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Vom Aufschwung abgehängt

Estland gilt wegen seiner enormen wirtschaftlichen Wachstumsraten als das Vorzeigeland unter den neuen EU-Mitgliedern im Baltikum. Doch davon profitieren in erster Linie junge Menschen, viele Ältere bleiben auf der Strecke. Mirko Schwanitz berichtet:

Von Mirko Schwanitz |
    Rahinge, ein kleines Dorf in der Nähe der estnischen Stadt Tartu: Frührentner Armos Talviste hat sich in seinem Keller eine kleine Werkstatt eingerichtet und macht sich an einer selbstgebauten Drechselbank zu schaffen

    "Ich arbeite vor allem, weil ich mir zu meiner Rente etwas hinzuverdienen muss, wenn es auch nicht viel ist."

    Im Flur stapeln sich Pappkartons mit Holzspielzeug: Clowns, Flugzeuge, Autos. In ein paar Minuten kommt die Unternehmerin, die Armo Talvistes kleine Kunstwerke in ihren Geschäften verkauft

    Tairi Lais ist gerade einmal 25 Jahre alt, Studentin der Theologie und Betriebswirtschaft. Als der Laden, in dem sie neben dem Studium jobbte, kurz vor der Pleite stand, übernahm sie ihn kurzerhand selbst.

    "Ich glaube zwar an Gott, aber ich glaube auch, das mein Schicksal in meinen eigenen Händen liegt. Und so denken die meisten jungen Leute hier. Das hat nichts mit Egoismus zu tun, sondern vor allem mit der Tatsache, dass die meisten jungen Esten verstanden haben, dass niemand kommen und ihnen helfen wird. Also packen wir die Sachen selber an."

    Diese Haltung ist einer der Hauptgründe für den anhaltenden Wirtschaftsboom im kleinsten der drei baltischen Staaten. 40 000 Unternehmen werden jedes Jahr gegründet, 35 000 davon gehen sofort wieder Pleite. Aber niemand käme hier auf die Idee, darüber zu jammern, denn 5000 Unternehmen schaffen es, sich am Markt zu halten - so wie das von Tairi Lais. Sie führt inzwischen 4 Geschäfte mit 12 Angestellten. Für Rentner wie Armos Talviste ist das ein großes Glück:

    Armos Talviste bekommt 2280 estnische Kronen Rente, das sind umgerechnet knapp 146 Euro. Allein 2000 Kronen, also 128 Euro, muss er heute im Winter für die Heizung seines Hauses ausgeben. Da ist das kleine Zubrot, das durch den Verkauf der Holzfiguren an Tairi Lais entsteht, hochwillkommen. Doch nur wenige Alte haben sich so arrangiert, weiß Armos Talviste.

    "Es gibt viele Alte, die genauso wie ich noch arbeiten möchten. Doch hier ist es wie überall. Wenn Du alt bist, schmeißen die Firmen dich schnell raus.""

    Auch in Estland scheint es so, als sei das Altern heute mit einem Makel behaftet. Gerade in der Wendezeit, so meint die Politikerin Mailis Rand-Reps, hätte es fast so etwas wie einen Jugendwahn gegeben.

    "Estland hatte nach der Unabhängigkeit stets Regierungen mit einem Durchschnittsalter weit unter 40 Jahren. Das hat vor allem damit zu tun, dass wir verhindern wollen, dass Leute mit Verbindungen zu sowjetischen Seilschaften in die Geschicke unseres Landes eingreifen können."

    Mit 27 Jahren wurde Mailis Rand-Reps jüngste Bildungsministerin der Welt. Heute, mit 33 Jahren, ist sie es immer noch und gehört zu denen, die sich dafür einsetzen, mehr für die Alten im Land zu tun.

    "Als wir Anfang der 90er Jahre mit unseren einschneidenden Reformen begannen, haben wir jungen Politiker die Alten einfach vergessen. Für Menschen, die älter waren als 40 Jahre, gab es überhaupt keine Unterstützung. Die Folge ist, das etwa 30 Prozent der estnischen Bevölkerung sowenig Einkommen haben, dass sie nach der Devise 'Gibst du mir drei Salate, geb ich dir eine Wurst' in einer Art Tauschwirtschaft leben."

    Auch aus diesem Grund legt die Unternehmerin Tairi Lais Wert darauf, dass in ihren Geschäften Jung und Alt zusammenarbeiten. Für sie sind die Erfahrungen der Alten unverzichtbar. Erst vor kurzem hat sie Armos Talviste gebeten, sich umzuschauen, ob er nicht noch mehr ältere Menschen kenne, die Figuren zum Verkaufen in ihren Geschäfte herstellen wollen. Auch auf diese Weise gibt sie Armos Talviste das Gefühl, gebraucht zu werden:

    "Ich finde es sehr gut, dass die neue Generation bei uns die Initiative ergreift. Wenn es mehr von der Sorte von Tairi gebe, hätten wir sicher bald keine Arbeitslosen mehr."