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Virtuelle Chauffeure auf der Überholspur

Technik. - Ständig schwillt der Verkehr hierzulande an, und auch immer breitere Straßen können die entstehenden Probleme allein nicht lösen. Um den drohenden Infarkt in den Adern der Infrastruktur zu verhindern, setzen Verkehrsplaner zunehmend auf schnelle Elektronik und künstliche Intelligenz. Schon heute zeigen Rechnersimulationen, was moderne Verkehrsleitsysteme können - und was nicht. Die neueste Evolutionsstufe der virtuellen Chauffeure, die Dresdner Experten jetzt präsentierten, geht sogar auf die Überholspur.

    Was da auf den Monitoren von Experten der Technischen Universität Dresden abläuft, erinnert auf den ersten Blick an ein eher wenig spannendes Computerspiel: virtuelle Brummis und PKW eilen auf einer geschlängelten Autobahn dem künstlichen Horizont entgegen. Allerdings handelt es ich mitnichten um ein Spiel, vielmehr gehört das Programm zum Modernsten, was Stauforscher heute in Sachen Verkehrssimulation aufzubieten haben. Denn bislang bildeten derartige Anwendungen lediglich eine Fahrspur ab und zeigten die Verzögerungseffekte und Stau-Keime auf, die entstehen, wenn einzelne Fahrzeuge bremsen und ihre Hinterleute darauf abrupt reagieren. Beim genauen Blick auf die Dresdner Software fällt indes auf, dass es aber einige der Computer-Chauffeure besonders eilig haben und immer wieder zum Überholen ansetzen. Überholmanöver der Verkehrsteilnehmer auf mehreren Fahrspuren im PC seien ein Novum, berichtet Professor Dirk Helbing, Direktor des Instituts für Wirtschaft und Verkehr.

    Gegenüber herkömmlichen Modellen ohne Überholmanöver und plötzliches Ein- und Ausscheren - elementare Ereignisse auf echten Autobahnen - ist Helbings Simulation wesentlich komplexer und führt vollkommen neue Faktoren in das Geschehen ein. Wie ein realer Fahrer stellt das PC-Pendant Überlegungen an, ob es auf der linken Spur schneller voran käme, beurteilt die Situation im nachfolgenden Verkehr und setzt zum Ausscheren an. Auch schnell näher kommende Fahrzeuge auf der Überholspur und die Größe der Verkehrslücken fließen in die Überlegungen ein. Um solche Szenarien realitätsnah abzubilden, schufen die Forscher eine besondere Größe, die sie "Höflichkeitsfaktor" nennen. "Der Höflichkeitsfaktor beschreibt, wie viel Rücksichtnahme man von den anderen Fahrern verlangt, also wie stark man in deren Fahrgeschehen eingreift und fordert, dass diese Fahrzeuge abbremsen, wenn man die Spur wechselt." Die Bandbreite an unterschiedlichen Charakteren ist dabei groß. Während Digitale Fahrer mit großem Höflichkeitsfaktor den schnelleren Ferrari passieren lassen, drängeln sich virtuelle "Brutalos" mit kleinem Freundlichkeitsparameter in jede noch so enge Lücke und zwingen rasante Verkehrsteilnehmer zur Vollbremsung.

    Bei der Simulation stießen Helbing und seine Kollegen auf ein interessantes Phänomen: "Wir nennen das "Auf Lücke fahren." Dabei fahren die Teilnehmer nicht nebeneinander, sondern versetzt, um besser in Lücken auf der anderen Spur wechseln zu können", konstatiert der Verkehrswissenschaftler. Dadurch müssten Folgefahrzeuge weniger stark bremsen und die Staugefahr reduziere sich. Von Vorteil wäre die Strategie besonders bei Unfällen oder in Baustellen. Eine weitere Zielsetzung der Dresdner Entwicklung ist die Untersuchung von modernen elektronischen Fahrassistenten. "Dabei werden Fahrzeuge miteinander kommunizieren, sich gegenseitig koordinieren und Empfehlungen für Überholmanöver geben." So wollen die Forscher etwa herausfinden, wie viele solche Systeme bei Verkehrsteilnehmern vorhanden sein müssen, bis sich ein regulierender Effekt bemerkbar macht. Andererseits könnten zu wenige Hilfsassistenten den Verkehrsfluss sogar verschlechtern, indem sie unnötige Bremsmanöver ausführen, weil sie sich nicht mit anderen Teilnehmern verständigen können.

    [Quelle: Frank Grotelüschen]