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Vivaldi á la Max Richter

Der englische Komponist Max Richter machte sich in der Vergangenheit mit Filmsoundtracks einen Namen. Nun hat er sich Vivaldis Vier Jahreszeiten vorgenommen und dem wohl bekanntesten Gassenhauer der Klassik neues Leben eingehaucht.

Von Florian Fricke | 06.09.2012
    "Die Vier Jahreszeiten waren eines der ersten klassischen Werke, die ich gehört habe. Ich war wohl zwischen fünf und zehn Jahren alt. Es ist einfach ein sehr schönes und ansprechendes Stück. Es ist herausragend komponiert, voller Bilder – ganz besonders geeignet für Kinder."

    So wie Max Richter ging es unzähligen anderen Menschen auch, mich eingeschlossen: die Vier Jahreszeiten waren ihr Einstieg in die Welt der Klassik. Es gibt nur wenige Orchesterwerke, die auf ähnliche Weise gefällig und eindringlich sind. Im Grunde sind die Vier Jahreszeiten barocker Pop. Doch genau das ist auch ihr Schicksal.

    "Später merkst du, dass du ihnen einfach nicht entkommen kannst. Du hörst sie im Fernsehen, in einer Werbung, als Fahrstuhl- und Warteschleifenmusik. Dadurch verliert das Werk seine Magie und du wirst ihm überdrüssig."

    Der aufdringliche angebliche Punkgeiger Nigel Kennedy gab den Vier Jahreszeiten endgültig den Rest. Umso gewagter ist der Versuch Richters anzusehen, dem überstrapazierten Werk neues Leben einzuhauchen. Ganz unabhängig von der Recomposed-Reihe der Deutschen Grammophon ging er schon seit zehn Jahren mit der Idee schwanger.

    "Ich dachte mir immer: warum versucht niemand eine total neue Version zu schreiben? Egal, ob superschräg oder genauso schön. Warum nicht eine dieser Speed Metal-Bands? Und dann dachte ich: Moment, warum mache ich das nicht einfach selber?"

    Max Richter bezeichnet sich selber halbironisch als Post-Klassiker, weil der Begriff am ehesten seine unterschiedlichen Hintergründe umschließt: Postmoderne, elektronische Musik und experimentelle zeitgenössische Musik. Als er die Original-Partitur Vivaldis studierte, fühlte er sich an Werke zeitgenössischer Komponisten wie John Adams oder Philipp Glass erinnert: seitenweise Arpeggios, endlose Reihen von Sechzehntel-Noten. Es gibt kurze, eindeutige, immer wiederkehrende Themen, man könnte auch von Patterns oder Loops sprechen, das Grundmaterial auch elektronischer Tanzmusik. Die einzelnen Sätze überschreiten dabei in ihrer Dauer selten das gängige Popformat von vier Minuten. Damit unterscheiden sie sich grundlegend von den gewaltigen symphonischen Werken der Romantik.

    "Die Vier Jahreszeiten haben diese leichte Anmutung, sie sind voller Klangfarben und sehr dynamisch. Und obwohl sie diese Momente von absoluter Schönheit haben, bedienen sie sich keiner großen musikalischen Erzählung. Sie haben also nicht diese langen Gedankengänge späterer Kompositionen, und das war mir sehr wichtig. Wenn ich einen Komponisten wie Brahms umschreiben müsste, wüsste ich gar nicht, wie ich ihm beikommen sollte. Diese riesigen Spannungsbögen – was soll man bloß damit machen?"

    Richter hat einige Teile der ursprünglichen Komposition Vivaldis belassen, aber die meisten bearbeitet. André de Ridder, der schon mit Damon Albarn an seiner Gorillas-Oper gearbeitet hatte, leitet das Kammerorchester der Konzerthaus Berlin leitete. Daniel Hope übernahm den anspruchsvollen Part des Sologeigers. Denn für einen Musiker ist es gar nicht so einfach, die hundertfach gespielten Noten durch neue zu ersetzen. Während den ersten Proben konnte Max Richter sofort hören, wann das Orchester die Originalnoten spielte, und wann die neu komponierten.

    "Es klang sofort total anders, fast Takt auf Takt. Natürlich spielten sie die richtigen Noten, aber die Intention und die Klangfarbe waren eine ganz andere. Es klang fast wie eine schlechter Zusammenschnitt – aber das ist auch völlig natürlich. Es ist ein bisschen, als wenn du ein Zimmer betrittst in der Erwartung, deine Familie dort vorzufinden – und dann sitzen da völlig fremde Menschen. Das kann etwas nerven."

    Dienstagabend wurde das Werk im Berliner Technotempel Berghain im Rahmen der Yellow Lounge uraufgeführt. Ist die Einlassschlange vor dem Berghain am Wochenende schon berüchtigt, war sie diesmal ein Monster. Endlich reingekommen musste man sich erst daran gewöhnen, dass Vivaldi auch in drückender Schwüle, Zigarettenrauch und mit viel Bierflaschengeklapper möglich ist. Hipster, Yuppies und allerlei kulturschaffendes Volk waren jedenfalls begeistert von Richters Version.