Nein, es gibt für den Erzähler, der sich an die Anfänge der DDR erinnert, wirklich keinen Grund, nur argwöhnisch an seine Jugend im Sozialismus zu denken. Christoph Hein, der seine Prosa im Gespräch selbst "autobiographische Fiktion" nennt, hat sich eine Figur ausgedacht, die eher mit Sentimentalität als mit Haß, eher mit einem traurigen Lächeln als mit verbissenen Zähnen, eher mit einem Unschuldsblick als mit kritischem Scharfsinn auf die fünfziger Jahre in der mitteldeutschen Provinz zurückschaut.
Sein neues Buch ist eine Suche nach der verlorenen Zeit. Es geht ihm darum, der DDR literarisch etwas zurückzugeben, was sie im Gefecht der notorischen Vergangenheitsbewältiger und in verbissenen Historikerdebatten zu verlieren droht: Lebensgeschichten von Einzelnen, die sich nicht als Belegmaterial für diese oder jene Ideologie gebrauchen ließen. "Ich versuche, die Geschichten zu vervollständigen, sie mit den Bruchstücken der Erinnerung anzufüllen, mit Bildern, die sich mir einprägen, mit Sätzen, die aus dem dunkel schimmernden Meer des Vergessenseins dann und wann aufsteigen und ins Bewußtsein dringen. Manche dieser Bruchstücke haben schartige Kanten, die in mir etwas aufreißen, kleine Schnitte in der Haut, aus denen etwas hervorquillt."
Für den 1944 geborenen Schriftsteller war es offenkundig reizvoll, eine Figur erzählen zu lassen, die sich den naiven Blick eines Dreizehnjährigen erlaubt, aber dennoch nicht so tut, als wäre die DDR in den fünfziger Jahren ein reiner Abenteuerspielplatz. Dieser offenen, zwischen Naivität und Ahnung changierenden Erzählperspektive unterliegt die Geschichtsauffassung eines Autors, der den Alltag im Sozialismus weniger an den propagierten Zunkunfstvisionen, geschweige dann am Erzfeind, dem Kapitalismus westdeutscher Prägung, mißt, sondern vielmehr an den Anfängen der DDR, an den Versprechen, die ihre Wegbereiter einst gaben, an den Hoffungen, die viele Menschen mit der Gründung des "ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden" einst verbanden.
Auch wenn es für Christoph Hein schwer gewesen ist, beim Schreiben den kläglichen Zusammenbruch einer Utopie, eines Staates, eines ganzen Systems nicht ständig vor Augen zu haben -, das Buch ist - im Gegensatz zu manch anderer Erinnerungsprosa von Autoren aus der ehemaligen DDR - nicht vom Ende her geschrieben. Daher auch der programmatische Titel: "Von allem Anfang an". Christoph Hein ist darum bemüht, seinen Ich-Erzähler nicht schlauer erscheinen zu lassen als denjenigen, der er in den Fünfzigern war: ein aufgeweckter, erfahrungshungriger, aber dennoch von den Zeitläuften bis auf weiteres einigermaßen verschonter Jüngling.
Leicht hätte dieses erzählerische Verfahren ins Auge gehen können. Doch Christoph Hein ist das Kunststück gelungen, eine Jugend in der frühen DDR weder zu verklären, noch zu romantisieren, sondern so zu erzählen, wie es wirklich gewesen sein muß: ein Leben zwischen Anpassungsdruck und Idylle, zwischen dem Traum des Fortgehens und dem Schmerz des Verlassenwerdens. Es sind die Jahre, als die Mauer noch nicht stand und viele das Land verließen, ohne sich dabei in Lebensgefahr zu begeben. Auch davon handelt dieses aufwühlende Buch. Viele werden sich darin wiederfinden. Aber auch für diejenigen, die die DDR nur vom Hörensagen kennen, ist diese Prosa eine ganz außergewöhnliche Erfahrung.
Gewiß, man zittert regelrecht mit, wie sich Daniel an seine ersten erotischen Sensationen mit Pille am See und Mareike im verschlossenen Zimmer erinnert. Und da ist noch Tante Magdalena, die mit ihrem Fleiß, ihrer Güte, ihrer rundum herzlichen Art alle Eigenschaften besitzt, die ein positiver Held aufweisen muß - man riecht es förmlich, wie da der Kohleofen gestopft oder der Weihnachtsstollen vom Blech genommen wird. Nostalgie freilich kann man der Prosa keineswegs vorwerfen.
Immer wieder, mit Christioph Heins eigenen Worten, "reißt" in seiner Erzählung etwas auf, werden Schnitte sichtbar, deutet sich - ohne daß der Erzähler etwas kommentieren muß - Unheilvolles an. Denn Daniel ist Sohn eines Pfarrers, der genausowenig in der Partei ist wie der Großvater. Der Vater: er geht zur Lehrerin, wenn der Sohn von ihr auf nicht nachvollziehbare Weise gemaßregelt wird und vermutet dahinter zurecht eher politische als religiöse Gründe. Der Großvater: ein Landwirt, der sich den Maßnahmen zur kollektiven Zwangswirtschaft zu entziehen versucht mit der schlitzohrigen Bemerkung, daß man mit einem Parteiabzeichen seine Ferkel nicht unbedingt besser großziehen könne als ohne. Der Großvater muß am Ende seinen Hof an einen "Genossen" abtreten. So schreibt diese kleine Familiengeschichte mehrere unselige Kapitel der DDR-Historie in einem.
Und immer wieder sind es auch ganz alltägliche Details, die erahnen lassen, wie unfrei der Einzelne dort letztlich war. Einmal erzählt Christoph Hein, selbst Sohn eines Pfarrers, davon, wie der Junge einen westlichen Taschenkalender benutzt, in dem Feiertage eingetragen stehen, die es in der DDR naturgemäß nicht gibt - eine schier konspirative Tat. Und wenn ein Doktor aus der Schule entfernt wird, weil er schwul ist und somit nicht dem Ideal des sozialistischen Menschenbildes entspricht, so wird dieser poltitischer Schritt als "hygieniesche Maßnahme" getarnt.
Der Leser griffe allerdings zu kurz, wenn er Christoph Heins Buch als Illustration zur DDR-Geschichte in die Hand nähme. Besonders jene zart erzählten Pubertäts-Szenen, die von ersten sexuellen Regungen Daniels handeln, könnten genauso gut in unseren provinziellen Breiten spielen - sie sind überhaupt nicht auf die DDR fixierbar. "Daniels Beschwerden" - so könnte man in Anlehnung an einen berühmten Titel von Philip Roth Christoph Heins Erzählung betiteln.
"Von allem Anfang an" ist auch ein Künstleroman. Er erzählt davon, wie einer, der von Kindheit an viel liest, den es zu den Artisten hinzieht und der in den Künsten seinen Trost sucht, dermaleinst selbst zum Künstler werden muß, um seine Identität zu gewinnen. Natürlich ist es letztlich Christoph Heins eigene Geschichte, die sich da vor uns ausbreitet. Erste Kontakte zur Bühne, der bevorstehende Besuch eines Gymnasiums in Westberlin, weil er in Ostberlin wegen seines Elternhauses nicht zum Abitur zugelassen würde, ein Gang über den Kurfürstendamm im Jahre 1956, wo er aus Schlagzeilen über die wirklichen Hintergründe des Einmarschs sowjetischer Truppen in Budapest erfährt: all das sind Momente im Buch, die auch zu Schlüsselerlebnissen im Leben des Christoph Hein wurden.
Da, wo Daniels Geschichte aufhört, geht Christoph Heins eigene Geschichte weiter. Er suchte damals, als er - auf Wunsch der Eltern - nach dem Abtitur 1960 nach Ostberlin zurückging, den Kontakt zu den Bühnen. 1963 war er ein Jahr lang Regieassistent bei Benno Besson an der Berliner Volksbühne. Später, nach dem Studium in Leipzig und Berlin, ging er dorthin zurück und wurde ein sogenannter Hausautor. Doch von seinen Stücken wurden hier wie in der gesamten DDR nur die wenigsten gespielt. Warum dies so war - auch davon will er uns später noch erzählen.
Zu seinem literarischen Durchbruch kam es 1982 mit seiner Novelle "Der fremde Freund", die im Westen ein Jahr später unter dem Titel "Drachenblut" herauskam. Ein Bestseller, international. Hier, wie in den späteren Romanen "Horns Ende" (1985) oder "Der Tangospieler" (1989), stößt der Leser auf eine Prosa, die sich von keiner Seite ideologisch ausbeuten ließ. Christoph Hein war immer ein unbequemer Intellektueller, einer, der sich auch in seinen Essays und Reden keiner Seite anbiederte. Er prangerte zwar immer wieder Unrechtszustände in der DDR an (man denke nur an seine Rede auf dem Schriftstellerkongress 1987 gegen die Zensur) -, im gleichen Atemzug aber wies er auch, nicht weniger überzeugend, auf Mißstände im Westen hin. So kam es, daß er von keiner Seite zu vereinnahmen war, von keiner Seite so richtig geliebt, von keiner Seite gehaßt. Was von ihm bleibt, sind seine Erzählungen und Romane.
Nach der (politisch) vollzogenen deutschen Einheit wurde es immer stiller um Christoph Hein. Des öffentlichen Redens müde, ging er für immer längere Zeiträume in Klausur. Es hat sich gelohnt. "Von allem Anfang an", in den neunziger Jahren geschrieben, ist seine leiseste und zugleich beste Erzählung seit "Drachenblut". Wahrlich ein Neuanfang.
Sein neues Buch ist eine Suche nach der verlorenen Zeit. Es geht ihm darum, der DDR literarisch etwas zurückzugeben, was sie im Gefecht der notorischen Vergangenheitsbewältiger und in verbissenen Historikerdebatten zu verlieren droht: Lebensgeschichten von Einzelnen, die sich nicht als Belegmaterial für diese oder jene Ideologie gebrauchen ließen. "Ich versuche, die Geschichten zu vervollständigen, sie mit den Bruchstücken der Erinnerung anzufüllen, mit Bildern, die sich mir einprägen, mit Sätzen, die aus dem dunkel schimmernden Meer des Vergessenseins dann und wann aufsteigen und ins Bewußtsein dringen. Manche dieser Bruchstücke haben schartige Kanten, die in mir etwas aufreißen, kleine Schnitte in der Haut, aus denen etwas hervorquillt."
Für den 1944 geborenen Schriftsteller war es offenkundig reizvoll, eine Figur erzählen zu lassen, die sich den naiven Blick eines Dreizehnjährigen erlaubt, aber dennoch nicht so tut, als wäre die DDR in den fünfziger Jahren ein reiner Abenteuerspielplatz. Dieser offenen, zwischen Naivität und Ahnung changierenden Erzählperspektive unterliegt die Geschichtsauffassung eines Autors, der den Alltag im Sozialismus weniger an den propagierten Zunkunfstvisionen, geschweige dann am Erzfeind, dem Kapitalismus westdeutscher Prägung, mißt, sondern vielmehr an den Anfängen der DDR, an den Versprechen, die ihre Wegbereiter einst gaben, an den Hoffungen, die viele Menschen mit der Gründung des "ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden" einst verbanden.
Auch wenn es für Christoph Hein schwer gewesen ist, beim Schreiben den kläglichen Zusammenbruch einer Utopie, eines Staates, eines ganzen Systems nicht ständig vor Augen zu haben -, das Buch ist - im Gegensatz zu manch anderer Erinnerungsprosa von Autoren aus der ehemaligen DDR - nicht vom Ende her geschrieben. Daher auch der programmatische Titel: "Von allem Anfang an". Christoph Hein ist darum bemüht, seinen Ich-Erzähler nicht schlauer erscheinen zu lassen als denjenigen, der er in den Fünfzigern war: ein aufgeweckter, erfahrungshungriger, aber dennoch von den Zeitläuften bis auf weiteres einigermaßen verschonter Jüngling.
Leicht hätte dieses erzählerische Verfahren ins Auge gehen können. Doch Christoph Hein ist das Kunststück gelungen, eine Jugend in der frühen DDR weder zu verklären, noch zu romantisieren, sondern so zu erzählen, wie es wirklich gewesen sein muß: ein Leben zwischen Anpassungsdruck und Idylle, zwischen dem Traum des Fortgehens und dem Schmerz des Verlassenwerdens. Es sind die Jahre, als die Mauer noch nicht stand und viele das Land verließen, ohne sich dabei in Lebensgefahr zu begeben. Auch davon handelt dieses aufwühlende Buch. Viele werden sich darin wiederfinden. Aber auch für diejenigen, die die DDR nur vom Hörensagen kennen, ist diese Prosa eine ganz außergewöhnliche Erfahrung.
Gewiß, man zittert regelrecht mit, wie sich Daniel an seine ersten erotischen Sensationen mit Pille am See und Mareike im verschlossenen Zimmer erinnert. Und da ist noch Tante Magdalena, die mit ihrem Fleiß, ihrer Güte, ihrer rundum herzlichen Art alle Eigenschaften besitzt, die ein positiver Held aufweisen muß - man riecht es förmlich, wie da der Kohleofen gestopft oder der Weihnachtsstollen vom Blech genommen wird. Nostalgie freilich kann man der Prosa keineswegs vorwerfen.
Immer wieder, mit Christioph Heins eigenen Worten, "reißt" in seiner Erzählung etwas auf, werden Schnitte sichtbar, deutet sich - ohne daß der Erzähler etwas kommentieren muß - Unheilvolles an. Denn Daniel ist Sohn eines Pfarrers, der genausowenig in der Partei ist wie der Großvater. Der Vater: er geht zur Lehrerin, wenn der Sohn von ihr auf nicht nachvollziehbare Weise gemaßregelt wird und vermutet dahinter zurecht eher politische als religiöse Gründe. Der Großvater: ein Landwirt, der sich den Maßnahmen zur kollektiven Zwangswirtschaft zu entziehen versucht mit der schlitzohrigen Bemerkung, daß man mit einem Parteiabzeichen seine Ferkel nicht unbedingt besser großziehen könne als ohne. Der Großvater muß am Ende seinen Hof an einen "Genossen" abtreten. So schreibt diese kleine Familiengeschichte mehrere unselige Kapitel der DDR-Historie in einem.
Und immer wieder sind es auch ganz alltägliche Details, die erahnen lassen, wie unfrei der Einzelne dort letztlich war. Einmal erzählt Christoph Hein, selbst Sohn eines Pfarrers, davon, wie der Junge einen westlichen Taschenkalender benutzt, in dem Feiertage eingetragen stehen, die es in der DDR naturgemäß nicht gibt - eine schier konspirative Tat. Und wenn ein Doktor aus der Schule entfernt wird, weil er schwul ist und somit nicht dem Ideal des sozialistischen Menschenbildes entspricht, so wird dieser poltitischer Schritt als "hygieniesche Maßnahme" getarnt.
Der Leser griffe allerdings zu kurz, wenn er Christoph Heins Buch als Illustration zur DDR-Geschichte in die Hand nähme. Besonders jene zart erzählten Pubertäts-Szenen, die von ersten sexuellen Regungen Daniels handeln, könnten genauso gut in unseren provinziellen Breiten spielen - sie sind überhaupt nicht auf die DDR fixierbar. "Daniels Beschwerden" - so könnte man in Anlehnung an einen berühmten Titel von Philip Roth Christoph Heins Erzählung betiteln.
"Von allem Anfang an" ist auch ein Künstleroman. Er erzählt davon, wie einer, der von Kindheit an viel liest, den es zu den Artisten hinzieht und der in den Künsten seinen Trost sucht, dermaleinst selbst zum Künstler werden muß, um seine Identität zu gewinnen. Natürlich ist es letztlich Christoph Heins eigene Geschichte, die sich da vor uns ausbreitet. Erste Kontakte zur Bühne, der bevorstehende Besuch eines Gymnasiums in Westberlin, weil er in Ostberlin wegen seines Elternhauses nicht zum Abitur zugelassen würde, ein Gang über den Kurfürstendamm im Jahre 1956, wo er aus Schlagzeilen über die wirklichen Hintergründe des Einmarschs sowjetischer Truppen in Budapest erfährt: all das sind Momente im Buch, die auch zu Schlüsselerlebnissen im Leben des Christoph Hein wurden.
Da, wo Daniels Geschichte aufhört, geht Christoph Heins eigene Geschichte weiter. Er suchte damals, als er - auf Wunsch der Eltern - nach dem Abtitur 1960 nach Ostberlin zurückging, den Kontakt zu den Bühnen. 1963 war er ein Jahr lang Regieassistent bei Benno Besson an der Berliner Volksbühne. Später, nach dem Studium in Leipzig und Berlin, ging er dorthin zurück und wurde ein sogenannter Hausautor. Doch von seinen Stücken wurden hier wie in der gesamten DDR nur die wenigsten gespielt. Warum dies so war - auch davon will er uns später noch erzählen.
Zu seinem literarischen Durchbruch kam es 1982 mit seiner Novelle "Der fremde Freund", die im Westen ein Jahr später unter dem Titel "Drachenblut" herauskam. Ein Bestseller, international. Hier, wie in den späteren Romanen "Horns Ende" (1985) oder "Der Tangospieler" (1989), stößt der Leser auf eine Prosa, die sich von keiner Seite ideologisch ausbeuten ließ. Christoph Hein war immer ein unbequemer Intellektueller, einer, der sich auch in seinen Essays und Reden keiner Seite anbiederte. Er prangerte zwar immer wieder Unrechtszustände in der DDR an (man denke nur an seine Rede auf dem Schriftstellerkongress 1987 gegen die Zensur) -, im gleichen Atemzug aber wies er auch, nicht weniger überzeugend, auf Mißstände im Westen hin. So kam es, daß er von keiner Seite zu vereinnahmen war, von keiner Seite so richtig geliebt, von keiner Seite gehaßt. Was von ihm bleibt, sind seine Erzählungen und Romane.
Nach der (politisch) vollzogenen deutschen Einheit wurde es immer stiller um Christoph Hein. Des öffentlichen Redens müde, ging er für immer längere Zeiträume in Klausur. Es hat sich gelohnt. "Von allem Anfang an", in den neunziger Jahren geschrieben, ist seine leiseste und zugleich beste Erzählung seit "Drachenblut". Wahrlich ein Neuanfang.