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Völkerrechtler sieht Lissabon-Vertrag durch Verfassungsklagen nicht in Gefahr

Nach Ansicht des Völkerrechtlers Professor Rolf Schwartmann führt der Lissabon-Vertrag nicht zu einer Kompetenzerweiterung im Wesentlichen. Der Vertrag bringe keine Regelungswut zum Ausdruck, sondern trage der Tatsache Rechnung, dass 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union einen großen Handlungsdruck erzeugten. Existierenden Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gegen diesen Vertrag räumte Schwartmann keine allzugroßen Chancen ein.

Professor Rolf Schwartmann im Gespräch mit Ursula Welter |
    Ursula Welter Ein früherer Vorstandschef von Thyssen, ein ehemaligere CSU-Europa-Abgeordneter, ein Ökonom, ein Jurist - sie haben sich zusammengetan, um den Klagen und Beschwerden in Karlsruhe eine weitere hinzuzufügen. Ein neuer Schriftsatz gegen den Lissabon-Vertrag 200 Seiten stark, eine Ergänzung, wenn man so will, zu den Klagen der Fraktion der Linken des Bundestages und der Klage des CSU-Abgeordneten Gauweiler.

    Alle richten sich gegen den Lissabon-Vertrag, aber es ist noch nicht sicher, ob alle Argumente, auch die jetzt frisch vorgebrachten, bereits zur mündlichen Verhandlung Mitte Februar diskutiert werden können. Die Kläger argumentieren, in ihrem Maastricht-Urteil von 1993 seien die Richter zu optimistisch gewesen und die regelmäßige Verletzung des Stabilitätspaktes und die schludrige Haushaltspolitik zeige doch, wie riskant es sei, nun noch mehr Kompetenzen an Brüssel abzutreten.

    Ich habe den Völkerrechtler Professor Rolf Schwartmann gefragt, ob das Maastricht Urteil damals zu milde und optimistisch gewesen sei und ob die schlechte Haushaltsdisziplin heute ein Beleg dafür sei, dass der ganze Lissabon-Prozess nun gestoppt werden müsse:

    Rolf Schwartmann: Würde ich nicht sagen, man muss zwei Dinge trennen. Das eine ist die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts zu den Stabilitätskriterien. Das haben sie, wenn man es rückwirkend betrachtet, wohl falsch gesehen. Sie dachten, die Kriterien des Artikel 104 EG-Vertrag, um den geht es, seien bindend. Das hat die Praxis erwiesen, dass es falsch ist, die werden rein politisch gehandhabt. Der Wortlaut spricht davon, dass etwas zu vermeiden ist, und für den Fall, dass es nicht vermieden wird, Sanktionen verhangen werden können. Gleichwohl spricht das Gesetz auch davon, dass für den Fall eines Verstoßes gegen den Stabilitätspakt der Rechtsweg zum Europäischen Gerichtshof ausgeschlossen ist. Und das ist ein deutliches Indiz dafür, dass es eben dann doch vielleicht nicht so rechtlich belastbar sein sollte, wie es gedacht war. Und die Praxis zeigt das, Griechenland etwa ist in die Währungsunion aufgenommen worden, ohne dass die Stabilitätskriterien erfüllt worden sind, und Deutschland hat mal einen Blauen Brief bekommen, mit Frankreich, weil sie über drei Prozent der Nettoneuverschuldung lagen. Und da hat der Rat das Verfahren einfach ausgesetzt, obwohl sie hätten entscheiden müssen.

    Welter: Das heißt, dass Verletzung des Stabilitätspaktes kein Beleg dafür ist, dass nun der Lissabon-Vertrag nicht zustande kommen sollte?

    Schwartmann: Nein, absolut nicht. Also das ist Ihre zweite Frage: Haben die das damals zu milde, zu optimistisch gesehen? Eher nicht. Wir wollen ja in Europa eine weitere Integration, Lissabon dient nicht dazu, jetzt, ja, die Stunde der Integrierer wieder neu erwachen zu lassen. Es geht in dem Fall darum, die Osterweiterung in den Griff zu bekommen. Es geht nicht darum, Kompetenzübertragungen zu intensivieren, sondern es geht darum, das, was jetzt gerade nötig ist, nämlich Entscheidungsabläufe zu vereinfachen, institutionelle Fragen zu klären, eben auch wirklich hinzubekommen. Und dazu ist das gut.

    Welter: Auf der anderen Seite hat Karlsruhe damals im Maastricht-Urteil schon den Zeigefinger gehoben, hat die Stirn gerunzelt und hat gesagt: Lieber Staat Deutschland, treib es mit dem Aushöhlen deiner Souveränität und der deines Volkes nicht zu weit. Das heißt, es gab damals schon Bedenken. Die Kläger, die Beschwerdeführer sagen jetzt, nach 16 Jahren, es habe sich gezeigt, dass nun mit dem Lissabon-Vertrag die Europa-Politik noch weitergetrieben werden solle, also die damals schon geäußerten Bedenken jetzt eigentlich noch zutreffender wären?

    Schwartmann: Denke ich nicht. Denn der Vertrag von Lissabon führt nicht zu einer Kompetenzerweiterung im Wesentlichen, wenn man das im Einzelnen sich mal anschaut. Was Herr Gauweiler rügt, das sind Verletzungen des Demokratieprinzips und die Übertragung von Souveränitätsrechten, das war das große Thema von Maastricht. Und ich würde nicht sagen, dass das zu einer Verstärkung führt. Es ist, wie gesagt, eher so, dass der Vertrag von Lissabon an gewissen Stellen da eher gegensteuert, zum Beispiel das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, also dass man für jede Maßnahme auch wirklich einen Kompetenztitel braucht aus dem Mitgliedsstaat, wird noch mal in Artikel 5 deutlich hervorgehoben, deutlicher als vorher das der Fall war. Und es ist auch formal nicht ganz richtig.

    Diese ganzen Demokratie- und Souveränitätsfragen, die betreffen ja nicht Grundrechte. Und Herr Gauweiler hat sich für eine Verfassungsbeschwerde in dem einen Verfahren entschieden und möchte jetzt eben diese Sachen rügen. Das geht aber nur dann, wenn man auch einen Grundrechtsbezug herstellt. Und den hat er so ohne Weiteres nicht. Er führt - das lese ich nur aus der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts - die Menschenwürde mal an, aber das sehe ich nicht unmittelbar betroffen in dem Fall. Also ich sehe da auch in gewisser Weise ein formales Problem für ihn.

    Aber die Befürchtung, dass der Vertrag von Lissabon jetzt massiv Substanzielles neuregelt, halte ich für nicht gegeben, das ist mehr Handwerk, institutionelle Abgrenzung der Organe, 27 Staaten können nicht so leicht entscheiden, wie es 15 damals konnten. Also das Verfahren muss einfach handhabbarer gemacht werden. Die Kommission muss verkleinert werden, das Parlament soll umstrukturiert werden, das sind Fragen, die sich heute stellen, aber keine substanziellen Änderungen.

    Welter: Es gibt also institutionelle Anforderungen, sagen Sie, auf der anderen Seite in allen Staaten, sagen die Kritiker, und dieses bringen nun auch die Kritiker und Kläger in Deutschland zu Papier oder haben es zu Papier gebracht, dass Brüssel in Kerngebiete der Staatlichkeit vordringe. Stimmt das also nicht?

    Schwartmann: Das stimmt, ist aber kein neues Problem. Brüssel, insbesondere die Kommission und der Europäische Gerichtshof, dringen sehr wohl vor mitgliedsstaatliche Kompetenzen. Die Kommission hat einen Regelungsvirus, wenn Sie so wollen, die möchten alles regulieren und alles regeln, das ist aber seit Mitte der 80er Jahre schon so. Der Europäische Gerichtshof wird als Motor der Integration bezeichnet, die müssen schon aus Selbsterhaltungstrieb hingehen und das sehr extensiv auslegen. So ist das Europarecht auch angelegt. Und da müssen die Mitgliedsstaaten in der Tat aufpassen, dass das nicht zu viel wird. Aber auch da ist der Vertrag von Lissabon nicht das Forum, unter dessen Deckmantel das diskutiert werden muss, denn das sind mehr die Fragen von Maastricht gewesen, und der Vertrag von Lissabon konsolidiert den Status quo, ordnet ihn neu, aber enthält keine inhaltlichen substanziellen Änderungen aus meiner Sicht.

    Welter: Das würde ja heißen, dass die Klage am falschen Gegenstand geführt wird?

    Schwartmann: Es ist ja gerade nun mal dieser Gegenstand da. Und es ist natürlich auch wohlfeil, die Neuordnung des europäischen Premierrechts - und die immerhin bringt der Vertrag von Lissabon - zum Anlass zu nehmen, das Bundesverfassungsgericht noch einmal auf den Plan zu rufen. Und die mündliche Verhandlung zieht sich über zwei Tage, das ist schon auch eine Ansage, dass da eben auch zwei Tage sich das Gericht mit befasst. Es geht aber auch natürlich zunächst mal um viel, aber am Ende des Tages kann ich mir nicht vorstellen, dass es sich wirklich um eine bahnbrechende europarechtliche oder eine bahnbrechende Entscheidung zum Verhältnis des mitgliedsstaatlichen Rechts der Bundesrepublik Deutschlands zum Europarecht handelt.

    Welter: Dass Karlsruhe den Daumen senkt, das höre ich aus dem heraus, was Sie sagen, steht nicht zu erwarten?

    Schwartmann: Für mich nicht. Für mich steht das nicht zu erwarten, dafür bietet der Vertrag von Lissabon keinen Anlass. Ich denke, eine politische Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist erfahrungsgemäß immer nur dann angezeigt - und so zeigt es auch die Praxis -, wenn sie wirklich aufgerufen ist, wenn es darum geht, die Staatlichkeit zu schützen vor einem Eingriff von außen, den auch die Europäische Gemeinschaft oder dann die Europäische Union, die ja Rechtspersönlichkeit erlangt, vornehmen kann. Aber das sehe ich durch den Vertrag von Lissabon einfach nicht.

    Welter: Also die viel zitierte Regelungswut, die beklagt wird, das Ausufern der Urteile des Europäischen Gerichtshofs, das sind alles nicht Dinge, die man anhand des Vertrags von Lissabon nun als strittig erklären könnte?

    Schwartmann: Nein, das sehe ich überhaupt nicht. Also der Vertrag von Lissabon, das ist nicht etwas, was Regelungswut zum Ausdruck bringt, sondern einfach nur das wichtige und substanzielle Bedürfnis zum Ausdruck bringt, das zu flicken oder zu halten, was gerade da ist, es neu zu ordnen.

    Welter: Die Beratungen des Bundesverfassungsgerichts finden natürlich auch in einem insofern schwierigen Umfeld statt, als es sich um ein großes politisches Thema handelt, aber auch ist der Tatsache Rechnung zu tragen, dass inzwischen 23 der 27 Mitgliedsstaaten den Vertrag ratifiziert haben. Das heißt, der Handlungsdruck von außen ist doch recht stark?

    Schwartmann: Der Handlungsdruck von außen ist stark für den Fall, dass die Bundesrepublik Deutschland, gerade auch vor dem Hintergrund der damaligen Ratspräsidentschaft der Bundeskanzlerin, jetzt aus dem Vertrag ausschert, wie es bislang ja nur die Iren getan haben. In zwei weiteren Staaten steht es noch aus, da ist das nicht ganz kalkulierbar, was dort passiert. Aber dass Deutschland das tut, dass das Bundesverfassungsgericht das sanktioniert, das kann ich mir nicht vorstellen, das wäre doch ein sehr, sehr politischer Akt des Gerichts. Und es würde dann natürlich Klassenkeile geben im Kreis der 27, gerade von jemand, der das Verfahren auf den Weg gebracht hat und für den Vertrag von Lissabon natürlich auch in der Öffentlichkeit stand.