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Verteidigung der Leidenschaft

Mit "Der Geschmack von Rost und Knochen" hat Jacques Audiard das Melodram-Genre neu belebt. Die Geschichte vom bulligen Bodyguard und der zerbrechlichen Tiertrainerin bewegt und berührt.

Von Josef Schnelle |
    Ali ist obdach- und mittellos, findet jedoch schließlich Zuflucht bei seiner Schwester in Antibes. Dort wohnen Ali und sein kleiner Sohn Sam in der Garage des Hauses. Er schlägt sich buchstäblich durch - als Türsteher und Wachmann. Eines Nachts - bei einer Kneipenschlägerei - rettet Ali die schöne Stephanie vor dubiosen Typen. Er bringt sie nach Hause und ergattert ihre Telefonnummer. Die nächste Begegnung der beiden viele Wochen später ist ernüchternd. Stephanie – Schwertwaltrainerin in einem Unterhaltungspark - ist nach einem Unfall an den Rollstuhl fesselt. Die junge Frau muss lernen, mit ihrer Behinderung – vom Knie an sind ihr beide Beine amputiert worden - umzugehen. Irgendwann fasst sie sich ein Herz und ruft Ali an. Er kommt sofort und staunt.

    "Die Versicherung zahlt das hier." – "Und? Bist du ganz allein, hilft dir jemand?" – "Beim Laufen oder was?" – "Nein, mit dem Haushalt und so." – "Doch, doch – da kommt ständig jemand." – "Ist alles O.K.? Stephanie?" – "Ist hier schlechte Luft?" – "Stinkt 'n bisschen." – "Ich glaub, das bin ich." – " Komm wir gehen raus."

    Marion Cotillard hat sich natürlich nicht die Beine abhacken lassen für diese Rolle und schwebte zur Weltpremiere in Cannes schöner denn je als entrücktes Zauberwesen über den roten Teppich. Digitale Künste haben im Film die Beinstümpfe überzeugend simuliert. Das Tolle an diesem Film ist aber nicht diese Illusionskunst. Audiard gelingt es - den Rost, der die Träume angefressen hat, und die Knochenstruktur der Lebensrealität mit seinem stets ungemein bildkräftigen Stil sichtbar zu machen. Ali ist ein Bär von einem Mann. Sein brummiger, scheinbar gefühlloser Auftritt ist ein Segen für die junge Frau, deren Leben vorbei zu sein scheint. Sie schämt sich ihrer unverschuldeten Behinderung und empfindet ihr Leben nur noch als ferne Erinnerung.
    "Ich hab gern die Blicke auf mich gezogen. Auch geflirtet. Das hat mir gut getan. Allein zu wissen: Ich könnte, wenn ich wollte. Aber alles danach hat mich gelangweilt." – "Und jetzt?" – "Nichts. Ich weiß nicht mal mehr, wie das ist. Ob das überhaupt noch funktioniert." – "Keine Lust mehr?" – "Das hab ich nicht gesagt. Klar hab ich Lust."

    Ali redet nicht drum herum. Gleich geht's um Sex. Aber er ist auch ein guter Kumpel. Er schleppt Stephanie zum Strand und bringt sie dazu, sich zu trauen, wieder schwimmen zu gehen. Ein befreiender Moment für die junge Frau, die ihr Leben schon aufgegeben hatte. Beiden Charakteren fehlt etwas. Stephanie fehlen ihre schönen Beine, die Männerblicke auf sich gezogen haben. Ali aber fehlt jegliches Mitgefühl. Manchmal wirkt er nur noch wie ein grober Klotz. Sein Geld verdient er schließlich bei illegalen "Freestyle"-Brutalboxkämpfen auf vergessenen Industriegeländen und irgendwann wird Stephanie seine taffe Managerin. Dass sich eine romantische Liebesgeschichte angebahnt hat, verstehen sie beide zunächst nicht. Selbst der Sex zwischen ihnen wird verhandelt wie ein Drogendeal.

    "O.K. Wenn du wieder Lust hast und grad niemand da ist, ruf an. Wenn ich OPé bin geht's los." – "Wenn Du OPé bist?" – "Ja, das sagt man so OPé: Ohne Plan." – "Wenn Du OPé bist, dann?" – "Genau. Was ist." – "Nichts, alles Super." - "Tschau."

    Jacques Audiard hat mit diesem bewegenden Film das Melodram-Genre neu belebt, was er auch seinen Hauptdarstellern zu verdanken hat. Marion Cotillard ist so schön wie zerbrechlich. Der belgische Schauspieler Mathias Schoenerts trägt sie als "Bodyguard" mühelos durch den Film.

    Unumwunden deckt Audiard die Verletzungen auf, die man nicht sehen kann, und muss Farbe bekennen als Verteidiger der Leidenschaft, die man manchmal nicht so schnell erkennt. Die Zärtlichkeit, mit der Audiard seine Figuren beschreibt, sucht im europäischen Autorenkino ihresgleichen. Am Ende muss Ali dickes Eis zerschmettern, um seinen Sohn zu retten, und Stephanie muss sich aus ihrem schützenden Kokon lösen und neue Gefühle zulassen. Früh im Kinojahr ist dieser Film ganz sicher ein fast konkurrenzloser Höhepunkt.