Samstag, 11. Mai 2024

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Von der Kolchose zum Familienbetrieb

Auf einem estnischen Bauernhof, rund 40 Kilometer südwestlich von Tallin. Stolz hebt Bauer Madis Notton ein Ferkel hoch. Im Stall tummeln sich ca. 250 wohlgenährte Schweine. Auf rund 60 Hektar eigenem und gepachtetem Ackerland reift das Futter für die Schweinezucht. Der Hof ist in bestem Zustand: Das alte Bauernhaus, der Stall und ein Erdkeller sind erneuert, der umliegende Rasen ist sorgfältig gemäht. In jedem Winkel spürt man das Engagement des Bauern:

Von Von Stefan Tschirpke | 05.08.2003
    In dieser Gegend bin ich einer der wenigen. Ich wollte jedoch zeigen, dass es geht. Die meisten haben aufgehört und sind nach Tallin weggezogen. Von einst 22 Höfen sind noch zwei übrig.

    Zugegeben, Bauer Madis Notton ist ein besonders positives Beispiel. Er ist aber zugleich auch Beleg für die enormen Veränderungen und Fortschritte, die sich in den ländlichen Regionen Estlands innerhalb von nur zehn Jahren vollzogen haben. Alles begann mit einer dramatischen Rosskur gleich nach der wiedererlangten Unabhängigkeit in der ersten Hälfte der 90er Jahre: Rückgabe von Grund und Boden an Alteigentümer oder deren Erben, Umwandlung von knapp 400 Kolchosen und Sowchosen in rund 900 Aktiengesellschaften, Stopp der generellen Subventionspolitik. In der Landbevölkerung besonders umstritten war die Freigabe der Preise und die Öffnung der einheimischen Märkte, die von subventionierten und qualitativ überlegenen Lebensmitteln aus dem Ausland überschwemmt wurden. Hinzu kamen von Russland verhängte doppelte Einfuhrzölle für estnische Agrarprodukte, die bis heute den Export estnischer Lebensmittel nach Russland lahm legen. Schwere Zeiten für unsere Bauern, erinnert sich Kaul Nurm, geschäftsführender Direktor des Zentralverbands der estnischen Landwirte:

    Zu Zeiten des Sowjetregimes war Estland ein groβer Agrarproduzent. Milch, Fleisch, Kartoffeln gingen in die russischen Ballungszentren. Jetzt führt Estland – mit Ausnahme von Milch –Lebensmittel ein.

    Die schwierigsten Zeiten sind aber überstanden, glaubt Toomas Kevvai, stellvertretender Kanzleichef im Landwirtschaftsministerium und seinerzeit einer der leitenden Unterhändler in den Beitrittsverhandlungen. Der Produktions- und Beschäftigungsrückgang ist abgebremst und die Ausfuhr von Molkereierzeugnissen in die EU – dem wichtigsten estnischen Exportprodukt – hat explosionsartig zugenommen. Kevvai betont, dass die Schocktherapie der 90er Jahre aus Sicht einer künftigen EU-Mitgliedschaft positiv zu sehen ist:

    Sollten wir in die EU gehen, haben wir die Strukturanpassung bereits hinter uns. Alles Überschüssige ist entfernt. Wir können investieren und in die Zukunft schauen.

    Zu den bestimmenden Elementen gehören heute rund 650 Groβbetriebe mit einer durchschnittlichen Fläche von 450 Hektar. Westliche Toptechnik ist in diesen Betrieben ebenso zu finden wie noch archaische Gerätschaften sowjetischer Bauart. Auβerdem sind da tausende private Familienbetriebe wie der von Bauer Madis Notton, die - auch infolge fehlenden Geldes vom Staat – sehr unternehmerisch agieren:

    Da ich auch eine Verkaufslizenz besitze, kann ich meine Kundschaft direkt beliefern, darunter Kindergärten, Schulküchen, Gaststätten. Meinen etwas höheren Preis nehmen die Kunden in Kauf, weil ich die Ware frisch und schnell liefere.

    Ein nach Ansicht von Kaul Nurm bedauerliches Manko ist, dass sich die Bauern bisher nicht ausreichend für die Bildung von Genossenschaften nach europäischem Modell erwärmen konnten. Dieses Manko würde ihre Stellung in der Nahrungsmittelerzeugerkette erheblich schwächen, beklagt Nurm:

    Das Geschäft ist nicht in den Händen der Landwirte. Das Genossenschaftswesen ist völlig unterentwickelt. So wird das Lebensmittelbusiness weitgehend von einheimischen und ausländischen Investoren und auch ausländischen Genossenschaften kontrolliert.

    Kaul Nurm befürchtet daher, dass auch künftige EU-Subventionen letztendlich nicht dem einzelnen Landwirtschaftsbetrieb zugute kommen, sondern von Investoren und dem Veredlungssektor über die Preispolitik abgeschöpft werden.

    Und wie ist die schon Jahre laufende Anpassung der Landwirtschaft an die Strukturen und Standards der Europäischen Union einzuschätzen? Toomas Kevvai vom Landwirtschaftministerium hebt hervor, dass die Prozesse der Rechtsangleichung und der Aufbau leistungsfähiger Verwaltungsstrukturen weit vorangeschritten sind. Im Veterinär- und Pflanzenschutzbereich und in der Lebensmittelhygiene, zum Beispiel in der Milchproduktion, ist die Anpassung im wesentlichen abgeschlossen. Im Argen liege dagegen noch einiges im Umweltbereich, zum Beispiel bei der Düngemittelentsorgung, betont Toomas Kevvai:

    Hierauf müssen wir künftig unsere Investitionsanstrengungen konzentrieren. Entwicklung der Landwirtschaft und Umweltschutz müssen Hand in Hand verlaufen. Da gibt es noch sehr viel zu tun.

    10 plus - Ein Europa

    Der Deutschlandfunk widmet der bevorstehenden EU-Erweiterung einen großen Programmschwerpunkt. Unter der Überschrift "10 plus Ein Europa. Nahaufnahmen aus den Beitrittsländern" steht in der ersten Woche eines jeden Monats eines der künftigen Neumitglieder im Deutschlandfunk unter besonderer Beobachtung. Mehr...