Novy: Wir kommen damit zum 2. Teil unserer Osterreihe Krise der Kritik , heute mit dem Historiker Gustav Seibt, der sich mit dem Wesen der Kulturkritik auseinandersetzt, ihn habe ich gefragt, welche Absicht eigentlich an den Anfängen der Kritik stand.
Seibt: Naja, die Kritik wollte das Publikum erziehen und zwar nicht nur im Sinne des verfeinerten Geschmacks und der Kennerschaft, sondern eben auch durchaus moralisch erziehen. Und gleichzeitig wollte es die Regeln der Kunst etablieren, also wollte überprüfen, ob die eingehalten werden, ob sie in berechtigter Weise übertreten werden, das heißt, die Sache war im Grunde schon immer eine Art Zweifrontenkrieg, die Kritik ist in der Mitte, aber sie ist nicht nur Mittlerin, sondern sie ist eben auch die Korrektorin sowohl der Rezipienten wie der Produzenten.
Novy: Dann muss die Kunst aber im Lauf der Geschichte immer wieder über diese Kritik hinaus gewachsen sein, und die Kritik sich ihr angepasst haben.
Seibt: Ja, mit der Idee des ästhetischen Fortschritts ist das ganz unvermeidlich, wobei diese Idee ja relativ jungen Datums ist. An sich ging es ja mal um eherne Gesetze der Kunst, die von Aristoteles bis in die Jetztzeit, also über zweitausend Jahre, identisch geblieben sein sollen, also namentlich im Drama und in der Dichtung.
Und dann kam eben im späten 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Genieästhetik, aber auch mit der Geschichtsphilosophie, die Idee des ätherischen Fortschritts, das heißt der Selbstüberholung der Künste auf, und das wiederum hat der Kritik eine sehr starke Stellung gegeben, denn die Kritik war die Diagnostikerin und die Vermittlerin dieses ästhetischen Fortschritts und auch die Theoriebildung dieses ästhetischen Fortschritts gegenüber dem dann zwangsläufig etwas zurückbleibenden und etwas begriffsstutzigen Publikum. Und daher rührte bis vor kurzem ihre hohe Autorität. Sie war eben die Verbalisiererin des Zeitgeistes und der geschichtsphilosophischen Stunde. Das ist nun jetzt vorbei, das ist spätestens seit der Postmoderne vorbei und das ist auch eine der Ursachen des Geltungsverlustes von Kritik überhaupt. Dass das Publikum nicht mehr das Gefühl hat, dass wenn es was nicht versteht, es sich an die Kritik wenden muss, sondern vielleicht das Über-Ich etwas abbaut und sagt, ja, ist eben blöde Kunst, verstehe ich nicht.
Novy: Daher kommt ja auch der Vorwurf gegen die Kritik, den man immer wieder hört, dass der Kritiker dem Künstler den Griffel führt, auch das ist nichts Neues, sondern ein sehr alter Vorwurf, der Kritiker weiß mehr und überhebt sich über die Kunst, was ihm nicht zusteht.
Seibt: Ja, das ist natürlich immer die Kritik der Künstler und der Produzenten an den Kritikern gewesen. Also insofern ist die Kritik immer sehr angefochten gewesen von den beiden Adressaten ihres Tuns.
Novy: Heute ist es ja nun so, man könnte schon sagen, was nicht im Fernsehen vorkommt, existiert nicht, wie Berlusconi das ja in eigener Sache so schön gesagt hat. Heute existieren Literatur, Theater und Oper, auch klassische Musik, in Form von Event am meisten. Jedenfalls ist das ja etwas, was Analyse nicht gerne zulässt und andererseits kann man das wieder rechtfertigen dadurch, oder es wird dadurch gerechtfertigt, dass Kultur so die breite Masse erreicht, also ein ehrenwertes Anliegen. Was hat denn da die Kritik noch zu suchen in dieser Eventkultur?
Seibt: Na dort hat sie ganz wenig zu suchen. Da kann sie dann nur sich zur Trommlerin machen und dann eben verkünden ...
Novy: ... das tut sie ja auch.
Seibt: Das tut sie auch und dann sagt sie eben, lesen an sich ist gut, egal, was die Leute lesen und nun habt euch mal nicht so, besser sie lesen, als sie gucken Nachmittags-Talk-Shows, da ist ja auch was dran. Aber das bedeutet natürlich in der Sache selber ein starkes Herabmindern der ursprünglichen Ansprüche, und ich würde schon sagen, dass es Teile des Kulturbetriebs gibt, die inzwischen den ehrwürdigen Namen Kritik auch nicht mehr verdienen, obwohl sie an die Stelle gerückt sind, wo früher mal Kritik gewesen ist. Also diese ganzen flauschigen, einfühlsamen Porträts von Künstlern, die man dann bei Milchkaffee besucht und dann auch noch darüber berichtet, wie schön es bei Milchkaffee mit denen war, da würde ich sagen, dass darf man nicht mehr Kritik nennen, das ist irgendwas anderes.
Novy: Dann kann man natürlich auch wieder fragen, inwieweit die Kunst, beziehungsweise die Entwicklung der Kunst, dazu beigetragen hat. Also die Verschiebung vom Werk zum Künstler, vom Objekt zum Subjekt, die, oder die Definition von Kunst durch den Aufmerksamkeitsgrad, den der Künstler auf sich zieht, eine Entwicklung, die auch nicht neu ist.
Seibt: Ja, das hat es natürlich in der Genieästhetik auch schon immer gegeben, das gab es ja sehr stark Ende des 18. Jahrhunderts im Sturm und Drang, wo der Kritiker sich dann als der brüderliche Versteher des Künstlers geriert hat und im Grunde eine fast Zwei-Personen-Gemeinschaft öffentlich vorgeführt hat. Ich und der Künstler, oder der Künstler und ich, und das Publikum muss sich sehr bemühen dem folgen zu können. Aber das ist heute natürlich durch das Prominentenwesen und durch den Zugang über biografische und private Tatsachen in einer banalisierten und verbreiterten Form natürlich doch was anderes geworden. Es ist nicht mehr die Genieästhetik, sondern es ist eher das Gemenschle, was heute Platz gegriffen hat.
Novy: Man kann natürlich fragen, ob dieses Ausschließen von Kultur für alle einerseits und Analyse andererseits etwas besonders Deutsches ist. Also Frage: Ist die deutsche Kritik nicht im Vergleich mit anderen Nationen ganz besonders elitär, sagen wir mal, so auf Kleinzirklichkeit bedacht, auf Kanon, und Ausschließung eigentlich dann auch?
Seibt: Naja, es gibt solche Tendenzen in anderen Nationalkulturen auch und das hängt natürlich mit bestimmten ästhetischen Schulen zusammen. Also ob Malarmé und sein Kreis so viel weniger elitär waren, als der Georgekreis zum Beispiel, gleichzeitig in Deutschland, das wage ich mal zu bezweifeln. Was stimmt ist, dass die deutsche Kritik immer diesen sehr stark polemischen und, wenn man so will, kämpferisch agonalen Zug hatte. Das fällt wirklich auf. Das hängt mit dem starken Ehrgeiz der Kritiker in Deutschland zusammen, aber auch von der programmatischen Abtrennung vom Akademischen. Also Kritik will eben auf Teufel komm raus gar nichts mit Philologie zu tun haben. Und komischerweise führt das auch zu dieser Verschärfung, denn eine philologisch orientierte Kritik, also die so ein bisschen Gelehrsamkeit reinspielen lässt, die ist auch in der Regel viel gelassener. Also, wenn man in der angelsächsischen Welt sich das anschaut, dann sind die ruhigen, ausgeruhten, essayistischen Buchbesprechungen, mit ihrem bisschen professoralen Duktus, eben auch viel weniger polemisch. Übrigens dann seltsamerweise auch gar nicht weniger zugänglich, die sind oft sehr unterhaltsam, aber eben nicht durch dieses Krach machen, sondern durch die Eindringlichkeit und eben die Unterhaltsamkeit, die das Gründliche hat.
Novy: Liegt das nicht vielleicht auch daran, dass in der angelsächsischen Presse der objektive Welterklärerduktus überhaupt nicht so vorhanden ist, sondern dass dort, während der deutsche Kritiker, die deutsche Kritikerin sich scheut, ich zu sagen, das kennen ja die Angelsachsen nicht so, diese Scheu, trotzdem halten sie sich zugute, ein Kunstwerk sorgsam aufzuschlüsseln, sie verhehlen aber nicht den subjektiven Anteil.
Seibt: Ja, da herrscht diese sehr angenehme Clubatmosphäre, dass man immer die redende Person in gewisser Weise vorgeführt bekommt. Und es herrscht allerdings auch ein Grundgesetz des öffentlichen Streits, das im deutschen Kulturkreis nicht ganz so anerkannt ist, nämlich den Gegner immer von seiner stärksten Seite zu nehmen. Also dieser sportliche Geist, der absoluten Fairness, der auch die angelsächsische Kritik beherrscht, macht die Sache natürlich viel spannender. Dieser sportliche Geist ist eben auch Teil dieser durchaus nicht verhehlten Subjektivität, dass also der Kritiker mit seinen Grenzen, und auch seinem Common Sense, sich selber ins Spiel bringt, hat ja sofort diesen Gestus des antiabsoluten und des nicht ganz so kunstrichterlichen. Und das zusammen mit dieser Anstrengung, die andere Seite stark zu machen, führt dann natürlich zu einem angenehmeren, aber wie ich auch finde, teilweise viel interessanteren kritischen Auseinadersetzung.
Seibt: Naja, die Kritik wollte das Publikum erziehen und zwar nicht nur im Sinne des verfeinerten Geschmacks und der Kennerschaft, sondern eben auch durchaus moralisch erziehen. Und gleichzeitig wollte es die Regeln der Kunst etablieren, also wollte überprüfen, ob die eingehalten werden, ob sie in berechtigter Weise übertreten werden, das heißt, die Sache war im Grunde schon immer eine Art Zweifrontenkrieg, die Kritik ist in der Mitte, aber sie ist nicht nur Mittlerin, sondern sie ist eben auch die Korrektorin sowohl der Rezipienten wie der Produzenten.
Novy: Dann muss die Kunst aber im Lauf der Geschichte immer wieder über diese Kritik hinaus gewachsen sein, und die Kritik sich ihr angepasst haben.
Seibt: Ja, mit der Idee des ästhetischen Fortschritts ist das ganz unvermeidlich, wobei diese Idee ja relativ jungen Datums ist. An sich ging es ja mal um eherne Gesetze der Kunst, die von Aristoteles bis in die Jetztzeit, also über zweitausend Jahre, identisch geblieben sein sollen, also namentlich im Drama und in der Dichtung.
Und dann kam eben im späten 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Genieästhetik, aber auch mit der Geschichtsphilosophie, die Idee des ätherischen Fortschritts, das heißt der Selbstüberholung der Künste auf, und das wiederum hat der Kritik eine sehr starke Stellung gegeben, denn die Kritik war die Diagnostikerin und die Vermittlerin dieses ästhetischen Fortschritts und auch die Theoriebildung dieses ästhetischen Fortschritts gegenüber dem dann zwangsläufig etwas zurückbleibenden und etwas begriffsstutzigen Publikum. Und daher rührte bis vor kurzem ihre hohe Autorität. Sie war eben die Verbalisiererin des Zeitgeistes und der geschichtsphilosophischen Stunde. Das ist nun jetzt vorbei, das ist spätestens seit der Postmoderne vorbei und das ist auch eine der Ursachen des Geltungsverlustes von Kritik überhaupt. Dass das Publikum nicht mehr das Gefühl hat, dass wenn es was nicht versteht, es sich an die Kritik wenden muss, sondern vielleicht das Über-Ich etwas abbaut und sagt, ja, ist eben blöde Kunst, verstehe ich nicht.
Novy: Daher kommt ja auch der Vorwurf gegen die Kritik, den man immer wieder hört, dass der Kritiker dem Künstler den Griffel führt, auch das ist nichts Neues, sondern ein sehr alter Vorwurf, der Kritiker weiß mehr und überhebt sich über die Kunst, was ihm nicht zusteht.
Seibt: Ja, das ist natürlich immer die Kritik der Künstler und der Produzenten an den Kritikern gewesen. Also insofern ist die Kritik immer sehr angefochten gewesen von den beiden Adressaten ihres Tuns.
Novy: Heute ist es ja nun so, man könnte schon sagen, was nicht im Fernsehen vorkommt, existiert nicht, wie Berlusconi das ja in eigener Sache so schön gesagt hat. Heute existieren Literatur, Theater und Oper, auch klassische Musik, in Form von Event am meisten. Jedenfalls ist das ja etwas, was Analyse nicht gerne zulässt und andererseits kann man das wieder rechtfertigen dadurch, oder es wird dadurch gerechtfertigt, dass Kultur so die breite Masse erreicht, also ein ehrenwertes Anliegen. Was hat denn da die Kritik noch zu suchen in dieser Eventkultur?
Seibt: Na dort hat sie ganz wenig zu suchen. Da kann sie dann nur sich zur Trommlerin machen und dann eben verkünden ...
Novy: ... das tut sie ja auch.
Seibt: Das tut sie auch und dann sagt sie eben, lesen an sich ist gut, egal, was die Leute lesen und nun habt euch mal nicht so, besser sie lesen, als sie gucken Nachmittags-Talk-Shows, da ist ja auch was dran. Aber das bedeutet natürlich in der Sache selber ein starkes Herabmindern der ursprünglichen Ansprüche, und ich würde schon sagen, dass es Teile des Kulturbetriebs gibt, die inzwischen den ehrwürdigen Namen Kritik auch nicht mehr verdienen, obwohl sie an die Stelle gerückt sind, wo früher mal Kritik gewesen ist. Also diese ganzen flauschigen, einfühlsamen Porträts von Künstlern, die man dann bei Milchkaffee besucht und dann auch noch darüber berichtet, wie schön es bei Milchkaffee mit denen war, da würde ich sagen, dass darf man nicht mehr Kritik nennen, das ist irgendwas anderes.
Novy: Dann kann man natürlich auch wieder fragen, inwieweit die Kunst, beziehungsweise die Entwicklung der Kunst, dazu beigetragen hat. Also die Verschiebung vom Werk zum Künstler, vom Objekt zum Subjekt, die, oder die Definition von Kunst durch den Aufmerksamkeitsgrad, den der Künstler auf sich zieht, eine Entwicklung, die auch nicht neu ist.
Seibt: Ja, das hat es natürlich in der Genieästhetik auch schon immer gegeben, das gab es ja sehr stark Ende des 18. Jahrhunderts im Sturm und Drang, wo der Kritiker sich dann als der brüderliche Versteher des Künstlers geriert hat und im Grunde eine fast Zwei-Personen-Gemeinschaft öffentlich vorgeführt hat. Ich und der Künstler, oder der Künstler und ich, und das Publikum muss sich sehr bemühen dem folgen zu können. Aber das ist heute natürlich durch das Prominentenwesen und durch den Zugang über biografische und private Tatsachen in einer banalisierten und verbreiterten Form natürlich doch was anderes geworden. Es ist nicht mehr die Genieästhetik, sondern es ist eher das Gemenschle, was heute Platz gegriffen hat.
Novy: Man kann natürlich fragen, ob dieses Ausschließen von Kultur für alle einerseits und Analyse andererseits etwas besonders Deutsches ist. Also Frage: Ist die deutsche Kritik nicht im Vergleich mit anderen Nationen ganz besonders elitär, sagen wir mal, so auf Kleinzirklichkeit bedacht, auf Kanon, und Ausschließung eigentlich dann auch?
Seibt: Naja, es gibt solche Tendenzen in anderen Nationalkulturen auch und das hängt natürlich mit bestimmten ästhetischen Schulen zusammen. Also ob Malarmé und sein Kreis so viel weniger elitär waren, als der Georgekreis zum Beispiel, gleichzeitig in Deutschland, das wage ich mal zu bezweifeln. Was stimmt ist, dass die deutsche Kritik immer diesen sehr stark polemischen und, wenn man so will, kämpferisch agonalen Zug hatte. Das fällt wirklich auf. Das hängt mit dem starken Ehrgeiz der Kritiker in Deutschland zusammen, aber auch von der programmatischen Abtrennung vom Akademischen. Also Kritik will eben auf Teufel komm raus gar nichts mit Philologie zu tun haben. Und komischerweise führt das auch zu dieser Verschärfung, denn eine philologisch orientierte Kritik, also die so ein bisschen Gelehrsamkeit reinspielen lässt, die ist auch in der Regel viel gelassener. Also, wenn man in der angelsächsischen Welt sich das anschaut, dann sind die ruhigen, ausgeruhten, essayistischen Buchbesprechungen, mit ihrem bisschen professoralen Duktus, eben auch viel weniger polemisch. Übrigens dann seltsamerweise auch gar nicht weniger zugänglich, die sind oft sehr unterhaltsam, aber eben nicht durch dieses Krach machen, sondern durch die Eindringlichkeit und eben die Unterhaltsamkeit, die das Gründliche hat.
Novy: Liegt das nicht vielleicht auch daran, dass in der angelsächsischen Presse der objektive Welterklärerduktus überhaupt nicht so vorhanden ist, sondern dass dort, während der deutsche Kritiker, die deutsche Kritikerin sich scheut, ich zu sagen, das kennen ja die Angelsachsen nicht so, diese Scheu, trotzdem halten sie sich zugute, ein Kunstwerk sorgsam aufzuschlüsseln, sie verhehlen aber nicht den subjektiven Anteil.
Seibt: Ja, da herrscht diese sehr angenehme Clubatmosphäre, dass man immer die redende Person in gewisser Weise vorgeführt bekommt. Und es herrscht allerdings auch ein Grundgesetz des öffentlichen Streits, das im deutschen Kulturkreis nicht ganz so anerkannt ist, nämlich den Gegner immer von seiner stärksten Seite zu nehmen. Also dieser sportliche Geist, der absoluten Fairness, der auch die angelsächsische Kritik beherrscht, macht die Sache natürlich viel spannender. Dieser sportliche Geist ist eben auch Teil dieser durchaus nicht verhehlten Subjektivität, dass also der Kritiker mit seinen Grenzen, und auch seinem Common Sense, sich selber ins Spiel bringt, hat ja sofort diesen Gestus des antiabsoluten und des nicht ganz so kunstrichterlichen. Und das zusammen mit dieser Anstrengung, die andere Seite stark zu machen, führt dann natürlich zu einem angenehmeren, aber wie ich auch finde, teilweise viel interessanteren kritischen Auseinadersetzung.