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Von der Ordnung des Lebens

Schon als Kinder lernen wir: Geburtstage werden gefeiert, bei Beerdigungen trägt man gedeckt und der Nachbar ist zu grüßen. Weihnachten ist für die einen der Höhepunkt des Jahres, anderen graust vor Einkaufsstress und dem unvermeidlichen Familienkrach unterm Weihnachtsbaum. Rituale bestimmen unser Leben. Von der Taufe bis zur Bahre begleiten uns Zeremonien, die mehr oder weniger abgewandelt, ähnlich begangen werden.

Von Barbara Weber |
    Rituale regeln nicht nur unseren Alltag: Besuche von Staatsoberhäuptern werden mit großen staatsmännischen Ritual begangen; Könige ließen sich im Mittelalter mit pompösen Ritualen krönen und in Nordindien wird die Geschichte der Göttin Nanda Devi in einem Theaterritual neu erzählt.

    Was sind Rituale?

    Wie sehen Rituale aus und welchen Bedeutungswandel erfahren sie?
    Damit beschäftigen sich Wissenschaftler des Sonderforschungsbereichs "Ritualdynamik". Der richtete letzte Woche in Heidelberg einen internationalen Kongress aus. Eindrücke von Barbara Weber.


    Unter Ritual würde ich wiederkehrende Verhalten, förmliches Verhalten mit einer hohen symbolischen Kraft verstehen, das in Aufführungen dargeboten wird.

    Es gibt bestimmte Charakteristika, die ein Ritual haben kann, auch mehrere davon, aber nicht unbedingt alle haben muss.

    Ich persönlich ziehe vor, Rituale von ritualisiertem Verhalten zu unterscheiden.

    Also Beispielsweise kann ein Ritual ein Gruppenevent sein, muss es aber nicht notwendigerweise.

    Rituale sind für mich Ausdruck von Zugehörigkeit, das kann zu einer Familie sein, oder zu einem Platz oder zu einer Gemeinschaft.

    In der praktischen Arbeit sind für mich Rituale das, was die Menschen, die ich untersuche, als Rituale bezeichnen.



    " Wie Rituale entstehen, ist tatsächlich eine schwierige Frage. Es sind ja menschliche Handlungen. Also muss es Leute geben, die ein Komitee bilden, um darüber zu entscheiden. Und tatsächlich, wenn man dieser Frage nachgeht, findet man das heraus. Aber anders als bei einem Theaterstück sind die Autoren nicht so wichtig, dass sie tradiert werden. "

    Professor Axel Michaels, Sprecher des Sonderforschungsbereichs Ritualdynamik.

    " Warum es Rituale gibt, das ist eine schwierige Frage, da gibt es keine einheitliche Antwort. Es gibt eine große Anzahl, die sagen, dass das nötig ist, um Konflikte zu vermeiden oder auszutragen, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken, aber auch um die Seele zu entlasten, weil man in ein Verhalten gehen kann, was vorgeschrieben ist; ..und dann gibt es natürlich ein Großteil von Ritualen, die damit zu tun haben, dass man mit den Göttern in Kontakt tritt. "

    Religion ist immer eng mit Ritualen verknüpft. Das gilt weltweit, für jede Religion, entsprechend auch für das Christentum.

    " Wenn man sich anschaut: der sonntägliche Gottesdienst, das Gebet vor dem Essen und ähnliches, das sind alles Rituale, mit denen wir als christlich sozialisierte Menschen immer wieder in Berührung kommen. "

    Simone Heidbrink, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Religionswissenschaft der Universität Heidelberg

    " Interessant war, dass wir bisher in der Forschung mehr oder weniger von systemischen Religionsbegriffen ausgegangen sind, das heißt, es gibt Christentum, es gibt im Christentum verschiedene Untergruppen, also Katholizismus, Protestantismus und darunter wieder weitere Untergruppen. Aber wir sind immer davon ausgegangen, dass es jetzt ein System ist, und ein Mensch, der Christ ist oder Christ wird, taucht in dieses System ein und ist Teil dieses Systems. "

    Das hat sich mit dem Auftreten des World Wide Web grundlegend geändert.

    " Durch die Meinungsäußerungen im Internet haben wir festgestellt, dass das nicht haltbar ist, überhaupt nicht, denn es gibt jede Menge Leute, die sich als Christen bezeichnen, aber nebenher Reiki betreiben, Yoga machen, an Astrologie glauben. Das ist zwar an sich keine Novität, aber man ist sehr lange davon ausgegangen, dass das Abweichungen sind, die einfach aus der Norm fallen. Und wir sehen heute im Internet, das ist normal. Das ist der Normalfall. Das ist gar nicht der Sonderfall. "

    Das stellt die Idee von religiösen Systemen vollkommen auf den Kopf und in Frage, meint die Wissenschaftlerin.

    Das Interessante an der Sache ist eigentlich: Wir sind sehr lange davon ausgegangen, dass es sich bei diesen Phänomenen um moderne oder besser gesagt, postmoderne Phänomene handelt. Wenn man aber den Blickwinkel von Systemen weg auf einzelne individuelle Religiosität wendet, dann stellt man plötzlich fest, wenn man beispielsweise alte Kirchenbücher mal nicht unter dem Blickpunkt von Häresie sich anschaut, sondern dass, was wir individuelle Religiosität oder Individualreligiosität nennen, dann stellt man fest, das gab es eigentlich schon sehr viel früher. Das ist also gar nichts Neues. Und dass, wenn sich das durchsetzen kann, würde eine völlig neue Form von Religionsgeschichtsschreibung notwendig machen und unser Bild von religiösen Systemen völlig über den Haufen werfen.

    " Welche Quellen standen uns zur Verfügung für die Erforschung von Religionen? Das waren meistens religiöse Bücher, religiöse Schriften von Religionsstiftern oder Forschern also irgendwelchen bekannten Theologen. Das war der religiöse Oberschichtendiskurs. Nun stehen uns ganz andere Quellen zur Verfügung, die natürlich den Blickwinkel sehr stark erweitern können. Das ist natürlich eine sehr spannende Sache, den Oberschichtendiskurs mit dem sogenannten Partizipanten-Diskurs mit den individuellen Diskursen von einzelnen zu vergleichen. "

    Die an religiösen Seiten interessierten Internetnutzer beschäftigen sich stark mit verschiedenen Ritualpraktiken.

    Wir haben Massen von sogenannten Ritualpräskripten, also Ritualkochrezepten über das korrekte Durchführen von Ritualen. Wir haben Beschreibungen von durchgeführten Ritualen, sehr häufig auch mit Bildern, das ist das, was wir Ritual Online nennen im Gegensatz zu Onlineritualen.

    " Onlinerituale sind eine verhältnismäßig neue Sache, da muss man auch immer schauen, wie weit die Technik das überhaupt möglich macht. Es ist ja nun nicht so einfach, in einem Internetszenario Rituale durchzuführen. Da ist sicherlich mit eines der fruchtbarsten Felder, sogenannte virtuelle 3D-Umgebungen, wie man sie in Onlinespielen aber auch ganz stark in Second Life findet, wo man nun tatsächlich mit einer virtuellen Repräsentation von einem selbst in diese Welt geht und sich dreidimensional fortbewegt. Da gibt es sehr viele Rituale von sehr stark an der physischen Realität angelehnten Gottesdiensten über Hexenrituale buddhistischen Szenarien. Also es wird da sehr stark experimentiert und es ist sehr spannend, was sich da so findet. "

    Häufig verlieren christliche Rituale in unserer Gesellschaft ihre Bedeutung. Ein Beispiel ist das Weihnachtsfest, das für viele nur noch im Austausch von Geschenken besteht. So erstarren Rituale in Bedeutungslosigkeit, meint Professor Axel Michaels.

    " Also man könnte zum Beispiel die Konfirmation nehmen. Die Jugendlichen und oft auch die Eltern wissen eigentlich gar nicht genau, was dort geschieht und machen es trotzdem. Natürlich gibt es dann den Einwand, dass zumindest die Priester Bescheid wüssten, worum es geht, aber auch das gibt es sehr oft in anderen Kulturen und auch gar nicht mal so selten im christlichen Kontext, dass da Dinge durchgeführt werden, von denen die Betroffen selbst nicht mehr wissen, warum sie es machen. "

    Gerade sinnentleerte Rituale führen oft zur Rebellion bei Jugendlichen, die sich weigern, solche Rituale mitzumachen. So löst das starre Ritual, am ersten Weihnachtstag immer die einen Großeltern und am zweiten die anderen besuchen zu müssen, in mancher Familie heftige Diskussionen aus.

    Ein Ritual, dem sich die Betroffenen mehr oder weniger hingebungsvoll widmen, da sie es häufig als sinnentleert empfinden, ist das Singen der Nationalhymne vor Fußballländerspielen. Nach dem Ende des Nationalsozialismus tun sich viele Deutsche schwer mit staatstragenden Ritualen. Die sind nach landläufiger Meinung eigentlich typisch für Diktaturen und pompöse, sinnentleerte Demonstrationen der Macht. Für Politikwissenschaftler hingegen neu ist die Erkenntnis, dass auch in Demokratien Rituale entstehen können. So wurde auf dem Kongress diskutiert, inwiefern demokratische Verfassungen Raum für Rituale geben und ob Demokratie und Ritual nicht schon ein Widerspruch in sich ist. Andererseits sehen konstitutionelle Monarchien wie die der Briten Rituale als selbstverständliches Merkmal ihres Staates vor.


    " Das ist ein interessanter Bereich, weil Rituale in der modernen Politik ja eigentlich nicht sein dürfen, es soll ja eigentlich immer um die Sache selbst gehen. Und dennoch erleben wir in politischen Debatten, dass sie nach einem bestimmten Schema ablaufen. Wir erleben das bei Demonstrationen, dass sie nach einem Schema ablaufen. Wir sprechen selbst bei den 1.Mai-Krawallen in Kreuzberg immer wieder von einem Ritual. Also immer dann, wenn offenbar die Form überhand nimmt über dem Inhalt und der Bedeutung oder wenn uns das zumindest so erscheint, dann sprechen wir gerne von einem Ritual. "

    Axel Michaels kommt inzwischen zu dem Ergebnis, dass es in Demokratien nicht weniger Rituale gibt als in Diktaturen. Ein weiterer Aspekt ist die Umwidmung von Ritualen: Politiker "entleihen" beispielsweise Rituale aus dem religiösen Bereich. Dazu gehörte - so der Wissenschaftler - die Jugendweihe in der ehemaligen DDR, die die christliche Konfirmation ersetzen sollte. Ein weiteres Beispiel für die Umwidmung eines ursprünglich religiösen Rituals aufgrund einer staatlichen Strukturreform zeigt ein Forschungsprojekt aus Indien. Der Mythos um den Gott Shiva und seiner Frau Nanda Devi gilt als die Grundlage für das moderne Ritual.

    " Wir sprechen über ein Theaterstück, das auf dem Mythos der Göttin Nanda Devi basiert. Nanda Devi wird personifiziert durch zwei Erscheinungen: Die eine ist die einer machtvollen Göttin, und die andere ist die einer einfachen Frau aus dem Volk, die nach außerhalb verheiratet wurde und was bei ihr zu Heimweh führte. Sie durfte ihre Heimat besuchen und wurde von Millionen von Menschen zurück zum Himalaja begleitet. "

    Der Mythos aus dem 6. bis 7. Jahrhundert - so erklärt Professor Data Ram Purohit von der indischen Garhwal Universität - erfreut sich deshalb so großer Beliebtheit, weil sich viele arme junge Inderinnen aus ländlichen Gebieten in ihm wiedererkennen.

    " Für die Bevölkerung dort ist die Geschichte sehr populär. Von den 13 Orten in dem Distrikt haben neun Nanda Devi zu ihrer Schutzgöttin erkoren. Ihr Leiden und Heimweh ist genau das, was die Frauen empfinden, wenn sie verheiratet werden. Das ist genau das, was die Frauen erleben. Das ist der Grund für den Erfolg der Geschichte. "

    Was es für die jungen Frauen bedeutet, in die Welt der Erwachsenen aufgenommen zu werden und welche Aufgabe sie dort erwartet, das hat die Ethnologin Karin Polit in ihrer Dissertation beschrieben, die im kommenden Jahr veröffentlicht wird.

    Ihr aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich mit dem Wandel und der Veränderung von Ritualen, zum Beispiel im neu gegründeten Bundesstaat Uttaranchal in der Region Garhwal.

    Und zwar gibt es in Garhwal Rituale, die eigentlich dafür da sind zu sorgen, dass eine kleine Gemeinde, also eine Dorfgemeinschaft, dass die floriert, dass es der Landwirtschaft dort gut geht, dass die Leute gesund sind, dass Kinder geboren werden und die gesund sind, und dafür muss man bestimmten Göttern huldigen. Und zu dieser Götterhuldigungstradition gehören bestimmte theatrale Elemente.

    " Jetzt ist folgendes passiert in Garhwal: Im Zuge der Neubildung also Umbildung politischer Einheiten hat eine kleinere Elite in Garhwal beschlossen, diese Rituale müssten als ihr eigenes Kulturerbe auch größer aufgeführt werden, das heißt, sie haben die Rituale aus den kleinen Dörfern genommen, haben sie umgewurzelt, und die haben jetzt eine eigene Handlungsmacht entwickelt, indem diese Rituale mit den theatralen Elementen Ikone geworden sind für diese neue politische Einheit. Sie sind immer noch einheitsstiftend wie das ursprüngliche Ritual, allerdings auf einer völlig anderen Basis. Sie werden nicht mehr gemacht, um die Götter zu befriedigen, damit sie für Fruchtbarkeit sorgen, sondern sie sind jetzt mehr gemeinschaftsstiftend als Nebenprodukt der Performanz dieser Rituale. "

    Sie wurden kurzerhand säkularisiert. Allerdings nicht ganz:

    " Die religiösen Aspekte sind immer noch da. Die Leute, die das aufführen, machen immer vorher ein Ritual, um die Götter zu befriedigen, damit sie nicht sauer werden auf die Leute, die das aufführen ohne den alten Kontext. Es ist sehr ambivalent. Aber sie haben ein größeres Publikum bekommen. Anstatt jetzt für ein Dorf da zu sein, sind sie jetzt Rituale, die in einer ganzen Region identitätsstiftend sind. "

    Brauchen Menschen Rituale? Die Studenten der Protestgeneration skandierten: "Unter den Talaren, der Muff von 100 Jahren". Feierliche Zeugnisübergaben nach bestandenem Examen wurden brüsk abgelehnt. Heute gibt es Ansätze wieder Abschlussrituale einzuführen. Auch Rituale sind wohl der Mode unterworfen. Allerdings scheint es so zu sein, dass Rituale etwas dem Menschen immanentes sind, meint Axel Michaels:

    " Die Notwendigkeit liegt wohl daran, dass Rituale ja etwas sind, was man sehr stark aus dem Unterbewusstsein auch machen kann, jedenfalls ein Teil der Rituale, einen großen Teil der Rituale, das heißt, man muss nicht sich hinsetzen und überlegen, was mach' ich jetzt, sondern es geschieht: Wenn man sich grüßt zum Beispiel. Das macht man automatisch. Man sagt Grüß Gott und denkt vielleicht gar nicht dabei an Gott, obwohl ja dem Inhalt nach es darum geht. Das hat auch etwas Entlastendes, dass man sich dieser vorgegebenen, tradierten Formen bedient, ohne dass man immer darüber nachdenken muss zu jedem Moment, warum man das eigentlich macht, obwohl man es eigentlich auch anders machen könnte. "

    Informationen zum Thema Rituale:

    Axel Michaels (Hg.)
    Die neue Kraft der Rituale, Studium Generale, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
    Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2005/2006

    Karin Polit, Good Women. Ethnographic Reflections on Gender and Agency in the North Indian Himalayas, Orient Longman, Hyderabad, 2009