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Vilém Flusser zum 25.Todestag
Der melancholische Visionär

Er war ein wahrhaft existenzialistischer Denker: Am Anfang des Denkens von Villém Flusser stand die Suche nach einer Antwort auf Auschwitz. Doch auf Umwegen wurde der Philosoph und Kommunikationstheoretiker zum Visionär der Digitalen Revolution.

Von Rolf Wiggershaus | 27.11.2016
    er Kommunikationstheroretiker und Medienphilosoph VilemFlusser in einer Aufnahme von 1989.
    Der Kommunikationstheroretiker und Medienphilosoph VilemFlusser in einer Aufnahme von 1989. (dpa / Wöstmann)
    "Ich bin mit Heimaten und mit Heimatverlusten bekannt geworden. Diese meine Erfahrung und die darauf beruhende tägliche Praxis mögen eins der Motive sein, die mich zum Studium der Kommunikationsprobleme führten. Ich sah und sehe in der menschlichen Kommunikation den immer wieder scheiternden Versuch, über die Abgründe zwischen den Menschen und den menschlichen Gruppen Brücken zu schlagen."
    So Vilém Flusser im O-Ton.
    Ausgerechnet, als er nach einem halben Jahrhundert erstmals wieder in seiner Heimatstadt Prag gewesen war, um dort einen Vortrag zu halten, geschah das Unglück. Auf der Rückfahrt nach Deutschland, wo er an der Ruhr-Universität Bochum eine Gastprofessur übernommen hatte, kam der Philosoph und Kommunikationswissenschaftler Vilém Flusser am 27. November 1991 71-jährig bei einem Autounfall ums Leben.
    Eine Antwort auf Auschwitz finden
    Er war ein wahrhaft existenzialistischer Denker. Philosophieren bedeutete für ihn: sich in unübersichtlicher Situation zu orientieren. Für ihn persönlich bedeutete es auch: eine Antwort auf Auschwitz zu finden.
    Flusser, 1920 in Prag geboren, entstammte einer jüdischen Akademikerfamilie. 1939, er hatte eben mit dem Philosophie-Studium begonnen, floh er vor den deutschen Besatzern nach England. Vater, Mutter, Schwester und Großeltern wurden in deutschen Konzentrationslagern ermordet.
    Flusser floh mit seiner späteren Frau und deren Familie weiter nach Brasilien, in das Land, das ihnen als Erstes Visa erteilte. Vilém Flusser:
    "Brasilien war existenziell ein 'no man's land'. Es war niemandes Heimat, sondern ein leeres Land, aus dem die Einheimischen vertrieben wurden.
    Daher wurden die Einwanderer nicht als hässliche Fremde, sondern vorurteilslos als heimatlose Schicksalsgenossen empfangen. Eine brasilianische Philosophie war in Zusammenarbeit mit einigen wenigen Schicksalsgenossen überhaupt erst zu schaffen."
    "Das unerträgliche Chaos, das die Welt ist, mir von der Leber zu schreiben"
    Aber bis es dazu kam, war eine lange Durststrecke zu überstehen. Zwei Jahrzehnte lang war Flusser in São Paulo unter anderem in der Import-Export- Firma seines Schwiegervaters tätig. Zum philosophischen Schriftsteller fühlte er sich indes immer stärker berufen. 1959 schrieb der fast 40-Jährige an einen Cousin in Jerusalem:
    "Du musst nämlich wissen, dass ich wie fieberhaft einherschreibe, von einem daimon gehetzt, in der Hoffnung, das unerträgliche Chaos, das die Welt ist, mir von der Leber zu schreiben."
    Doch dann begann Anfang der 1960er-Jahre eine rasche Doppelkarriere als Journalist und Wissenschaftler. Als Berater des Außenministeriums hielt er Gastvorlesungen an europäischen und amerikanischen Universitäten. Damit geriet er zwischen die Fronten von brasilianischer Militärdiktatur und oppositionellen Studenten. 1972 nutzte er eine internationale Vortragsreise zur Übersiedlung mit Frau und Kindern nach Europa.
    Leidenschaftlicher Debattierer
    Der Medientheoretiker und spätere Leiter des Vilém-Flusser- Archivs, Siegfried Zielinski, erlebte ihn bei Symposien und Kongressen als charismatischen Debattierer:
    "Er war ein durch und durch dialogisch, ja, man kann auch sagen multilogisch angelegter Denker. Er brauchte den Anderen als Gegenüber, um überhaupt richtig in Fahrt zu kommen, um seine Gedanken voll entfalten zu können."
    Zu Flussers als Anregung und Herausforderung gedachten Ideen gehörte ein eigenwilliges Stufenmodell der Zivilisation. Danach führte sie von der "vieldimensionalen" Lebenswirklichkeit über die "dreidimensionale" Kultur des Erfassens und Bearbeitens, die "zweidimensionale" des Bildes und die "eindimensionale" des Textes zur "nulldimensionalen" der Zahlenfolgen von Computer-Codes.
    Doch der als Visionär der Digitalen Revolution Gepriesene war eher ein Verzweifelter, der angesichts einer Entwicklung, die er für irreversibel hielt, die Hoffnung nicht aufgeben wollte. Von einer "telematischen" Gesellschaft, die mittels dezentraler Vernetzung dialogische Beziehungen über beliebige Distanzen hinweg ermöglicht, erhoffte er eine Rückkehr zur Nächstenliebe.
    "Allerdings nicht in jene Nächstenliebe, die das Juden-Christentum meint, nämlich den mir gegebenen Nächsten, sondern jetzt die Liebe, die Verantwortung für den mir nahegebrachten Entfernten."
    Nach Flussers Tod begannen gleich zwei Verlage mit der Publikation der Texte dieses Dichter-Philosophen, der selber zeitlebens eine mechanische Reiseschreibmaschine benutzte.