstliche Ernährung abbrechen. Ein ähnlicher Fall erregte kürzlich in Italien Aufsehen. Andererseits erwachte im Jahr 2007 ein polnischer Bergarbeiter nach 19 Jahren wieder aus dem Koma. Nach eigenen Erfahrungen sagt Steven Laureys: Etwa ein Drittel aller Wachkomadiagnosen sind falsch. Das würde bedeuten: Man betrachtet jeden dritten Patienten, der über ein minimales Bewusstsein verfügt, als leere, empfindungslose Hülle.

Professor Andreas Zieger, Neurorehabilitationsmediziner am Evangelischen Krankenhaus in Oldenburg, sagt, das Problem, Wachkomapatienten richtig einzuschätzen, rühre daher, dass man das Bewusstsein zum Kriterium nimmt. Dieses Kriterium aber sei viel zu grob.

"Es wäre sicherlich sinnvoll, den Bewusstseinsbegriff wegzulassen: woran messen wir denn Bewusstsein in der klinischen Praxis? Also wir sprechen den Patienten an und der Patient antwortet nicht und dann sagen wir, weil dieser Mensch nicht antwortet oder nicht reagiert - er ist also komplett nicht ansprechbar - ist er bewusstlos. Aber kein Mensch kann das beweisen, weil wir nicht reinschauen können, was ist innerlich los und was erlebt dieser Mensch, was empfindet er eben doch, welche Art von innerer Aufmerksamkeit, innerer Wahrnehmung gibt es?"

Andreas Zieger setzt daher auf einen so genannten beziehungsmedizinischen Ansatz. Er geht davon aus, dass man viel vom Innenleben der Patienten versteht, wenn man genau auf die Interaktion mit ihm achtet.

"Dass wir neben der berechtigten Messtechnik unseren eigenen Körper und unser empathisches Verstehen mit hinein nehmen. Und diese Seite wird bekanntlich sehr vernachlässigt, obwohl naturgemäß die Pflege ja schon dazu neigt, solche Umgangsformen mit Patienten auf der Intensivstation zu pflegen."

"Die Reaktion eines Menschen auf Musik, das Miterleben dieser Musik kann uns einen Hinweis geben auf vorhandenes Bewusstsein, auf Wahrnehmungsmöglichkeit, auf Umsetzung von dieser Wahrnehmung in irgendwelche Regungen hinein."

Ansgar Herkenrath ist Musiktherapeut am Haus Königsborn in Unna, in dem schwerstbehinderte Menschen leben und gepflegt werden. Seit mehreren Jahren arbeitet er auch mit Wachkomapatienten.

Ansgar Herkenrath improvisiert mit den Patienten. Er spielt zum Beispiel Klavier und der Patient sitzt am Schlagzeug. Herkenrath achtet darauf, ob dieser angemessen auf Betonungen reagiert oder sogar eigene Akzente beisteuert. Das sind für ihn Anzeichen für ein seelisches Empfinden, das durch das gemeinsame Spiel weiter gefördert wird.

Es gibt aber noch einen zweiten Weg ins Innere von Komapatienten - Steven Laureys in Lüttich war maßgeblich an den jüngsten Fortschritten beteiligt. Vor einigen Jahren begann er, Komapatienten in einen Positronenemissionstomographen zu legen. Laureys wollte wissen, was in ihrem Kopf geschieht, bevor sie aufwachen. Er verglich Bilder aus dem Schädelinneren vor und nach dem Aufwachen und suchte nach Veränderungen. Tatsächlich wurde er fündig:

"Entscheidend war, dass Teile der grauen Substanz wieder funktionsfähig wurden, also Nervenzellen in der äußeren Hirnrinde und in bestimmten tiefer gelegenen Hirnkernen. Das geschah, weil sich teilweise ihre Verbindungen mit dem so genannten Thalamus wieder aufbauten. Der Thalamus ist eine Region in der Tiefe des Gehirns. Er ist wichtig für kognitive und bewusste Prozesse. Wir sahen also, dass die Kommunikation zwischen dem Thalamus und wichtigen Nervenzellen der grauen Substanz wieder in Gang kam. Wesentlich beteiligt daran war ein ganz bestimmter Kern innerhalb des Thalamus. Innerhalb der grauen Substanz gab es ebenfalls Areale, die besondern wichtig waren, zum Beispiel den so genannten Praecuneus. Er ist am stärksten aktiv, wenn wir wach sind, und er wird schwächer, wenn wir schlafen."

Für Steven Laureys steht inzwischen fest: Es gibt ein Netzwerk im Gehirn, das einigermaßen intakt sein muss, damit jemand überhaupt bewusst sein kann. Neuere Studien lassen hoffen: Dieses Wissen lässt sich auch therapeutisch nutzen:

"Eine Nature-Studie von Nicolas Schiff in New York hat kürzlich gezeigt, dass sich der Zustand von Patienten mit minimalem Bewusstsein stark verbessern lässt. Schiff hatte bei ihnen einen Teil des Thalamus elektrisch stimuliert. Und zwar genau den Teil, der nach unserer Studie bei Patienten regeneriert, wenn sie aus dem Wachkoma zurückkommen."

Vor wenigen Monaten erzielte eine Forscherin aus Chicago ähnliche Effekte bei einem Wachkomapatienten. Sie stimulierte mit magnetischen Wellen Hirnareale des Patienten, die mit bewusster Aufmerksamkeit zu tun haben. Tatsächlich begann der Patient daraufhin seinen Kopf demjenigen zuzuwenden, der ihn ansprach. Und wenn seine Freundin ihn seitdem fragt: "Liebst du mich?", antwortet er mit einem zweifachen Augenblinzeln. Einzelfälle. Und es ist Vorsicht geboten: das Bewusstseinsnetzwerk ist komplex und längst nicht vollständig begriffen.

Ansgar Herkenrath in Unna begrüßt jeden Wachkomapatienten mit einem eigens für ihn komponierten Lied - und verabschiedet sich damit auch wieder von ihm. Dadurch stellt er zu diesem Menschen eine individuelle Beziehung her.

Wenn Herkenrath einem Patienten sein Begrüßungslied vorspielt, beobachtet er dessen Atmung. Wird diese tiefer und freier? Bewegt sich die Bauchdecke gleichmäßiger auf und ab? Atmet der Wachkomapatient erleichtert durch, wenn das Lied beendet ist? Wenn ja, dann weiß Ansgar Herkenrath: Der Patient hat die Begrüßung verstanden und ist bereit für die weitere therapeutische Arbeit.

Es ist ein großer Unterschied, ob Netzwerke von Nervenzellen schlicht noch intakt sind. Oder ob sie darüber hinaus bewusstes Erleben ermöglichen. Im Jahr 2006 präsentierte Adrian Owen, Kognitions- und Neurowissenschaftler an der Universität Cambridge ein verblüffendes Ergebnis. In Zusammenarbeit mit dem Team von Steven Laureys forderte er eine britische Wachkomapatientin auf: "Stellen Sie sich bitte vor, Tennis zu spielen". Tatsächlich setzten sich bei ihr daraufhin etliche Hirnprozesse in Gang.

"Das war nichts, was automatisch im Gehirn hätte abgespult werden können. Denn wir präsentierten dem Patienten ja nicht einfach nur einen Reiz, etwa ein Wort oder ein Gesicht. Sondern wir baten ihn, sich selbstständig eine Szene vorzustellen, von der wir wussten, dass sie bestimmte Regionen des Gehirns aktivieren musste. Teile der motorischen Regionen im Gehirn werden aktiv, wenn man eine Bewegung macht oder sie sich vorstellt. Wir haben es wirklich probiert, aber es gelang uns nicht, vergleichbare Hirnreaktionen unbewusst oder automatisch hervorzurufen. Diese Patienten müssen also eine Intention haben, die Absicht, unserer Bitte Folge zu leisten. Die aktivierten Areale gehören zum Intentionsnetzwerk im Gehirn."

Kann man so klären, ob Wachkomapatienten bewusste Empfindungen haben? Ist damit vielleicht sogar eine präzise Prognose möglich?

Ansgar Herkenrath, der Musiktherapeut in Unna, singt auch mit Menschen im Wachkomazustand. Natürlich können diese selbst nicht artikuliert mitsingen - aber immer wieder geschieht Verblüffendes: ein Patient beginnt zum Beispiel in erschütternder Weise mitzuheulen und ahmt dabei den vorgegeben Melodiebogen nach. Er reagiert auf die Struktur von Tönen - ist das bereits ein Indiz für Bewusstsein?

Adrian Owens Experiment mit der britischen Wachkomapatientin, die sich vorstellte, Tennis zu spielen, hat Aufsehen auf der ganzen Welt erregt. Aber es gibt auch Skeptiker. Zum Beispiel Parashkev Nachev, Neurowissenschaftler am Imperial College in London.

"Das Problem im dauerhaften Wachkomazustand ist, dass es keine Möglichkeit gibt, einen Test objektiv zu bewerten, einfach weil wir keinen unabhängigen Bezugspunkt dafür haben. Wir wollen ja gerade einen völlig unüblichen Zustand des Geistes näher begreifen, also kann der Gehirnzustand gesunder Menschen kein wirklicher Vergleichsmaßstab sein. Wir bräuchten einen Bezugspunkt innerhalb des Wachkomazustands,um beurteilen zu können, was bestimmte Gehirnzustände für den Patienten bedeuten - und das ist schlichtweg unmöglich."

Die geschädigten Gehirne von Wachkomapatienten weichen per Definitionem stark von einem normalen Gehirn ab. Die Frage ist, ob man sie trotzdem mit normalen Gehirnzuständen vergleichen darf. Kann Hirnaktivität wirklich beobachtbares Verhalten ersetzen, aus dem wir normalerweise schließen, ob jemand bei Bewusstsein ist? Adrian Owen ist felsenfest davon überzeugt. Er stellte der britischen Wachkomapatientin noch ein zweite Aufgabe: er bat sie, sich vorzustellen, wie sie durch ihr eigenes Haus geht. Nun wurden im Gehirn der Frau Areale aktiv, mit deren Hilfe man durch Räume navigiert. Und zwar genau in der Reihenfolge, wie man es auch bei bewusstseinsfähigen Gehirnen erwarten würde.

"Die Patienten, die diesen Test bestehen, müssen außerdem ihr Gedächtnis aktivieren. Denn wir sagen ihnen, was wir von ihnen wollen, etwa 15 bis 20 Minuten, bevor wir sie in den Hirnscanner bringen. Wenn sie also in der Lage sind, unsere Bitte nach dieser Zeitspanne umzusetzen, muss ihr Gedächtnis funktionsfähig sein."

Hirnscans scheinen genügend Indizien zu liefern, um zwei Fragen zu beantworten. Erstens: Können Wachkomapatienten bewusstseinsähnliche Vorstellungen erzeugen? Die Mehrheit der Experten antwortet auf diese Frage inzwischen mit "ja". Zweitens: Lässt sich aus der Hirnaktivität schließen, dass sich der Zustand der Patienten bessern wird? Zumindest bei der britischen Patientin, die Adrian Owen untersuchte, war das der Fall.

"Das heißt nicht, dass die sich völlig erholt hat und ein ganz normales Leben führt, aber sie kann mit einem ihrer Körperglieder gezielt kommunizieren, sie hat einiges an Bewegungsfähigkeit wieder erlangt und kann auf Reize von außen reagieren. Sie ist definitiv nicht im Wachkomazustand."

Für Steven Laureys aus Lüttich ein Zeichen der Hoffnung: In Zukunft könnten bindende neurowissenschaftliche Kriterien für die Bewusstseinsfähigkeit von Komapatienten aufgestellt werden.

"Wir brauchen für die Wachkomapatienten einen vergleichbaren Testkatalog wie für den Hirntod. So können wir unsere klinische Beurteilung optimieren, um wirklich die Familie eines Patienten, die behandelnden Ärzte und das gesamte medizinische Begleitpersonal zu überzeugen, dass die beste Entscheidung gefällt wurde. Ich glaube, dass wir in den nächsten Jahren dorthin gelangen können, die Bewegungen und das Verhalten der Patienten besser zu interpretieren. Und bildgebende Analysen von Gehirnprozessen werden dabei eine entscheidende Rolle spielen."

Was kann im Vergleich dazu der beziehungsmedizinische Ansatz leisten, die körperorientierte Kommunikation mit dem Patienten?

Wenn Ansgar Herkenrath in Unna mit Wachkomapatienten arbeitet, beschäftigt ihn die Frage: antwortet ein Patient nur reflexartig auf seine Musik oder zeigt er bewusstseinsähnliche Reaktionen. Wenn ein Patient wiederholt gezielt antwortet und die musikalische Kommunikation mitsteuert, ist das für Ansgar Herkenrath die Bestätigung.

Andreas Zieger, der Oldenburger Neurorehabilitationsmediziner geht sogar noch weiter. Er plädiert dafür, sogar Reflexen größere Aufmerksamkeit zu schenken.

"Also auch die Streckreflexe oder auch das Kauen und Schmatzen sind sozusagen die diesen schwerstgeschädigten Menschen noch verbliebenen Kompetenzen, Kontakt mit der Umwelt aufzunehmen. In diesem erweiterten Verständnis gibt es keine sinnentleerten Reflexe, sondern sie zeigen uns an den Schweregrad der Schädigung."

Manchmal kann ein engagierter Umgang mit einem Patienten dazu führen, dass er mühsam wieder auftaucht. Wie bei diesem Patienten, der als austherapiert galt, nach intensiver Musiktherapie aber wieder - wenn auch schwer verständlich - sprach.

Für Andreas Zieger folgt aus solchen Erfahrungen: Man darf keinen Patienten so ohne weiteres aufgeben.

"Aufgeben ist eine schwierige Kategorie. Es gibt Menschen, deren Schädigungsausmaß ist so stark, sie sind so stark erschöpft, dass sie eben sterbensnah werden und da haben wir heute alle Möglichkeiten, diese Menschen dann auch palliativmedizinisch zu betreuen. Wir können sie begleiten im Sterben und wir müssen sie nicht zum Sterben bringen, denn Sterben ist letztlich eine Entscheidung des Organismus selbst, das ist für mich Ausdruck einer natürlichen Autonomie."

Man könnte aber auch weiter denken, wie Steven Laureys:

"Ich glaube, dass wir akzeptieren müssen, dass die Behandlung zwar erfolgreich sein kann, dass es aber auch Fälle gibt, bei denen keine Besserung möglich ist. Und dass wir das anhand unserer medizinischen Untersuchungen auch dokumentieren können."

Damit stellt sich die entscheidende Frage: Wie gut können neurowissenschaftliche Prognosen tatsächlich sein? Werden sie irgendwann so gut sein, dass man sie gar als Entscheidungsgrundlage benutzen darf? Adrian Owens Team hat seit 2006 20 weitere Koma-Patienten mit dem Auftrag "Spielen Sie bitte Tennis" versehen und danach Hirnscans angefertigt. Bei Dreien von ihnen reagierte das Gehirn und ihr Zustand verbesserte sich. Doch drei ist eine kleine Zahl. Und niemand kann sagen, was das Ergebnis genau bedeutet. Parashkev Nachev vom Imperial College London.

"Wir neigen zu der Auffassung, dass jemand entweder völlig bewusst ist oder völlig unbewusst, also stellen wir uns gerne vor, dass solche Patienten in einem Zustand vergleichbar dem locked-in-Syndrom sind, wo also ein Mensch mit einem intakten Geist in einem gelähmten Körper lebt. Aber das muss nicht so sein. Die Patienten können in verschiedensten Zwischenstufen zwischen dem Wachkoma und einem locked-in-Zustand existieren."

Es gibt noch viele Probleme bei der Diagnose und Prognose von Komapatienten, speziell im Wachkomazustand. Auch Adrian Owen und Steven Laureys gestehen dies freimütig zu. Noch gibt es für belastbare Prognosen viel zu wenig Hirnscans. Das dürfte sich in nächster Zeit zwar ändern, aber Owen sieht auch eine grundsätzliche Grenze:

"Wir können negative Resultate, also wenn wir nichts bei den Patienten finden, nicht endgültig mit dieser Technik bewerten. Aus mehreren Gründen: Wir können bei solchen Patienten zum Beispiel nicht feststellen, ob sie nicht einfach im Scanner eingeschlafen sind. Außerdem könnte es sein, dass ein Patient sich einfach nicht vorstellen will, Tennis zu spielen, er möchte nicht mit uns im Scanner kooperieren. Wenn wir also keine Hirnaktivität finden, dann können wir daraus keinesfalls den Rückschluss ziehen, dass er keinerlei Bewusstsein hat."

Wenn Steven Laureys in Lüttich also sagt, man müsse Prüfkriterien für Wachkomapatienten entwickeln, wie es sie für den Hirntod gibt, kann das letztlich nur heißen: man versucht, die Palette möglicher neurologischer Tests zu verfeinern. In seinem Institut in Lüttich arbeitet Laureys daher nicht nur mit bildgebenden Verfahren. Er lässt auch untersuchen, wie die Patienten reagieren, wenn man sie mit Namen anspricht, wenn man ihnen einen Finger, einen Ball oder einen Spiegel vorhält. Und er arbeitet daran, die Hirnstromaktivität der Patienten elektrisch abzuleiten, um noch mehr Details über ihre neuronalen Fähigkeiten zu erfahren. Solche Methoden wurden bereits früher verwendet. Gemeinsam mit der Bildgebung, meint Laureys, könnten sie aber ein viel besseres Gesamtbild vom Geist des Patienten liefern.

"Auch wenn man sehr vorsichtig sein muss und die Grenzen der Technik anerkennt, bedeutet das ja nicht, dass man nicht das Bestmögliche entwickelt und benutzt."

Eigentlich spricht nichts dagegen, dass sich der neurowissenschaftliche und der beziehungsmedizinische Ansatz dabei gegenseitig befruchten. Hirnscans am Jülicher Forschungszentrum zeigten zum Beispiel Anfang 2009 bei einer Wachkomapatientin: Obwohl sie sich nicht willkürlich bewegte, wurden emotionale Areale in ihrem Gehirn aktiv, wenn nahe stehende Personen gefühlvolle Sätze zu ihr sagten. Für Andreas Zieger belegen diese Hirnscans eine alte Erfahrung: Dass Patienten emotional empfinden können, auch ohne ein klares Bewusstsein. Umgekehrt brauchen die Neurowissenschaftler mehr Informationen darüber, wie sich das Verhalten von Patienten langfristig entwickelt. Erste Langzeitstudien laufen gerade an. Erst dann können sie beurteilen, wie aussagekräftig ihre Hirnbefunde tatsächlich sind.

Susanne Rafael ist heute 57ahre alt. Obwohl sie nur wenige Wochen im Koma lag und von selbst aufwachte, musste sie danach hart kämpfen, um wieder ins normale Leben zurückzukehren. Ein lohnenswerter Kampf.

"Also ich hatte ganz viel harte Sachen zu bewältigen, aber dieses Gefühl ‚Dafür hab ich jetzt den Unfall nicht überlebt, um mich kleinkriegen zu lassen, ich lass mich nicht unterkriegen’, das hat mich schon sehr getragen am Anfang oder auch die Freude, wenn ich was erleben konnte, also da war ich wirklich richtig glücklich."