Donnerstag, 25. April 2024

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Villenkolonie Griebnitzsee
Mit dem Kajak auf den Spuren der Potsdamer Konferenz

Von Klaus Lockschen | 05.10.2014
    "Zur Straßenseite nicht zu protzig, damit das Volk nicht unruhig wird." So lautete um 1870 die Auflage von Kaiser Wilhelm I. beim Bau der noblen Villenkolonie in Neubabelsberg. Wer in Berlin zu Reichtum gekommen war, war bestrebt, der Großstadthektik den Rücken zu kehren und die Stille zu suchen, wie am beschaulichen Ufer des Griebnitzsees in Potsdam, unmittelbar neben der Berliner Stadtgrenze und in Kaiserreichweite direkt hinter dem Schloss Babelsberg gelegen.
    Industrielle, Bankiers, Künstler und Wissenschaftler lassen auf den 176 meist riesigen Parzellen ihre Häuser bauen, oft von Architekten wie Gropius, Muthesius, van der Rohe. Während der Nazizeit werden hier die meisten jüdischen Eigentümer enteignet, und auch nach Kriegsende kehrt wenig Ruhe ein.
    "Als die Russen diese Gegend übernommen haben, hat der Stalin entschieden, diese Kolonie für die Delegationen zu benutzen. Und die Russen haben sie einfach ein paar Stunden gegeben, ihre Sachen zu packen",
    erklärt Mathew Casper, der sympathische Kalifornier mit Wahlheimat Potsdam. Er wird unserer international bunt gemischten Gruppe von 14 Personen in sieben Kajaks auf der Spurensuche rund um die Geschichte von Kolonie und Potsdamer Konferenz kräftig einheizen. Start ist das Ufer vis-à-vis des S-Bahnhofes Griebnitzsee, zu DDR-Zeiten Grenzkontrollpunkt im Eisenbahn-Transitverkehr zwischen Westberlin und Helmstedt.
    "Eine Frage, aber ich muss das fragen: Könnt ihr alle schwimmen?" - "Ja." - "Alle? Everybody can swim?" - "Yeah" - "Okay!"
    Zuvor aber gibt der 49-jährige Guide noch einen Schnellkurs Paddeln.
    "If you don´t wanna get wet from the drops coming down, than..."
    Die Boote werden zu Wasser gelassen. Wackelig ist der Einstieg.
    "Seid ihr jetzt bereit, seid ihr so weit?" - "Ja!" - "Okay, los geht´s!"
    Nahe des Ufers machen wir uns mit den Booten vertraut, und auch Kajakfrischlinge fühlen sich schnell sicher. Nach nicht einmal fünf Minuten unserer rhythmischen Wassergymnastik schon der erste Stopp:
    "Also wir halten uns hier an, weil das ist die erste richtig interessante Villa. This is the first villa, that is very interesting, because this is the villa where Truman stayed."
    Unser Blick gilt der zur Seeseite dreigeschossigen Jugendstilvilla, mittig ein Türmchen auf dem Dach. 1881 wurde das Haus als Sommerresidenz gebaut für Carl Müller-Grote, Verleger der Werke von Theodor Fontane.
    "In dieser Villa hier wohnte Harry Truman von den Amerikanern. Roosevelt ist von einem Stroke, einem Anschlag, Hirnanschlag in April gestorben und Harry Truman als Vizepräsident ist Präsident geworden. Und Stalin hat ihm die Villa hier gegeben und seitdem ist es auch als das Weiße Haus bekannt, das kleine Weiße Haus. Aber es ist auch dafür bekannt, er hat eine Nachricht bekommen: ‚The baby is born', also ‚das Kind ist geboren'. Habt ihr eine Ahnung, was das heißt?" - "Die Atombombe ist fertig." - "Genau, die Atombombe ist erfolgreich getestet worden."
    Den Befehl zum Abwurf auf Hiroshima und Nagasaki erteilte Truman in diesem Gebäude. Mich ergreift eine Gänsehaut. Wir paddeln das Ufer entlang, vorbei an weiteren, zauberhaften Villen auf riesigem Grund. In einem Garten wird die Hanglage genutzt, um über eine lange Edelstahlrutsche energiefrei per Schwerkraft das Ufer zu erreichen. Wenige Paddelschläge weiter beeindruckt auf gepflegtem Rasen eine zum See ausgerichtete Haubitze. Hoffentlich ungeladen. "Gegen Piraten."
    Kurz danach passieren wir das parkartige Grundstück mit der Backsteinvilla der Großindustriellen Günter und Magda Quandt. "Sie hat ihn in 1933 verlassen für Joseph Goebbels. Und Goebbels ist damals bekannt als der Bock von Babelsberg. Er war viel hier unterwegs hinter die Schauspielerinnen her von den Studios Babelsberg. Und sie hat sechs Kinder mit Joseph Goebbels gehabt und dann Selbstmord mit den Kindern zusammen nach dem Krieg mit Hitler zusammen."
    Kaum eine Villa an diesem See ohne erwähnenswerte Geschichte. Nahe der Quandt-Villa steht das Landhaus des Rennfahrers Hans Stuck, der in seinen 40 aktiven Jahren 411 Rennen gewann.
    "So, jetzt werden wir über den See gehen. Now we gonna go across the lake, okay? We wonna wait to make sure that no boats are coming, and then I show you the Churchill-villa."
    Hinüber an dieser besonders schmalen Stelle zu den Holzbuhnen, die das Ufer vor den Wellen größerer Schiffe schützen. Schließlich durchzieht den rund drei Kilometer langen und im Schnitt 200 Meter breiten See eine Bundeswasserstraße, was einige Schwimmer nicht daran hindert, sich weit ins betonnte Fahrwasser zu wagen.
    Wir liegen nun vor dem bewaldeten Berliner Ufer. Um uns herum verharren Fischreiher bewegungslos beim Beutefang, Kormorane trocknen mit ausgebreiteten Flügeln ihr Gefieder. Unser Guide deutet zurück auf die Uferseite, von der wir gekommen sind:
    "Das ist bekannt als der Churchill-Villa, weil es der Ort ist, wo Churchill gewohnt hat während der Konferenz in Potsdam."
    Rosa gestrichen ist das neoklassizistische Haus, und riesengroß. Gebaut wurde es 1914 von Mies van der Rohe, dem späteren Bauhaus-Direktor, für den Deutsche Bank-Mitbegründer Franz Urbig. Heutiger Eigentümer ist der SAP-Gründer Hasso Plattner.
    Churchill sei wortgewandt gewesen, bemerkt Math.
    "Der war sehr schlagfertig, als Beispiel: Stalin hat gemerkt, dass Churchills Reißverschluss auf war und hat ihm in schlechtes Englisch auf ein Zettel geschrieben: ‚Dein Käfig ist offen'; also ‚your cage is open'. Und niemand hat der Mut, Stalin zu korrigieren, und es ist so falsch angekommen: ‚Your cage is open.' Und Churchill versuchte, das einzuordnen, was das heißt. Er schrieb: ‚No worry, this bird doesn´t fly anymore!'" - Keine Sorge, dieser Vogel fliegt nicht mehr.
    Die Möwen aber schon. Sie ziehen lebhaft ihre Kreise und begleiten uns, vorbei am Landhaus der Elise Wentzel-Heckmann, dem ersten weiblichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften im Jahr 1900, dem heute ein reetgedecktes Bootshaus in der Größe eines Einfamilienhauses vorgebaut ist, hin zur weißen von-Tresckow-Villa.
    "And then you have the movie with Tom Cruise, "Walküre". Do you know, what´s it about? The 20th of July 1944 was the bombing-attempt on Hitler. And that was a real event and that was planned in that villa there, it is called the von-Tresckow-villa."
    Der hier von der Gruppe um von Stauffenberg und von Tresckow auf der Wolfschanze geplante Anschlag scheiterte bekanntlich. Mehr als 200 Personen wurden daraufhin hingerichtet.
    Mit viel Manpower reiste Stalin seiner Flugangst wegen per Bahn von Moskau an: 16.000 Soldaten wurden zu seinem Schutz entlang der Strecke abgestellt, um hier unversehrt die konfiszierte Villa des Pelzhändlers Heprich zu erreichen.
    "Die nächste Villa, wir können sie kaum sehen, auf dem Rückweg werden wir sie wiedersehen. Sehen Sie diesen Kamin da oben, ganz oben? The next villa we gonna see is where Stalin stayed."
    Bäume schränken die Sicht auf das relativ bescheiden wirkende Gebäude ein. Math zückt die Kopie einer historischen Aufnahme: Unterm Strich kaum ein Unterschied. Alkohol floss aber damals wohl reichlicher, schmunzelt er:
    "Nach der Wende hat ein Gärtner im Wintergarten einen Graben voll mit leeren Wodkaflaschen gefunden. Weil das erste, was er gemacht hat, er hat die anderen Delegationen zu Parties eingeladen, Saufparties, ja, sie haben viel getrunken. Und wir denken, dass er wahrscheinlich versuchte, dass sie mit Kater zum Verhandeln kommen. Was bei Churchill nicht aufgehen würde, weil er hat mehr Alkohol als Blut gehabt."
    Noch wenige Paddelschläge, vorbei an den ehemaligen Villen von Lilian Harvey und General von Schleicher, und wir durchqueren ein Kanalstück. Unsere jüngste Teilnehmerin, die siebenjährige Pauline, deutet auf einen besonderen Blickfang, der von den Ufermauern rankt:
    "Yuhu, Brombeeren. Hast du?" "Nein.... Hier hast du!" - "Danke! Kann ich essen?" - "Ja!" - "Die sind lecker."
    Vor uns liegt die Glienicker Lake. Links der wie aus einem Märchen stammende Babelsberger Schlosspark, in dem Jogger ihren Puls ankurbeln, rechts die damalige DDR-Exklave Klein-Glienicke und die Stadtgrenze zu Berlin. Ein Zickzack-Grenzverlauf und alles in Wurfweite.
    "Der Park hier ist, wo Wilhelm I. 50 Jahre gewohnt hat in seinem Schloss, dem neogotischen Schloss da drüben. Das ist eine englische Landschaft, der Park."
    Und gegenüber der gut besuchte Biergarten, einst einer der größten in Europa, etwas weiter das vom großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm gebaute Jagdschloss Glienicke, und in der Ferne die Stadtsilhouette von Potsdam. Dann, fast über uns, die Glienicker Brücke - der Inbegriff für Agentenwechsel. Letzter Austausch 1986. Der Tagungsort der Potsdamer Konferenz ist von hier nur wenige hundert Meter entfernt, aber von der Havel schlecht einsehbar.
    "Cecilienhof, das ist nur wegen der Lage und dass es unbeschädigt war. Es ist das letzte Schloss von der Hohenzollernfamilie und es war eine sehr, sehr schöne Lage. Es war groß genug, aber es ist nicht so schwierig, mit Soldaten die Sicherheit zu gewährleisten."
    Am 2. August 1945 wurden die Unterschriften unter das Abkommen gesetzt. Es galt bis zum 12. September 1990. Dann löste der Zwei-plus-Vier-Vertrag die Vereinbarungen ab. Wir kehren um und paddeln die vier Kilometer zum Ausgangspunkt zurück. Sieben Boote hintereinander - wie eine riesige Wasserschlange.
    "That is to visit a city in a different way, and I love sports. So, it is very nice",
    bringt es Marianna Ogawa, die 22-jährige, in Paris studierende Brasilianerin mit japanischen Wurzeln, auf den Punkt. Griebnitzsee mit Kajak - das ist geballte deutsche Geschichte in wunderbarer Kulturlandschaft mit sportlichem Schwung.