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Vom Lernen und Vertrauen

Die Hirn- und Bindungsforschung weist seit einigen Jahren immer dringlicher darauf hin, dass Zuwendung, Zärtlichkeit und Liebe für das Kleinkind und die Entwicklung des Gehirns grundlegend sind. Diese Erkenntnisse sind für die Wissensvermittlung und Persönlichkeitsbildung grundlegend. Bücher über Pädagogik weisen vermehrt auf diese wesentlichen Zusammenhänge hin. Uschi Geiling hat sie gelesen.

    Neue Impulse will das Herausgeberkollektiv von Pädagogen und Psychologen des Titels "Lernen braucht Vertrauen" den Lehrern, Erziehern und Eltern vermitteln, um bessere Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen zu schaffen. Diese Veränderungen, die vor allem die menschliche Qualität des Lehrens und Lernens beinhalten, könnten die deutsche Bildungskultur beflügeln, wenn nicht gar revolutionieren:

    "Wenn Bildung gelingen soll, […] muss unsere bildungskulturelle Landschaft [...] so verändert werden, dass Schüler und mit ihnen die Eltern und Lehrer mehr Lust am Lernen und an ihrer lebenslangen Eigenentwicklung gewinnen. Das wäre der Kern einer veränderten Bildungskultur. Es geht einmal mehr um die Menschen, die gerade im Bildungsbereich im Mittelpunkt stehen sollten. Zum anderen geht es um die Innovations- und Lernfähigkeit für unsere Zukunft."

    Freude und motiviertes Lernen stellen sich jedoch nach Meinung des ehemaligen Rektors der Göttinger Leineberg-Grundschule, Karl Gebauer, nur ein, wenn Kinder ihren Lernprozess selbst gestalten können und dabei Erfolgserlebnisse haben. Dazu der Hirnforscher Manfred Spitzer, Gründer und Leiter des Ulmer Transferzentrums:

    "Sie [die Kinder] brauchen den roten Faden von Urheberschaft und Resonanz. Der führt zu Motivation, Konzentration und Erfolg. Durch ihn wird erst das dopaminerge System in Gang gesetzt. Wenn die emotionale Komponente in Lernprozessen fehlt, dann kann sich die für spätere Lern-, Gedächtnis- und Erinnerungsprozesse so wichtige neuronale Struktur nicht angemessen ausbilden."

    Auch Gebauer, Mitherausgeber und Motor dieses Readers, fordert dem dopaminergen System bildungspolitisch endlich die Bedeutung zuzumessen, die ihm zukommen müsste. Noch größere Erfolge könnten Lehrer und Erzieher erzielen, wenn der vielfältige Lernprozess von einer durch Offenheit und gegenseitigem Vertrauen geprägten Atmosphäre unterstützt wird.

    Solch ein sozial-emotionales Schulklima hat in den skandinavischen PISA-Siegerländer schließlich die überlegenen kognitiven Leistungen hervorgebracht. Zum guten Schulklima gehört auch die positive Grundhaltung und das Zusammenspiel des gesamten Erziehungspersonals, das übrigens auch einzelnen mit Problemen überlasteten Kollegen im Team unter die Arme greift.

    Gebauer ermuntert in diesem Sinn seine Kollegen, solche "Selbstentwicklungs-Teams" zu gründen. Fest steht für alle Autoren dieses lesenswerten Bandes, dass eine Gesellschaft, die der Entwicklung des Einzelnen keine oder nur unzureichende Bedeutung beimisst, auf einen wichtigen Erfolgsfaktor verzichtet.

    Den Weg ebnen für eine neue Pädagogik, das will Rolf Caspary, der Herausgeber des Buches "Lernen und Gehirn". Der Wissenschaftsredakteur des SWR trägt Beiträge von Hirnforschern, Medizinern und Pädagogen zusammen, um den interdisziplinären Dialog zu fördern. Die Jahre der ideologischen Grabenkämpfe seien vorbei; "Neurodidaktik" heiße der neue Begriff, über den sich die Kontrahenten nun nüchtern und pragmatisch auseinandersetzten. Sie wollen überfällige Reformen des deutschen Bildungssystems in Gang bringen. Der Neurologe Gerald Hüther, Mitgestalter der Göttinger Kinderkongresse schreibt dazu:

    "Kindergehirne sind formbarer - und deshalb auch verformbarer -, als selbst die Hirnforscher noch bis vor wenigen Jahren geglaubt hatten. Keine andere Spezies kommt mit einem derart offenen, lernfähigen und durch eigene Erfahrungen [...] gestaltbaren Gehirn zur Welt wie der Mensch."
    Die Hirnentwicklungen seien von der emotionalen, sozialen und intellektuellen Kompetenz erwachsener Bezugspersonen abhängig. Offenes und freudiges Lernen finde nur in einer Atmosphäre der Verbundenheit und des Vertrauens statt. Auch der schon erwähnte Hirnforscher Manfred Spitzer unterstützt diese These, wenn er schreibt:

    "Wenn wir wollen, dass unsere Kinder und Jugendlichen in der Schule für das Leben lernen, dann muss eines in der Schule stimmen: die emotionale Atmosphäre beim Lernen."

    Während es Aufgabe der Lehrer ist, Basiswissen in die Praxis umzusetzen, können Hirnforscher zeigen, welche Bedeutung Gefühle für die kognitiven Prozesse haben. Sie wirken quasi als Schleusen, durch die neues Wissen ins Gehirn kommt. Die Schleusen schließen sich, wenn negative Gefühle dominieren, dann wird weniger gut gelernt; offen sind sie bei positiven Gefühlen. Sind unsere Schulen also Institutionen, die Spaß am Lernen - und damit Lernerfolge verhindern? Hirnforscher müssen das so sehen, meint der Pädagoge Ulrich Hermann:
    "Leistungsmessung und Leistungsbewertung erfolgen in der Regel in angst- oder stressbesetzten Situationen, in denen das Gehirn kein verzweigtes, sondern nur isoliertes Faktenwissen zur Verfügung stellen kann."

    Hermann, der an den Universitäten Tübingen und Ulm lehrt, fordert daher eine bessere Lehrerausbildung, eine, die die Studenten auf den sozusagen "gehirngerechten" Unterricht vorbereitet. Denn:

    "Was wird ihnen in der Regel an der Universität geboten? Wissenschaftswissen wird in sie hineingestopft, halb verstanden, unverdaulich, gelernt für Klausuren und damit prompt wieder größtenteils vergessen. Ob solche Lehrer später einmal Schüler auf geistige Entdeckungsreisen mitnehmen können, bleibt ungewiss. Aber Schüler wollen sich und die Welt verstehen, und was bekommen sie geboten? "Stoff" laut Lehrplan, demnächst noch auf Flaschen gezogen, die man 'Bildungsstandards' nennt."

    Erfolgreiches, individuelles und nachhaltiges Lernen könne es unter den gegebenen Bedingungen kaum geben, so Hermann. Für dieses Fehlverhalten sei eine Schulpolitik verantwortlich, die die Schulen durch unpädagogische Vorgaben und Vorschriften dereguliert habe. Deshalb hofft er, dass die moderne Hirnforschung dort mehr Reformwirksamkeit entfalten wird, wo sie der Pädagogik bisher versagt geblieben sei.

    Kinder sind in unserer medienbestimmten Informationsgesellschaft unverarbeiteten Reizen ungeschützt ausgesetzt. Die neuen Medien beeinflussen und haben Auswirkungen auf die Seele und das Gehirn unserer Kinder. Noch schlimmer ist: Sie machen süchtig. Die Autoren von "Computersüchtig. Kinder im Sog der modernen Medien", der Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann und der Hirnforscher Gerald Hüther, warnen nachdrücklich vor den Verlockungen und dem Abtauchen in virtuelle Welten:

    "Sie verlassen selbst bei schönstem Sonnenschein ihr Zimmer nicht mehr, hocken wie gebannt vor dem Computer, sie vernachlässigen ihren Körper [...]. Sie essen wenig und widerwillig, sie schlafen kaum. Denn ihr Spiel kennt keine Unterbrechung, 24 Stunden am Tag rund um den Globus. Übermüdet und desinteressiert sitzen sie in der Schule [...]. Letztlich empfinden sie ihre soziale Umwelt als Last, jede Aufgabe, sei es für die Schule, die Ausbildung oder für die Familie, als Zumutung."

    Ein solch abhängiger Mensch könne in der realen Welt nicht mehr überleben. Sicher, viele junge Spieler können Realität und Fiktion gut trennen. Dazu Bergmann und Hüther:

    "Stabile Jugendliche spielen (auch) - aber sie lösen sich rechtzeitig von ihren fiktiven Heldentaten, virtuellen Freundschaften und mystisch verhüllten Aufgaben und wenden sich wieder ihrem Realschulabschluss oder ihrer Jahresarbeit vor dem Abitur zu. Andere dagegen - das müssen keineswegs nur die Schulversager sein - verkriechen sich immer tiefer in diese virtuellen Welten. Und die Zahl dieser Kinder und Jugendlichen wächst."

    Besonders unsichere, depressiv gestimmte, von ihrer Ausstrahlung wenig überzeugte Menschen sind anfällig. Wie hoch die Zahl der computersüchtigen Kinder und Jugendlichen ist, kann man nicht seriös beziffern: Man schätzt sie mittlerweile auf dreihunderttausend oder mehr - die Dunkelziffer ist hoch.

    Die Autoren des verständlich geschriebenen Buches sind keinesfalls gegen den Computer. Sie wollen lediglich auf die psychischen Gefahren und Tendenzen zur Abhängigkeit aufmerksam machen. Was passiert im Hirn von Heranwachsenden, wenn sie tagtäglich stundenlang vor dem Monitor sitzen?

    Es tritt eine "nutzungsabhängige Stabilisierung" ein, das heißt einige wenige assoziative Verknüpfungen werden enorm intensiv und häufig benutzt; das Gros dagegen würde weder aufgebaut noch gefestigt. Im Gehirn von Menschen, die (dieses Organ) immer wieder auf die gleiche Weise für das Erreichen eines bestimmten Ziels benützen, entstehen aus den dabei aktivierten, anfänglich noch sehr filigranen Nervenverbindungen allmählich immer fester gebahnte Wege, Straßen und am Ende sogar breite Autobahnen, von denen man, wenn überhaupt, nicht so leicht wieder herunterkommt.

    "Sucht ohne Stoff" nennen es die Autoren. Wolfgang Bergmanns und Gerald Hüthers Buch ist wichtig für alle Eltern und Erzieher. Die Autoren zeigen auch an plastischen Beispielen und Fallbeispielen, warum Sucht entsteht - und wie sich solche Fehlentwicklungen von Anfang an vermeiden beziehungsweise später noch korrigieren lassen.

    Fittkau, Bernd; Gebauer, Karl; Krause, Christina (Hrsg.):
    Lernen braucht Vertrauen. Perspektiven für eine innovative Schule

    Patmos-Verlag Düsseldorf, 200 Seiten, 16 Euro

    Caspary, Ralf:
    Lernen und Gehirn - Der Weg zu einer neuen Pädagogik

    Herder spektrum Freiburg, 160 Seiten, 8,90 Euro

    Bergmann, Wolfgang und Hüther, Gerald:
    Computersüchtig. Kinder im Sog der modernen Medien

    Patmos Düsseldorf, 170 Seiten, 18 Euro