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Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie.

Mit Von den Mythen der Buchkultur... veröffentlicht der Erfurter Medientheoretiker Giesecke ein "transmediales Projekt". Das bedeutet praktisch, daß die Fülle seines Unterfangens ohne den Gebrauch des Computers dem Leser unzugänglich bleibt. Denn dem Band ist eine Mini-CD beigefügt, von der sich farbige Reproduktionen, Faksimiles und Grafiken, das Personen- und Schlagwortregister, Zusammenfassungen sowie Visualisierungen des Buchtextes abrufen lassen. Außerdem sollen Teile jenes Projekts einer "ökologischen Theorie und Geschichte kultureller Kommunikation und ihrer Medien" online gestellt werden, und zwar das "Mythen 3 D" genannte digitale Datenarchiv.

Bernd Mattheus | 09.06.2003
    Zwar stellt die Kombination Buch plus CD nicht gerade eine mediale Revolution dar, gleichwohl ahnen wir, daß, abgesehen von ökonomischen Zwängen, the medium is the message gemeint ist. Denn Giesecke vereint in seiner Studie eine geraffte Geschichte typographischer Medien mit einer Kritik am "monomedialen" Informations- und Kommunikationssystem namens Buch. Damit scheint der Autor Marshall McLuhan verpflichtet zu sein, der in der Gutenberg-Galaxis bereits vor vierzig Jahren das Ende des Buchzeitalters prophezeite. Giesecke behauptet nun die Ablösung der "typographischen Kommunikationsgemeinschaft" durch die Informationsgesellschaft spätestens zur Jahrtausendwende.

    In jener Art zweiten Renaissance werde etwas Immaterielles, der Dialog, zur wichtigsten Ressource, um das Überleben der Menschheit zu sichern, lautet die Grundthese. War die Buchkultur einschließlich technologischer Innovationen in den zurückliegenden fünf Jahrhunderten identitätsstiftend für Europa, so werde diese Funktion künftig der "sozialen Informationsverarbeitung" zufallen.

    Gieseckes Terminologie ist, muss man zugeben, gewöhnungsbedürftig, beschreibt sie doch, wie in der Kybernetik üblich, den Menschen durchgängig als Computer – einstmals liebevoll "Elektronengehirn" genannt -, Kommunikation folglich als "Informationsverarbeitung". In der Sicht des Medien- und Informationstheoretikers ist das Buch mehr als das schlichte Produkt von Setzkasten und Druckerpresse, sondern vielmehr ein Informationssystem, heißt es, das "über Wahrnehmungsorgane verfügt, die – mit den Augen der Autoren – Informationen gewinnen, über Prozessoren, die diese Informationen in Bilder und Texte transformieren, und über technisierte Systeme, die sie vervielfältigen." Das Buch wäre praktisch der nicht-elektronische Prototyp des Computers, sobald die Sinne von Autor und Leser miteinander kommunizieren – die Bezeichnung "Note-Book" knüpft noch an diese Vorgeschichte an. Die Sinne, das Gehirn des Autors entspräche den "Prozessoren" des Rechners, dessen "Speicher" die Summe der gedruckten Bücher in den Bibliotheken darstellte.

    In einem etwa hundert Jahre währenden Prozeß transformiert – Giesecke schreibt: "programmiert" – die "neue Software" Buch die Wahrnehmung sowohl der Autoren als auch der Leser. "Grundbedingung der Loslösung der Information von den Experten ist im typographischen Zeitalter die Versprachlichung gewesen." Zwar ermöglichte Gutenbergs Erfindung das Speichern und Tradieren von Wissen, und, darüber hinausgehend, war der Buchdruck als Technik gewiß die Voraussetzung für das, was wir unter Aufklärung. Emanzipation, Fortschritt, interkulturelle Verständigung etc. verstehen. Aber um den Preis, lexikalische, grammatische Konventionen zu akzeptieren und sich vom Geschriebenen als Gesetz konditionieren zu lassen. Was Giesecke als "typographische Programmierung" anprangert. In dem Kapitel ‚Mythen und Mystifikationen der Buchkultur‘ hinterfragt er die totemistische Überbewertung des Wortes, die Verschriftlichung aller Lebensbereiche. "Die Gleichschaltung der Köpfe ist die konsequente Verwirklichung des Verständigungsmodells des typographischen Zeitalters." Homogenisierung, Verdummung der Massen, "Zurichtung der Menschen" führten bisher alle Gegner der multimedialen Unterhaltungsindustrie ins Feld, von Neil Postman bis Pierre Bourdieu. Deshalb erstaunt es, daß Giesecke der typographischen Ära jegliches revolutionäres Potential abspricht: gab es nicht eine Gleichzeitigkeit von Norm/Gesetz und Revolte/Überschreitung, Luthers Thesen und Poesie – trotz des monomedialen Systems?

    Weiter unten im Text erklärt der Verfasser immerhin das simplifizierende behavioristische Modell von Sender und Empfänger, von input und output für überholt, hält aber am Mensch-Rechner- Paradigma fest. Der Mensch sei ein informationsverabeitendes Ökosystem. Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich noch das Gespräch von Angesicht zu Angesicht als "multimedial und interaktiv" angelegt beschreiben, schließt es doch Mimik, Gestik, Handeln, "leibliches Verhalten" mit ein. Gegen Ende seiner Ausführungen, den thesenartigen Kapiteln, vollzieht Giesecke eine Aufwertung des Dialogs, der ohne elektronische Vernetzung auskommt, weil er das Gespräch selbst als "Relais, Prozessor und Spiegel kultureller Kommunikation" deutet. Der für Martin Buber zentrale Begriff des Dialogs, mit dessen Hilfe er das Wesen des religiösen Menschen zu bestimmen suchte, wird bei Giesecke zum Ökulog, einer aus Ökologie, Kultur und Dialog gebildeten Wortneuschöpfung. Eine "ökologische Dialogkultur" würde die Informationsgesellschaft der Zukunft charakterisieren. Zu dieser Vision zählt die Gestaltung "dialogischer Netzwerke wie auch multimedialer Ökosysteme". Giesecke betreibt offenbar keine Apotheose der Digitalisierung, sondern stellt den Logozentrismus, unsere Wortfixiertheit in Frage, um die Sinne zu rehabilitieren. "Es geht um die Vision einer ökologischen Kommunikationskultur als Ergänzung und Alternative zur Vision der Naturbeherrschung durch die technisierte Unterbrechung der Rückkoppelungs- oder Spiegelbeziehungen zwischen Mensch und Natur", schreibt er. Könnten die neuen Medien, statt eine Bedrohung darzustellen, nicht "eher eine Chance zur Entlastung von einfachen Formen der Kommunikations- und Informationsverarbeitung" sein? Und das Zusammenspiel von Mensch und intelligentem PC paradoxerweise "die Bedeutung eines sich ganzheitlich erlebenden, seine intuitiven und nonverbalen Prozessoren nutzenden und sich multimedial ausdrückenden Menschen" gerade stärken? Wenn alles technisiert ist, so Gieseckes Fazit, seien "qualitative Vorteile nur durch Programmwechsel zu erreichen: Meditation, Selbstbeobachtung und –beherrschung, Einsatz von Glauben und Telepathie." Die bündige Interpretation des Esoterik-Booms.

    Beabsichtigten die Mensch-Maschine-Vergleiche der französischen Aufklärer, den Menschen zu ermutigen, sich vom Glauben zu lösen, so deutet sich ein in die Gegenrichtung verlaufender Prozeß an, der auf das Jenseits der Vernunft setzt. So orakelte Ernst Jünger im Alter von einer zunehmenden "Vergeistigung" im dritten Millenium. Unter jenem New Age dürfte er sich weniger weltweite Vernetzung denn die Kommunikation ohne zwischengeschaltete Medien vorgestellt haben.