Dienstag, 19. März 2024

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"Viviane Élisabeth Fauville"
Temporeich, mitreißend und überraschend

Sinnkrisen machen manchmal auch vor gut organisierten Pariser Karrierefrauen nicht Halt. "Viviane Élisabeth Fauville", die Heldin von Julia Decks gleichnamigen Debütroman, trifft es besonders hart. Aber sie weiß sich zu wehren.

Von Christoph Vormweg | 28.03.2014
    Was ist real, was nur vorgestellt? In Julia Decks rätselhaftem Roman verschwimmen die Gewissheiten von der ersten Seite an. Wer spricht da überhaupt? Jemand beobachtet Viviane Élisabeth Fauville, wie sie mit ihrem zwölf Wochen alten Baby in einem leeren Zimmer sitzt. Der jemand siezt sie. Ist es der Erzähler? Oder schaut sich Viviane selbst beim Leben zu, um endlich schlau aus sich zu werden? Wir erfahren zunächst nur, dass Viviane eine Dummheit begangen hat. An diese Dummheit kann sie sich aber nicht mehr erinnern. Denn sie leidet unter Gedächtnislücken. Nur so viel weiß sie: Die Tat, die eine Dummheit war, hat sie befreit. Doch nicht deshalb ist sie in der Wohnung, die früher einmal ihr Liebesnest war. Nein, die studierte Karrierefrau ist von ihrem Ehemann verlassen worden: Ihrem - wie es heißt - "so heftig begehrten" Julien, der sie "so schlecht geliebt hat". Julia Deck:
    "Ich hatte den Roman in der zweiten Person Plural begonnen. Denn im Französischen ist das ziemlich komfortabel. Das schafft eine Distanz zur Person, eine Distanz zwischen der Person und sich selbst. Das gefiel mir, so zu schreiben. Nur, dass mir irgendwann klar geworden ist, dass es Momente in dem Buch gibt, wo das überhaupt nicht passt und völlig gekünstelt wirkt - vor allem in dem Teil, der eher einem Kriminalroman ähnelt. Während meiner tastenden Versuche habe ich dann die Personalpronomen gewechselt, mir aber gesagt: An Ende werde ich mich für ein Personalpronomen entscheiden. Doch schließlich habe ich festgestellt, dass dieses Spiel mit den Personalpronomen, bei dem Viviane Élisabeth Fauville mal gesiezt, mal aus der Ich-Perspektive, mal aus der personalen Erzählperspektive beschrieben wird, diese Person aus ganz verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Und so habe ich beschlossen, dass sehr genau auszuarbeiten, damit jedes Personalpronomen eine bestimmte Facette der Persönlichkeit beschreibt: So benennt eines zum Beispiel die soziale Person, ein anderes die Innensicht."
    Viviane Élisabeth Fauville mal gesiezt, mal aus der Ich-Perspektive
    Des Weiteren sind im Angebot: das neutrale "man" und das innige "du". Die Anzeichen, dass wir es hier mit einer multiplen, gestörten Persönlichkeit zu tun haben, häufen sich jedenfalls. Das bestätigt auch der Paukenschlag, mit dem das zweite Kapitel beginnt. Denn am nächsten Morgen funktioniert Viviane Élisabeth Fauvilles Gedächtnis plötzlich wieder. Sie erinnert sich, dass sie am Vortag ihren Psychoanalytiker mit einem Küchenmesser umgebracht hat. Stellen will sie sich nicht, schon wegen des Babys. Aber sie ärgert sich auch, dass die Polizei ihre Tat nicht wahrnehmen will - trotz aller Spuren, die sie glaubt, hinterlassen zu haben. In kühler, präziser Prosa fächert Julia Deck ein subtiles, rasch beunruhigendes Geflecht von Zustandsbeschreibungen und Rückblenden auf. Wir erfahren Einzelheiten über Viviannes Ehe mit Julien, über ihre lähmenden Sitzungen mit dem Psychoanalytiker, über ihr bizarr distanziertes Verhältnis zum eigenen Baby, das sie, wenn nötig, allein zurücklässt oder mit Medikamenten ruhig stellt. Denn sie beginnt zu agieren. So bringt sie die Tatwaffe zu Julien, in die ehemalige gemeinsame Wohnung, und folgt einer ersten, belanglosen Vorladung ins Kommissariat. Bald ist sie ständig unterwegs. Wir folgen Viviane Élisabeth Fauville durch ein Paris jenseits der Touristenpfade.
    "Der wahre Grund dafür ist ganz und gar kein literarischer. Das entspricht meiner zwanghaften Seite. Ich muss wissen, wo und wann etwas passiert. Ich brauche eine präzise Lokalisierung. Vielleicht kommt das von meinem Brotberuf als Redaktionsassistentin für die Presse. Meine Arbeit besteht darin, die Informationen der Journalisten in ihren Artikeln zu überprüfen. Vielleicht hat das abgefärbt. Ständig verifiziere ich etwas. Immer wieder muss man mir sagen: Was ist wirklich daran? Vielleicht ist das ein Tick von mir. Aber ich finde, dass er sehr gut zur Persönlichkeit von Viviane Élisabeth Fauville passt. Sie ist eine Frau aus der Bourgeoisie, die anderen etwas vorspielt, die sich gut präsentiert, für die schon die äußere Erscheinung spricht. Zugleich läuft bei ihr aber alles aus dem Ruder. Sie hat also diese Seite, wo sie sich bis ins Kleinste an der Geografie festhält - wir wissen, welche Straße sie gerade überquert und in welches Gebäude sie geht. Und gleichzeitig macht sie völlig abgedrehte Sachen. Das hält sich die Waage. Das ist vielleicht ein Ausdruck ihres Wahnsinns."
    Ein Wahnsinn mit tragikomischen, oft absurden Zügen. So fängt Viviane, die sich für die Mörderin hält, eines Tages an, die in der Lokal-Presse genannten Hauptverdächtigen selbst zu observieren: die untreue Ehefrau des Psychoanalytikers, seine schwangere Ex-Geliebte oder Tony, einen seiner gewalttätigen Patienten. Da die Polizei Vivianne als Person nicht ernst zu nehmen scheint, schlüpft sie selbst in die Rolle der Ermittler - mit unberechenbaren Nebenwirkungen. Denn sie wagt sich nah an die Verdächtigten heran, deren Nerven ohnehin schon blank liegen.
    Roman mit ironischem doppeltem Boden
    Julia Decks temporeicher, mitreißender, oft bis ins Detail überraschender Roman "Viviane Élisabeth Fauville" bekommt so eine Art ironischen doppelten Boden. Mehr noch: Der Plot entwickelt eine skurrile Eigendynamik. Denn Viviane macht sich selbst zum "Spielball der Umstände". Auch ihr eigenes familiäres Umfeld rückt dabei in den Blick. Denn die Polizei, die im Dunkeln tappt, überprüft irgendwann dann doch den Telefon-Anruf bei ihrer Mutter, der Vivianes offizielles Alibi ist. Dabei stellt sich heraus, dass die Mutter seit Jahren tot ist, die Telefonleitung in die leere Wohnung aber nach wie vor steht.
    Wie weit reicht also der Wahnsinn der Viviane Élisabeth Fauville? Ist es nur eine postnatale Depression, die sie peinigt? Oder hat sie von ihrem Psychoanalytiker in den Jahren der Behandlung zu viele Medikamente verschrieben bekommen? Oder leidet sie, die protestantisch und strikt kapitalistisch Erzogene, an einem Kindheits-Trauma, das mit dem frühen Verschwinden ihres Vaters zusammenhängt? Natürlich kommt irgendwann der Verdacht auf, dass uns Julia Deck in ihrem Debütroman vielleicht gar nicht aus der Ungewissheit entlassen will.
    "Ich weiß nicht mehr als der Leser. Das ist übrigens etwas, was ich für mich beanspruche: Ich finde nicht, dass ein Romanautor Wahrheiten über seine Figuren verbreiten muss. Für mich liegt seine Arbeit darin, Figuren und Situationen zu kreieren, die kohärent und stichhaltig genug sind, dass der Leser in sie einsteigen kann. Das heißt, der Schluss ist mehrdeutig. Manchmal fragen mich Leser, was sich meiner Meinung nach am Ende ereignet. Und das zeigt mir, dass es da vielleicht mehr Unschärfe gibt, als ich mir das beim Schreiben vorgestellt habe. Ich habe da meine eigene Auflösung. Aber es gibt Leser, die eine andere haben. Damit kann ich leben. Ich wollte nicht zu eindeutig sein, wollte lieber den Zweifel im Raum stehen lassen."
    Viele Unwägbarkeiten machen den Roman spannend
    Man kann Julia Decks Debütroman "Viviane Élisabeth Fauville" als Krimi oder Psychothriller verschlingen. Immer ist Zug in ihrer schlanken, anspielungsreichen, von der Schriftstellerin Anne Weber kongenial übersetzten Prosa. Besonders faszinierend, da permanent verunsichernd sind aber die Realitätspartikel, die sie in den rätselhaften Plot integriert: Sei es das beängstigende Mutter-Kind-Verhältnis in zwei Generations-varianten, sei es der Konkurrenzdruck in der Beton-Firma, in der Vivianne arbeitet. Jede Beobachtung, jede Szenerie eröffnet Räume, die über das Alltägliche hinausweisen - gerade weil Viviane Élisabeth Fauvilles Verhältnis zur Wirklichkeit gestört ist. In ihren Wahrnehmungen und Fantasien gärt das Dilemma der Großstadtfrauen von heute, dieses explosive Gemisch aus überzogenen Selbstansprüchen und dem langen Arm der Traditionen, der männlichen Gängelungen. Der Psychoanalytiker, der ihr helfen sollte, ist tot. Vielleicht, weil er gar nicht in der Lage war zu helfen - auch er nur ein Gefangener seiner Rolle? Entscheidend ist das "vielleicht", sind die vielen Unwägbarkeiten. Mit ihnen lässt uns Julia Deck am Ende allein. Denn nichts ist so, wie es scheint.
    Julia Deck: Viviane Élisabeth Fauville. Roman. Aus dem Französischen von Anne Weber. Wagenbach Verlag, Berlin 2013. 144 Seiten, 16,90 Euro.