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"Völlig im organischen Bereich"

Im Sommer 1939 erreichte die sportliche Karriere des Dresdener Mittelstrecklers Rudolf Harbig den Höhepunkt: Ein Fabelweltrekord über 800 sowie Weltschnellster über 400 Meter. 1941 läuft er zudem über 1000-Meter-Weltrekord - im zweiten Weltkrieg endet sein Leben tragisch.

Von Eduard Hoffmann |
    "Harbig spurtet mit langen Schritten, drüben in der Kurve jetzt, jetzt wird er angefeuert von den Leuten der deutschen Kolonie, die herausgekommen sind, wunderbar wie dieser Mann läuft, 2,5, 3 Meter und hinter ihm verzweifelter Kampf, aber Harbig hat sicher gewonnen, der erste deutsche Sieg über die halbe Meile."

    Das war im August 1937 beim Länderkampf gegen England in London. Nach dem Rennen stand der 23-jährige Rudolf Harbig dem Reporter Rede und Antwort, das einzige erhaltene Rundfunkinterview des Dresdener Ausnahmeathleten:

    "Wir sind gestern Mittag um zwölf dann eingetroffen, sind dann ne Stunde mit dem Auto gefahren ins Hotel. Gegen Abend um sechs Uhr haben wir uns dann im Regen im Park auf ner Wiese eingelaufen. Die Zeit auf der Bahn beträgt 1:54,8, die ich meinem Kamerad Mertens, der mir 'n Teil des Tempo gemacht hat, zu verdanken habe."

    Drei Jahre zuvor hatte Leichtathletiktrainer Woldemar Gerschler den bescheidenen und mit gesundem Ehrgeiz ausgestatteten Mittelstreckler in der Dresdener Friedrichstadt entdeckt.

    "Da war ein Lauf, in dem ganz unbekannte Läufer 800 Meter liefen, und da fiel mir einer auf durch seine, ich weiß nicht was, der hatte eben etwas. Und da bin ich zu dem hingegangen und hab gesagt, ach hören Sie mal, wer sind Sie denn, daraufhin sagte er, ich heiße Harbig, so sagte ich, wollen Sie nicht mal zu uns zum Training kommen, ja sagte er, ich komme mal zum Training, und aus so ner kleinen Begegnung erwuchs so eine Sportkameradschaft und auch eine solche Sportleistung."

    Gerschler gilt als Entdecker des Intervalltrainings. Fortan kümmerte er sich persönlich um Rudolf Harbig, baute das große Lauftalent behutsam auf und führte es an die Weltspitze heran. Für die harte Trainingsarbeit nutzte Gerschler stets auch die neuesten sportmedizinischen Erkenntnissen:

    "Wir konnten so arbeiten, weil ich damals schon in engster Verbindung mit der Universität Freiburg, mit Professor Reindell alle Athleten von ihm untersuchen ließ, und so war ich immer orientiert über den organischen Stand, über den Entwicklungsstand, wie man eine solche Anstrengung organisch verkraftet, also wusste ich genau, was ich ihm antrug, zu tun, lag völlig in seinem organischen Bereich."

    Die Erfolge ließen nicht auf sich warten. 1936 wurde Harbig erstmals Deutscher Meister über 800 Meter, schied aber dann bei den Olympischen Spielen in Berlin wegen einer Darminfektion bereits im Vorlauf aus. Mit der 4 x 400 Meter Staffel sicherte er sich die Bronzemedaille. 1938 wurde der zähe Kämpfer sowohl mit der 4 x 400 Meter Staffel als auch über 800 Meter Europameister. Ein Jahr später dann kam der gelernte Stellmacher, der als Gasableser bei den Dresdener Stadtwerken arbeitete, so richtig auf Touren.

    Am 15. Juli 1939 schlug er in Mailand über 800 Meter seinen stärksten Gegner Mario Lanzi deutlich und lief in 1:46,6 einen Fabelweltrekord. Die internationale Fachpresse sprach von "einer Revolution im Mittelstreckenlauf". Der Rekord hielt 16 Jahre lang. Trainer Gerschler hatte dem gesundheitsbewussten Athleten damals geraten:

    "Rudi, geize mit den Zehnteln, laufe bis zum Ziel durch."

    Einen knappen Monat später, am 12. August 1939, kassierte der schlichte und stets heitere Mann mit dem Mittelscheitel auch den 400 Meter Weltrekord. In Frankfurt am Main spurtete er die Stadionrunde in 46,0 Sekunden. Acht Tage danach startete der leidenschaftliche Sportler beim Länderkampf gegen England in Köln erneut über die 400 Meter:

    "Die Sonne ist verschwunden, der Staub wirbelt auf von der Bahn, aber nichts desto trotz kündigt der Lautsprecher an: 400m Lauf, die Sensation, wenn man sportlich so sagen darf. Deutschlands Weltrekord-Mann Harbig gegen Englands Olympiasieger Brown. Startschuss, ... angespurtet hat Brown ganz erheblich in die Kurve, er hat den Vorsprung gegen den vor ihm liegenden Hamann bereits aufgeholt, Harbig ist noch weit zurück, jetzt muss der berühmte Endspurt kommen über 400 Meter, der Schritt wird länger, der Leib spannt sich, es geht in die Gerade hinein, in die letzte Gerade, noch 50 Meter, es führt noch Brown mit einem halben Meter, Harbig kommt, Harbig geht leichtfüßig an ihnen vorbei, Harbig siegt, Harbig wird siegen mit einem Meter gegen Wind und Wetter, und gegen einen alten Fuchs der Leichtathletikbahn, gegen Brown, England, mit etwa zwei Metern, die er auf den letzten 20 Metern noch herausholen konnte."

    Im Mai 1941 holte sich Rudolf Harbig in Dresden auch noch den 1000-Meter-Weltrekord und bleibt bis heute der einzige Athlet, der über die drei Strecken die weltschnellste Zeit gelaufen ist.

    Seinen Traum von olympischem Gold jedoch machte der zweite Weltkrieg zunichte. Der Ehemann und Vater einer Tochter fällt am 5. März 1944, gerade mal 31-Jährig, in der Ukraine.