Die Körper sind gar nicht besonders ausgearbeitet, aber der Mund, die Auge, die Geschlechtsorgane sind ganz stark betont, oft mir kräftigem Rot. Und was das Interessante ist, dass Carol Rama diese Mädchengestalten eben mit dem Blick einer Frau sieht. Also sie sind nicht als Objekt dargestellt, sondern sie gucken den Betrachter direkt an. Sie sind wirklich als aktive sexuelle Wesen präsentiert.
Woher das kommt, ist schwer zu sagen. Die Biographie der Autodidaktin gibt sich einigermaßen zugeknöpft. Aufgewachsen ist Carol Rama als Tochter eines Turiner Fahrradfabrikanten, der sich nach dem Bankrott das Leben nahm. Die Mutter verschwand in der Psychiatrie, als die Tochter pubertierte, da scheint die Tragödie ihres Werkes vorgezeichnet.
"Um sie zu sehen, ging ich in die Klinik, da fing ich an, vulgäre Zeichnungen zu machen", sagte sie später. In der Tat vermitteln die angegilbten Blätter in ihren bizarren Rahmungen einen Touch von Psychiatrie und Anstaltsrepression. Da gibt es aufs Bett geschnallte, amputierte Akte, Riemen, Gitterbetten und Rollstühle – so hat Carol Rama die schamlosen Verwundungen ihrer Jugend zu Papier gebracht.
(Museumsleiterin Brigitte Reinhardt) Sie hat nach dem Krieg diese Aquarelle in eine Schublade gelegt oder in einen Schrank und hat die nicht mehr ausgestellt. Ich glaube, das liegt daran, dass nach dem zweiten Weltkrieg die ganze gegenständliche Kunst ja als völlig veraltet galt und viele Künstler sich dann der Abstraktion zugewandt haben. Und sie wollte jetzt eben dabei sein.
Dies abstrakte Intermezzo einer Malerei mit schrundig-düsteren Oberflächen ist freilich nicht von langer Dauer. Bald geht sie über zu anspielungsreichen Materialcollagen mit industriellen Eingeweiden wie Gummischläuchen, Kabeln, Metallhaken, und Lederfetzen – Bildwerke von korrosiver Schönheit, oft versetzt mit Glasaugen, Tierkrallen oder Gedichten des mit ihr befreundeten Poeten Edoardo Sanguineti.
Das Obszöne bleibt ein Leitmotiv. "Das Empfinden der Sünde ist mein Meister", sagte sie einmal, und die Museumswände sind gespickt mit derlei Zitaten.
Wer vermag schon Legende und Wahrheit zu trennen im Leben der betagten Künstlerin, die angeblich Hunderte von Liebhabern hatte, die mit Andy Warhol, Marcel Duchamp und Man Ray befreundet war und sich auch heute noch gefällt in der Rolle der verruchten alten Dame. 86 ist sie jetzt, und im letzten Jahr noch schuf sie einen Schuh aus Bronze, dessen Innensohle mit einem Penis ausgelegt ist. Das riecht sehr nach den Fetischen ihrer zehn Jahre älteren Kollegin Louise Bourgeois, und in der Tat sieht es so aus, als genieße Carol Rama nun den späten Ruhm ihrer frühen Tabubrüche in sanften Reprisen. Die Themen hat sie wieder aufgewärmt, noch immer malt und zeichnet sie, die alten Obsessionen: Carol, die Wilde, die femme fatale, nur dass jetzt nicht mehr die Polizei kommt, sondern, wie im letzten Jahr, die Preisrichter der Biennale von Venedig vor ihr stehen, um ihr den "Goldenen Löwen" zu überreichen für ihr Lebenswerk, so wie vier Jahre zuvor schon an Louise Bourgeois.
Diese Praxis wiederum gehört offenbar zu den Obsessionen des Kunstbetriebs.