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Vielseitigkeit einer populären Literaturform

Der Germanist Wulf Segebrecht hat in der Anthologie "Deutsche Balladen" Überraschendes zusammengestellt, was nicht unbedingt mit der Gattung verbunden wird. So hat er das Spektrum der Literaturform um Kabarett-Lieder, Rap-Texte und zeitgenössische Gedichte erweitert.

Von Cornelia Staudacher |
    "Das Blut an meinen Händen" heißt das Lied der Gruppe Tocotronic, mit dem die Anthologie beginnt. Kryptisch in seiner postmodernen Attitüde erzählt es von einer nicht eindeutigen Liebe in den Zeiten multimedial unbegrenzter Möglichkeiten. Eine "Ausweitung der Balladenzone für Entdecker, Sammler und Genießer" verspricht der Verlag in der Ankündigung dieser neuen, von Wulf Segebrecht zusammengestellten Anthologie aus Balladen und balladenähnlichen Texten. Und tatsächlich findet sich manch Überraschendes, was man nicht unbedingt erwartet in der Sammlung einer literarischen Gattung, deren Kanon der Leser längst zu kennen glaubt und die auch in der Germanistik ein häufig beackertes Feld darstellt. Zumal wenn es sich bei dem Herausgeber um einen Professor der Germanistik handelt.

    Neben Volks- und Küchenliedern, Moritaten, Flugblatttexten und Bänkelgesängen, die von den Expressionisten wiederaufgenommen und weiterentwickelt wurden, hat Segebrecht das Spektrum mit Schlagertexten und Liedern von Songwritern und Kabarettisten und Texten aus der Rap- und Slam Poetry erweitert, sowie mit zeitgenössischen Gedichten beispielsweise von Nora Gomringer oder Thomas Meinecke, die sich den klassischen Kriterien Reim, Versmaß und Strophenform verweigern. Bei seinem Bestreben, das Genre so weit wie möglich zu fassen, hat sich Segebrecht weder vom literarischen Nimbus noch von allzu engen formalen Kriterien einschränken lassen.

    "Das kann man wohl sagen. Ich habe von Flugblättern, Zeitungsliedern, alten Volksballaden, Volksliedern über Bänkelsang, Moritat, Kabarettlied, kritisch-ironische Texte, Küchenlieder bis hin zur Rapliteratur der Gegenwart sehr viele Texte aufgenommen, die man sonst in Balladenanthologien nicht so leicht findet. Was ist eine Ballade? Das ist eine durchgängige Frage. Die Frage soll man sich immer stellen, wenn man die Balladenanthologie liest. Und man verlässt, glaube ich, zunehmend die enge Definition der Ballade, die in der Klassik und Romantik realisiert worden ist, in dem Sinne, dass hier eine Hintergrund-geschichte sich abspielt, im Text von Nora Gomringer, ein schrecklicher Vorgang, die aber in der Form dargeboten wird, die dem lyrischen Gedicht eigen ist."

    Die Hoch-Zeit der deutschen Balladendichtung war das 18. und 19. Jahrhundert und so nehmen die Balladen aus dieser Zeit einen großen Raum ein. Balladen gehörten zum bürgerlichen Bildungsgut. Sie dienten als Erbauungsliteratur für die ganze Familie und hatten gleichzeitig eine erzieherische Wirkung.

    Goethe, Schiller, Eichendorff, Chamisso und Mörike, Heine, Conrad Ferdinand Meyer und Annette von Droste-Hülshoff – sie alle schrieben Balladen und manche, wie Bürger, Geibel oder Körner haben sich vor allem durch die eine oder andere Ballade ins literarische Gedächtnis der Nation eingeschrieben.

    In der Literaturwissenschaft wurde die Ballade wegen ihrer erzählerischen Kraft lange Zeit der epischen Gattung zugerechnet. Goethe und Schiller, deren Balladen zu den bekanntesten überhaupt gehören, setzten sich auch theoretisch mit der Wirkungsgeschichte und der Popularität der Ballade auseinander. Schiller schätzte sie als ein probates Mittel, einen breiten Leserkreis zu erreichen. Goethe sah in ihr eine literarische Urform, in der sich die Gattungen Lyrik, Dramatik und Epik vereinen, ein (Zitat) "UR-Ei, das nur bebrütet werden darf, um, als herrlichstes Phänomen, auf Goldflügeln in die Lüfte zu steigen".

    "Man muss dabei bedenken, dass die Balladen bei Goethe und Schiller ein Teil ihres Literaturprogramms gewesen sind. Die Popularisierung gehört dazu, wenn man möchte, dass die Literatur Effekte erzielen kann, dass sie pädagogisch wirksam werden kann. Dann muss man sie auch in einer Form darbieten, die dem breiten Publikum zugänglich ist. Heute wird in der Literaturwissenschaft in aller Regel die Ballade als eine episch fiktionale Gattung verstanden. Und das denke ich, ist ganz gegen die Intention der Autoren, die ihre Balladen immer als Gedichte gelesen haben, und so begegnen sie uns ja auch im Schulunterricht. Also die Ballade als lyrische Gattung, die aber zugleich auch erzählen kann, und was sie erzählt das sind dramatische Geschichten."

    Das inhaltliche Spektrum der Ballade ist schier unerschöpflich. Es reicht von Mord und Totschlag über Liebesleid oder -glück und persönliche Schicksalsschläge bis zu gesellschaftlichen und politischen Ereignissen, Unglücksfällen, Kriegen und Naturkatastrophen. Heiteres und Düsteres, Triviales und Erhabenes, Alltägliches und Außergewöhnliches, Privates und Öffentliches, aber auch Tragisches und Komisches treffen in der Ballade aufeinander.

    "Also wenn Sie an Schillers berühmte Ballade vom Handschuh denken, dann sehen Sie, dass am Ende die ganze Ballade in eine komische Szene einmündet, weil der Dame, die gefordert hat, dass der Handschuh aus dem Löwenkäfig herausgezogen wird, den Handschuh ins Gesicht geschlagen bekommt. Das ist natürlich eine Komik, die damals, als Schiller die Ballade in Weimar vorgelesen hat, die Damen empört hat, so kann man doch nicht mit einer Dame umgehen, auch wenn sie Sinnloses fordert, dass man ihr den Handschuh ins Gesicht schlägt."

    Wulf Segebrechts Anthologie ist nicht nur ein Beleg für die formale und inhaltliche Vielseitigkeit der Ballade, ihre Wandlungsfähigkeit und Lust zur Grenzüberschreitung. Es ist ihm auch gelungen, diesem von ihm als "Affekterregungskunst" bezeichneten Genre eine neuerliche Attraktivität abzugewinnen. Dabei hilft ihm die chronologische Anordnung der Texte. Im Gegensatz zu den meisten herkömmlichen Anthologien beginnt er mit zeitgenössischen Texten und geht dann zurück bis zu den Anfängen, den anonymen Volksballaden des Spätmittelelters.

    "Ich empfinde sie als völlig natürlich. Wir blicken ja von heute auf die Geschichte zurück. Wir fragen nicht zuerst, was ist der Uranfang der Ballade, sondern wo begegnen wir heute noch Texten, die Geschichten erzählen. Und das kann sehr überraschend sein, dieser Anfang, weil man sich fragt, wie stimmt das überein mit der Vorstellung von der Ballade, der wir beispielweise in der Schule oder beim Leseleben begegnet ist. Ich beginne ja mit einem Text aus der Popliteratur. Das ist ein anonymer Text eigentlich, weil die ganze Band dafür verantwortlich ist. Und wenn man dann auf die letzten Seiten der Anthologie blickt, dann begegnet man wieder anonymen Texten, die nicht ein einzelner Autor zu verantworten hat. Und im Laufe der Lektüre, so stell ich mir das vor, entdeckt man immer mehr solche Züge der Ballade, die gleich geblieben sind, obwohl die Ballade sich so stark verändert hat."

    Im Anhang findet sich neben einem informativen, spannend zu lesenden Nachwort ein mit Anmerkungen zum Ersterscheinungsdatum und kurzen philologischen Erläuterungen versehenes Inhaltverzeichnis und ein Verzeichnis der Gedichtanfänge und -überschriften, das die Suche nach einem ganz bestimmten Gedicht leicht macht.

    Wer sich aber auf die vorgegebene Abfolge der Texte einlässt, begibt sich auf eine spannende Entdeckungsreise durch die Gezeiten der Literatur bis in die Gegenwart. Da der Autor den zeitlichen, inhaltlichen und gattungsgeschichtlichen Komponenten gleichermaßen Bedeutung beimisst, ergeben sich überraschende inhaltliche und formale Korrespondenzen, stoffliche Parallelen und thematische Verknüpfungen. Die vom Verlag angekündigte "Ausweitung der Balladenzone" gleicht einer Entstaubungsaktion. In der Korrespondenz mit den modernen Gedichten und trivialen Texten erstrahlen auch die wohlbekannten, manchem vielleicht veraltet erscheinenden Balladen in einem neuen Licht. Der sorgfältig edierte, fast 700 Seiten umfassende Band ist ein überzeugendes Plädoyer für die unverwüstliche Attraktivität einer noch immer populären Literaturform.

    "Deutsche Balladen. Gedichte, die dramatische Geschichten erzählen", herausgegeben von Wulf Segebrecht, Carl Hanser Verlag, München 2012, 885 Seiten, 34,90 Euro.