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Vom Aristokraten zum Marxisten

Der ungarische Philosoph und Marxist Georg Lukács sorgte mit seinem Hauptwerk "Geschichte und Klassenbewusstsein" 1923 für großen Widerhall innerhalb der europäischen Linken. Noch in den 68ern war das Buch des 1885 geborenen Aristokraten viel gelesen.

Von Hans-Martin Lohmann | 13.04.2010
    Georg Lukács war es wahrlich nicht in die Wiege gelegt, zum Marxisten und bolschewistischen Revolutionär zu werden.

    "Sie dürfen nicht vergessen, ich bin der Sohn eines Bankdirektors, der ein also rein intellektuelles Leben geführt hat."

    Geboren am 13. April 1885 in einem aristokratischen jüdischen Elternhaus in einer vornehmen Gegend von Budapest, umgeben von Bediensteten, Hauslehrern und Erzieherinnen, entwickelte der junge Lukács früh schöngeistige Ambitionen. Politik spielte bei ihm in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg kaum eine Rolle, umso mehr die Beschäftigung mit der deutschen Philosophie, mit Hegel, Kant und dem Neokantianismus.

    In seinen Studienjahren in Heidelberg verkehrte er in dem legendären Kreis um Max Weber. Deutsch war das Idiom, in welchem er dachte und schrieb. Aus jener Epoche stammen seine bedeutenden Frühwerke "Die Seele und die Formen" und "Die Theorie des Romans". Das einschneidende Erlebnis, das Lukács mit der Politik existenziell in Berührung brachte, war der Kriegsausbruch im Sommer 1914.

    "Jetzt ist das wichtige Datum der 1. August 1914, wo ich absolut resolut gegen den Krieg und ebenso resolut gegen die Stellungnahme der Sozialdemokratie war. Und damit geriet ich in einen verzweifelten Zustand - die Welt als die Fichtesche Periode der vollendeten Sündhaftigkeit."

    Erst das Ereignis der Oktoberrevolution 1917 und die Machtergreifung der Bolschewiki in Russland eröffnete Lukács eine wirkliche politische Option. Bis dahin hatte er sich lediglich gegen den Krieg gewandt, ohne Aussicht auf eine positive Perspektive.

    "Und das änderte sich, als 1917 eingetreten ist. Und ich kann sagen, dass ich dann mit vielen Übergängen und Widersprüchen in den Jahren 17/18 zum Sozialisten geworden bin."

    Für Lukács gilt der Satz: einmal Kommunist, immer Kommunist. Nicht, wie viele linke Intellektuelle, als nur zeitweiliger Fellowtraveller der Revolution, sondern als lebenslanges aktives Mitglied der Kommunistischen Partei begriff er die jeweils offizielle Parteilinie als verbindliche Richtschnur seines Denkens und Handelns. Er exponierte sich als Mitglied der revolutionären Räteregierung Béla Kuns 1919 in Ungarn, ging nach dem Scheitern des kurzlebigen Experiments ins Exil, arrangierte sich in den 30er-Jahren mit dem Stalinismus und stand 1956 auf der Seite der kommunistischen Reformer um Imre Nagy, deren Revolte durch das militärische Eingreifen der Sowjetunion blutig niedergeworfen wurde.

    Dem Ausschluss folgte kurz vor seinem Tod 1971 die Wiederaufnahme in den Schoß der alleinseligmachenden Partei. Was man bei Lukács als Treue zu einer Idee interpretieren kann, ist von anderer Seite als Verrat an der eigenen Intelligenz gedeutet worden, so von der Philosophin und Lukács-Schülerin Agnes Heller.

    "Später hat er seine großen Talente wirklich verloren. Das war eine katastrophale Sache, dass er, nicht wegen Marxismus, aber wegen Kommunismus, wegen der Wahl der Kommunistischen Partei, seine eigenen Talente verloren hat. Er hat sich selbst verraten, das ist eine tragische Situation."

    In Thomas Manns "Zauberberg" figuriert Lukács als der mit allen Wassern gewaschener Dialektiker Naphta, der um keine noch so aberwitzige argumentative Volte verlegen ist. "Geschichte und Klassenbewusstsein" aber bleibt ein bedeutendes Buch. Mit dieser bahnbrechenden Studie, die die Rolle des subjektiven Faktors im revolutionären Prozess betont, avancierte Lukács neben Karl Korsch und Antonio Gramsci zum geistigen Wegbereiter des Neomarxismus, der in den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts großen Widerhall innerhalb der westlichen Linken fand. Und mutmaßlich ist auch Lukács' Reflexion über "Die Zerstörung der Vernunft" besser als ihr Ruf.

    20 Jahre nach dem Untergang des historischen Kommunismus ist uns die Gestalt des engagierten marxistischen Intellektuellen seltsam fremd geworden. Aber vielleicht ist angesichts der nicht endenden Krisen und Katastrophen des Kapitalismus diese Einschätzung von Georg Lukács immer noch nicht völlig überholt:

    "Vermutlich ist das ganze Experiment, das 1917 begonnen hat, misslungen, und das Ganze muss ein anderes Mal und an einem anderen Ort angefangen werden."