Als Michel Foucault in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Geschichte der Sexualität zu erforschen begann, tat er dies nicht als Sexualforscher. Was Foucault interessierte, war nicht der Sex selbst, sondern die Geschichte seiner Erforschung. Denn seit dem 19. Jahrhundert hatte der Sex eine äußerst erfolgreiche Karriere als wissenschaftliches Objekt zurückgelegt.
Als ein Geheimnis, dessen Entschlüsselung lebenswichtig erschien, war der Sex zum Gegenstand zahlreicher Experimente und Abhandlungen geworden. Unter dem Titel "Der Wille zum Wissen" präsentierte Foucault 1976 die ersten Ergebnisse seiner Beschäftigung mit der hartnäckigen Enträtselungswut. In diesem Buch schrieb der Diskursanalytiker gegen den Mythos von der Befreiung des Sexes an, der in den 70er Jahren seinen Höhepunkt erreicht hatte und uns auch heute noch an die Emanzipation der Lust glauben macht. Im Gegensatz zu den populären Theorien staatlicher Repression stellte Foucault die These auf, dass der Sex keineswegs unterdrückt, sondern in zahlreichen Prozeduren der Befragung allererst hervorgebracht und zu weiteren Akten der Hervorbringung stimuliert wird. Aus dieser Perspektive erscheint die sexuelle Befreiung geradezu umgekehrt als eine bevölkerungspolitische Maßnahme, auf deren reproduktionssteigernde Effekte moderne Gesellschaften zunehmend angewiesen sind.
Auch wenn man Foucaults biopolitischer Analyse der sexuellen Befreiung nicht in allen Punkten folgen mag, so wird man die Expansion des Sexmarktes dennoch nicht als einen unerwünschten Nebeneffekt der sexuellen Revolution abtun können. Längst ist die Befreiungs- und Bekenntniskultur zu einer umsatzstarken Sexindustrie geworden, deren Versprechen auf die Entfaltung und Steigerung der individuellen Lust abzielen. Was dereinst etwas prüde und allzu bürgerlich als Ehehygiene daher kam, ist inzwischen zu einer umfassenden Vermarktung des Sexes geworden, bei der sich die Grenze zwischen der ehemals schmuddeligen Pornobranche und einer gestylten Erotikkultur nicht mehr ziehen lässt. Was einmal als geheime Wahrheit des sexuellen Begehrens gegolten hat, dient heute als verfügbare Quelle von Sensationen.
Diese Beobachtung hat die Kunst- und Medienwissenschaftlerin Marie-Luise Angerer zum Anlass genommen, Michel Foucaults These dahingehend zu modifizieren, dass an die Stelle des Sexes inzwischen der Affekt getreten ist. Denn während die Entzifferung des sexuellen Begehrens stets mit der Unterstellung eines Geheimnisses einhergeht, das dem begehrenden Ich immer unbekannt bleiben wird, versteht sich die gegenwärtige Affektindustrie als ein Angebot zur gezielten Modulation von Stimmungen. Im Unterschied zur Stimulation des sexuellen Begehrens beruht der Markt der Affekte auf der Suggestion, dass man genau das bekommt, was man haben will.
In diesem Sinne diagnostiziert Marie-Luise Angerer in ihrem Buch "Vom Begehren nach dem Affekt" anhand so unterschiedlicher Felder wie der Neurobiologie, der Unterhaltungsindustrie, dem Cyber Sex oder der Medienkunst eine Verschiebung von der Undurchschaubarkeit des sexuellen Begehrens zur Handhabbarkeit der Affekte. Längst werden Gefühle nicht mehr dem ungewissen Inneren eines diffusen Ichs anvertraut, sondern als Effekte von medientechnischen Konstellationen des Genießens verstanden.
Gehirnbilder, Lektüreempfehlungen, Wohlfühlprogramme und psychologische Ratgeber informieren einen darüber, was man tun muss, um sich in Stimmung zu bringen. Auch die künstlerische Praxis hat sich inzwischen dieser Tendenz angepasst und ihre Scheu vor den Gefühlen verloren. Beim affektiven Sehen, Hören oder Lesen geht es nicht darum, hinter den Gefühlen eine Wahrheit zu vermuten, sondern bestimmte Affekte zu haben oder eben nicht zu haben. Dementsprechend interessieren sich die neuern Affekttheorien aus den Bereichen der Neurolinguistik und der Neurobiologie im Unterschied zur Psychoanalyse nicht mehr für das Scheitern, sondern ausschließlich für das Gelingen der Affektproduktion. Während im Zentrum der psychoanalytischen Theorie noch das rätselhafte Tier stand, das sich aufgrund seiner Sprache von allen anderen Tieren unterscheidet, haben die Neurowissenschaften den sprechenden Menschen schon lange zugunsten eines fühlenden Wesens verabschiedet, dessen Erregungszustände sich unmittelbar ablesen lassen.
Marie-Luise Angerer interpretiert die Verschiebung vom Sex zum Affekt als historischen Übergang vom Humanen zum Posthumanen. Man ist nur so lange auf die Selbstauskunft des sprechenden Menschen angewiesen, bis es genug Daten gibt, um auch dann eine vollständige Diagnose stellen zu können, wenn der Mensch nicht den Mund aufmacht. Selbstverständlich ist das Phantasma der Überwindung eben der Kluft, die den sprechenden Menschen von dem trennt, worüber er spricht, so alt wie die Sprache selbst. Dennoch scheint sich gegenwärtig Michel Foucaults Prognose eines posthumanen Zeitalters auf merkwürdige Weise zu erfüllen. Denn wenn die Reproduktion des Menschen nicht mehr von seinen Begierden, Leidenschaften und Wünschen abhängig ist, sondern sich technisch bewerkstelligen lässt, wenn die Erzeugung der Nachkommenschaft getrost den biopolitischen Laboren überlassen werden kann, dann stellt der Mensch nicht mehr das zu lösende Rätsel der Humanwissenschaften dar. Zurecht versteht Marie-Luise Angerer daher das Begehren nach dem Affekt als ein Begehren, sich selbst los zu werden.
Marie-Luise Angerer: "Vom Begehren nach dem Affekt",
Diaphanes, Frühjahr 2007, 152 S., 24,90 Euro.
Als ein Geheimnis, dessen Entschlüsselung lebenswichtig erschien, war der Sex zum Gegenstand zahlreicher Experimente und Abhandlungen geworden. Unter dem Titel "Der Wille zum Wissen" präsentierte Foucault 1976 die ersten Ergebnisse seiner Beschäftigung mit der hartnäckigen Enträtselungswut. In diesem Buch schrieb der Diskursanalytiker gegen den Mythos von der Befreiung des Sexes an, der in den 70er Jahren seinen Höhepunkt erreicht hatte und uns auch heute noch an die Emanzipation der Lust glauben macht. Im Gegensatz zu den populären Theorien staatlicher Repression stellte Foucault die These auf, dass der Sex keineswegs unterdrückt, sondern in zahlreichen Prozeduren der Befragung allererst hervorgebracht und zu weiteren Akten der Hervorbringung stimuliert wird. Aus dieser Perspektive erscheint die sexuelle Befreiung geradezu umgekehrt als eine bevölkerungspolitische Maßnahme, auf deren reproduktionssteigernde Effekte moderne Gesellschaften zunehmend angewiesen sind.
Auch wenn man Foucaults biopolitischer Analyse der sexuellen Befreiung nicht in allen Punkten folgen mag, so wird man die Expansion des Sexmarktes dennoch nicht als einen unerwünschten Nebeneffekt der sexuellen Revolution abtun können. Längst ist die Befreiungs- und Bekenntniskultur zu einer umsatzstarken Sexindustrie geworden, deren Versprechen auf die Entfaltung und Steigerung der individuellen Lust abzielen. Was dereinst etwas prüde und allzu bürgerlich als Ehehygiene daher kam, ist inzwischen zu einer umfassenden Vermarktung des Sexes geworden, bei der sich die Grenze zwischen der ehemals schmuddeligen Pornobranche und einer gestylten Erotikkultur nicht mehr ziehen lässt. Was einmal als geheime Wahrheit des sexuellen Begehrens gegolten hat, dient heute als verfügbare Quelle von Sensationen.
Diese Beobachtung hat die Kunst- und Medienwissenschaftlerin Marie-Luise Angerer zum Anlass genommen, Michel Foucaults These dahingehend zu modifizieren, dass an die Stelle des Sexes inzwischen der Affekt getreten ist. Denn während die Entzifferung des sexuellen Begehrens stets mit der Unterstellung eines Geheimnisses einhergeht, das dem begehrenden Ich immer unbekannt bleiben wird, versteht sich die gegenwärtige Affektindustrie als ein Angebot zur gezielten Modulation von Stimmungen. Im Unterschied zur Stimulation des sexuellen Begehrens beruht der Markt der Affekte auf der Suggestion, dass man genau das bekommt, was man haben will.
In diesem Sinne diagnostiziert Marie-Luise Angerer in ihrem Buch "Vom Begehren nach dem Affekt" anhand so unterschiedlicher Felder wie der Neurobiologie, der Unterhaltungsindustrie, dem Cyber Sex oder der Medienkunst eine Verschiebung von der Undurchschaubarkeit des sexuellen Begehrens zur Handhabbarkeit der Affekte. Längst werden Gefühle nicht mehr dem ungewissen Inneren eines diffusen Ichs anvertraut, sondern als Effekte von medientechnischen Konstellationen des Genießens verstanden.
Gehirnbilder, Lektüreempfehlungen, Wohlfühlprogramme und psychologische Ratgeber informieren einen darüber, was man tun muss, um sich in Stimmung zu bringen. Auch die künstlerische Praxis hat sich inzwischen dieser Tendenz angepasst und ihre Scheu vor den Gefühlen verloren. Beim affektiven Sehen, Hören oder Lesen geht es nicht darum, hinter den Gefühlen eine Wahrheit zu vermuten, sondern bestimmte Affekte zu haben oder eben nicht zu haben. Dementsprechend interessieren sich die neuern Affekttheorien aus den Bereichen der Neurolinguistik und der Neurobiologie im Unterschied zur Psychoanalyse nicht mehr für das Scheitern, sondern ausschließlich für das Gelingen der Affektproduktion. Während im Zentrum der psychoanalytischen Theorie noch das rätselhafte Tier stand, das sich aufgrund seiner Sprache von allen anderen Tieren unterscheidet, haben die Neurowissenschaften den sprechenden Menschen schon lange zugunsten eines fühlenden Wesens verabschiedet, dessen Erregungszustände sich unmittelbar ablesen lassen.
Marie-Luise Angerer interpretiert die Verschiebung vom Sex zum Affekt als historischen Übergang vom Humanen zum Posthumanen. Man ist nur so lange auf die Selbstauskunft des sprechenden Menschen angewiesen, bis es genug Daten gibt, um auch dann eine vollständige Diagnose stellen zu können, wenn der Mensch nicht den Mund aufmacht. Selbstverständlich ist das Phantasma der Überwindung eben der Kluft, die den sprechenden Menschen von dem trennt, worüber er spricht, so alt wie die Sprache selbst. Dennoch scheint sich gegenwärtig Michel Foucaults Prognose eines posthumanen Zeitalters auf merkwürdige Weise zu erfüllen. Denn wenn die Reproduktion des Menschen nicht mehr von seinen Begierden, Leidenschaften und Wünschen abhängig ist, sondern sich technisch bewerkstelligen lässt, wenn die Erzeugung der Nachkommenschaft getrost den biopolitischen Laboren überlassen werden kann, dann stellt der Mensch nicht mehr das zu lösende Rätsel der Humanwissenschaften dar. Zurecht versteht Marie-Luise Angerer daher das Begehren nach dem Affekt als ein Begehren, sich selbst los zu werden.
Marie-Luise Angerer: "Vom Begehren nach dem Affekt",
Diaphanes, Frühjahr 2007, 152 S., 24,90 Euro.