In der lettischen Hauptstadt Riga boomen Banken, Boutiquen und Bars, die Innenstadt ist lebendiger und prachtvoller als manch andere Metropole in Europa. Lettland hat in den vergangenen zwölf Jahren, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, eine rasante Entwicklung durchgemacht.
Begonnen hatte alles in den 80er Jahren, als Dissidenten im Zuge der Perestroika auf stalinistische Verbrechen im Baltikum hinwiesen. 1988 gründeten sie die lettische Unabhängigkeitsbewegung, die "Volksfront". Sie wurde binnen kürzester Zeit zur Massenbewegung. Bei den Wahlen zum lettischen Volksdeputiertenkongreß ein Jahr später erhielt die Volksfront eine klare Mehrheit über die Kommunistische Partei. Seitdem häuften sich Massendemonstrationen und die Forderungen nach staatlicher Unabhängigkeit. Dann schlug Moskau zurück. Moskautreue Kommunisten forderten den Rücktritt der neu gewählten Regierung:
Hier ist der Sender Riga. Wir geben Nachrichten in deutscher Sprache durch. Gestern fand in Riga eine Pressekonferenz eines sogenannten Rettungskomitees, einer prokommunistischen Organisation, statt. Auf dieser Konferenz wurde wiederholt bekannt gemacht, dass heute um die Mittagszeit ein vom Streikkomitee Lettlands organisiertes Meeting beginnt, der von der Kommunistischen Partei angeführt wird. Dieser Meeting soll einen politischen Streik einleiten, als Hauptforderung gilt der Rücktritt der Regierung.
Die Situation eskalierte. Panzer rückten an. Am 20. Januar 1991 stürmten Elitetruppen der Roten Armee das lettische Innenministerium. Radio Riga rief die Menschen dazu auf, die Hauptstadt mit bloßen Händen zu verteidigen. Fünf Menschen kamen bei den Unruhen ums Leben. Dann zogen die Panzer wieder ab. Im März 1991 stimmten knapp drei Viertel der Bevölkerung in einem Referendum für die Unabhängigkeit Lettlands.
Noch einmal versuchten konservative Kräfte, die Entwicklung aufzuhalten. Im August 1991, während des Putsches in Moskau, wurde das Baltikum erneut belagert - doch wieder ohne Erfolg. Am 25. August erkannte Island als erster Staat Lettland an. Zwei Tage später verkündete der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher:
Hitler-Deutschland hat durch den Hitler-Stalin-Pakt dazu beigetragen, dass die Souveränität der baltischen Staaten völkerrechtswidrig zerstört und dass diese Staaten gegen ihren Willen der Sowjetunion einverleibt wurden. Die Bundesregierung hat die Annexion der baltischen Staaten niemals anerkannt. Deshalb wollen wir jetzt, da es möglich geworden ist, unsere Beziehungen zu Estland, Litauen und Lettland wieder aufnehmen.
Am 5. September sah sich auch der letzte Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, gezwungen, Lettlands Unabhängigkeit anzuerkennen. Damit war Lettlands 40jährige Existenz als Sowjetrepublik endgültig beendet. Viele Balten sprachen damals von der "Heimkehr nach Europa". Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union gilt unter Intellektuellen und innerhalb der politischen Elite Lettlands als logische Konsequenz und Höhepunkt dieser "Heimkehr". Maris (r rollt) Riekstins (ríjekstiensch), Staatssekretär im lettischen Außenministerium:
Damals, 1991 und davor, hatte die Rückkehr nach Europa symbolische Bedeutung. Wir kamen dahin zurück, wo wir vor dem Zweiten Weltkrieg waren. Heute ist das natürlich anders. Wenn die Leute heute an Europa denken, denken sie eher an praktische Dinge, und jeder prüft für sich, ob das eine gute Sache für Lettland ist und für ihn persönlich, für seine Kinder und Enkel. Lettland ist ein kleines Land, und selbst, wenn es außerhalb der EU bliebe, wäre es trotzdem von den Entscheidungen in Brüssel oder in anderen Hauptstädten betroffen. Da ist es besser, wenn wir in der EU drin sind, denn nur dann können wir an Entscheidungen mitwirken. Das ist der Hauptgrund, weshalb wir uns für die EU-Mitgliedschaft entschieden haben.
Lettland gilt als einer der Musterkandidaten unter den zehn EU-Beitrittsländern. Die politischen Bedingungen für den Beitritt sind erfüllt, Lettland ist eine Demokratie und eine Marktwirtschaft - so die Einschätzung der EU-Kommission. Das Wirtschaftswachstum betrug im vergangenen Jahr sechs, zur Zeit liegt es sogar bei acht Prozent. Doch der Weg zur EU-Reife war weit und voller Hindernisse. Das größte war die Integration der russischsprachigen Minderheit.
Die Markthallen von Riga. An den Verkaufsständen hört man vor allem Russisch. Der Anteil von Russen, Weißrussen und Ukrainern in der Bevölkerung Lettlands liegt bei mehr als 35 Prozent. Die meisten von ihnen wurden nach dem Einmarsch der Roten Armee in den 40er und 50er Jahren in den lettischen Industriezentren angesiedelt. In Riga und einigen anderen Städten stellen sie sogar die Mehrheit.
Anfang der 90er Jahre, nach der Unabhängigkeit, war es für die russischsprachigen Bewohner Lettlands so gut wie unmöglich, einen lettischen Pass zu bekommen. Die Gesetze sahen vor, dass Nicht-Letten erst nach 16 Jahren Aufenthalt im unabhängigen Lettland eingebürgert werden dürfen. Diese diskriminierende Regelung verzögerte sogar die Aufnahme Lettlands in den Europarat. Erst auf massiven Druck der OSZE, der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen lockerte Lettland Schritt für Schritt sein Staatsbürgerschaftsgesetz. Nicht-Letten müssen jetzt lediglich Lettischkenntnisse nachweisen und einen Test über die Geschichte Lettlands bestehen. --
Trotzdem hat die Mehrheit der russischsprachigen Bewohner Lettlands noch immer keinen lettischen Pass. Die Arbeitslosigkeit ist unter Russischsprachigen wesentlich höher als unter Letten. Die Europäische Kommission beurteilt die Situation der Minderheit trotzdem positiv. Hella Gerth, stellvertretende Leiterin der Delegation der EU-Kommission in Riga.
Mittlerweile können wir sagen, dass die sogenannte Minderheit hier in Lettland respektiert wird, und dass die Kriterien des Minderheitenschutzes, die internationalen Kriterien, auch erfüllt werden.
Vor wenigen Wochen fällte das lettische Verfassungsgericht eine weitere Entscheidung zugunsten der russischsprachigen Minderheit. Es hob die umstrittenen Sprachbeschränkungen in Radio und Fernsehen auf. Bis dahin hatten die Sender höchstens ein Viertel ihres Programms in russischer Sprache senden dürfen. Das sei undemokratisch und verletze die Freiheit des Wortes, so die Verfassungsrichter.
Die Letten weisen zwar mit Recht darauf hin, dass es in ihrem Land niemals zu ethnisch motivierten Gewalttaten gegenüber russischstämmigen Bewohnern gekommen ist. Das Verhältnis zum russischen Staat ist indes nach wie vor gespannt, berichtet Maris Riekstins, Staatssekretär im Außenministerium.
Die offizielle russische Position zu dem, was im Baltikum nach 1940 passiert ist, lautet leider immer noch, die drei baltischen Staaten seien damals freiwillig der Sowjetunion beigetreten. Ich glaube nicht, dass irgendeine Nation in Europa diese Meinung teilt.
Ein anderer russisch-lettischer Streitpunkt ist die Grenzfrage. Nach wie vor gibt es keine formell bestätigte Grenze. Seine Gebietsansprüche gegenüber Russland hat Lettland inzwischen zwar aufgegeben. Ein Abkommen ist trotzdem noch nicht unterzeichnet. Maris Riekstins schiebt die Verantwortung dafür der russischen Seite zu.
Es hat eine Reihe von Verhandlungen zwischen offiziellen Delegationen gegeben. Wir haben einen Vorschlag für ein Grenzabkommen erarbeitet, die lettische Regierung hat es schon 1997 gebilligt, und wir haben mehrfach ausgedrückt, dass wir bereit sind, es zu unterzeichnen. Leider hat die Russische Föderation bisher kein Interesse gezeigt, das gleiche zu tun.
Es gebe gegenwärtig zwar keinen Grund, von einer militärischen Bedrohung Lettlands durch Russland zu sprechen, so Riekstins. Doch der Beitritt zur Nato ist Lettland mindestens ebenso wichtig wie der zur EU - aus Sicherheitsgründen.
In der russischen Duma gibt es immer wieder Leute, die von einer Art neuem russischen Imperium träumen, das die erste Rolle in diesem Teil der Welt spielt. Vielleicht übertreiben wir in diesem Punkt manchmal, aber wir haben unsere historische Erfahrung, und wir müssen einfach aufmerksam sein. Wir können nur unsere Bereitschaft zeigen, pragmatisch zusammenzuarbeiten. Der Ball ist jetzt bei den Russen. Wir warten.
Ein anderer Knackpunkt auf dem Weg Lettlands in die Europäische Union war - und ist - die Korruption. Seit Monaten erregt ein Skandal um den Ölhafen Ventspils Aufsehen. Man nimmt an, dass sich Wirtschaftkriminelle verdeckt Zugang zu den Aufsichtsorganen der Betreiber-Firmen verschafft haben. Der Bürgermeister der Hafenstadt soll darin verwickelt sein. Die Europäische Kommission beobachtet solche Vorgänge, hat aber keine Interventionsmöglichkeiten - so Hella Gerth, die stellvertretende Delegationsleiterin:
Das Ausmaß der Korruption ist sicherlich noch beträchtlich. Was uns allerdings ermutigt, ist die Tatsache, dass die jetzige Regierung die Korruptionsbekämpfung als oberste Priorität ansieht. Sie hat ein Büro eingerichtet zur Korruptionsbekämpfung, die Sensibilisierung der Bevölkerung hat zugenommen, es wurden leitende Personen ausgewechselt in den entsprechenden Ministerien.
Auch Hélena Démakova, Vorstandsmitglied der national-konservativen Volkspartei, glaubt, dass sich die Korruption in Lettland noch eine Weile halten wird. Sie sei allerdings nicht höher als in einigen anderen europäischen Staaten.
Es wird sich nur in längerer Zeit verändern. Weil so viel Mentalität, die doch aus Sowjetzeit geblieben ist, so viel... Ich konnte nie in meiner Jugend Stiefel in Geschäften kaufen, es war immer schwarz, man sollte irgendwo in eine Wohnung gehen und diese ganzen Beziehungen spielen ganz große Rolle. Und bei diesen ganzen großen Veränderungen viele Menschen fühlen sich als Looser. Und Korruption ist so eine Ecke für diese Looser.
Als Looser, als Verlierer des EU-Beitritts, sehen sich viele Bewohner der ländlichen Regionen. Das Wohlstandsgefälle zwischen der boomenden Hauptstadt Riga und dem Land ist immens.
An der Hauptstraße von Valka stehen Bierbänke vor einem Lebensmittel-Laden. Ständig geht die Tür auf und zu. Eine Frau schiebt einen Kinderwagen hin und her. Eine andere trinkt Bier. Valka liegt an der Grenze zu Estland. Der Laden ist der Treffpunkt im Ort. Mára Sichova will in der Mittagspause etwas einkaufen. Sie arbeitet in einer Bank.
Hier in Valka ist es sehr schwer, Arbeit zu finden. Ich habe Glück gehabt. Die Jugendlichen gehen fast alle nach Riga. Mein Sohn hat gerade die Fachschule beendet, er ist Koch. Ich habe ihm schon gesagt, dass er nach Riga gehen und dort Arbeit suchen muß. Produzierendes Gewerbe gibt es hier überhaupt nicht. Nur im Laden arbeiten ein paar Frauen als Verkäuferinnen.
Zu Sowjetzeiten gab es in Valka ein Landmaschinenkombinat, dort wurden Traktoren für die gesamte UdSSR repariert. Von ehemals 800 Angestellten haben heute noch 80 ihren Job. Die lettische Regierung hat keine Konzepte für die Regionalentwicklung, klagt der Bürgermeister von Valka, Vents Kráuklis.
Mehr als 60 Prozent der ausländischen Investitionen fließen nach Riga. Wenn ein Ausländer nach Valka kommt und fragt: "Warum soll ich hier Geld investieren - Valka ist doch 160 km von Riga entfernt? Das sind nur höhere Transportkosten." Dann habe ich darauf keine Antwort. Wir haben in Lettland kein Programm, das Investitionen in den Regionen fördert. Wir müssen die Gesetze ändern. Die Steuern in den Regionen müssen gegenüber der Hauptstadt gesenkt werden. Das wäre ein Anreiz für Investoren. Sonst kommen die nie.
Ein Fünftel der Bevölkerung hat Valka seit 1991 verlassen - das ist in Lettland Rekord. Die Stadt hat noch ein weiteres Problem. Die lettisch-estnische Grenze verläuft mitten durch die Stadt. Und es gibt so gut wie keine Kooperation zwischen den beiden Stadtteilen. An der Grenze wird nach wie vor kontrolliert. Um mit dem Zug von Riga in die estnische Hauptstadt Tallin zu reisen, muss man in Valka aussteigen und mehrere Kilometer zu Fuß über die Grenze zum estnischen Bahnhof gehen.
Mit der EU-Mitgliedschaft beider Staaten soll sich das ändern. Bürgermeister Vents Krauklis hofft auf das Schengen-Abkommen, das freien Grenzverkehr innerhalb der Mitgliedsstaaten garantiert. Doch das wird erst 2007 gültig.
Wir haben Konferenzen zur Grenzfrage in Valka organisiert, wir haben Minister eingeladen, haben Briefe geschrieben - gemeinsam mit dem Bürgermeister der estnischen Seite. Und wir haben gebeten: Bitte beschleunigt die Grenzöffnung. Die lettische Regierung hat jetzt eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die sich mit der Grenzfrage in Valka befassen soll. Aber das ist schon die siebte Arbeitsgruppe zu diesem Thema.
Krauklis träumt von einer Zukunft seiner Stadt als internationalem Zentrum und hofft auf EU-Gelder. Schon jetzt richtet Valka alljährlich ein Theaterfestival aus. In diesem Jahr kamen 500 Gäste aus 16 Ländern. Valka hat aber nur zwanzig Betten.
Wir brauchen Geld für kommunale Aufgaben: Für die Wasserversorgung, für das Wärmesystem, für den Straßenbau. Wir müssen alte Fabrikgelände instand setzen. Wir haben bereits einen Projektantrag fertig für die Renovierung des alten Bahnhofs. Nächstes Jahr schreiben wir einen Antrag für ein Business-Zentrum.
Die Europäische Kommission stellt fest, dass Lettland in den vergangenen Jahren seine Gesetze EU-Normen angeglichen hat. Aber es mangelt an deren Umsetzung, kritisiert Hella Gerth von der Delegation der Europäischen Kommission in Riga.
Erst mal ist das gesamte Justizministerium noch sehr schwach, von der personellen Ausstattung her, es werden in diesem Land mehr Richter gebraucht, die Justizreform der Gerichtshöfe ist noch nicht ganz vollzogen, wir warten noch auf ein Gesetz, da geht es auch darum, die Länge der Untersuchungshaft an den Europäischen Standard anzugleichen. Das ist immer noch ein sehr großes Problem für Lettland. Lettland ist das Land, in dem die längste Untersuchungshaft Praxis ist; es sind Fälle bekannt, wo junge Leute, mit 14 Jahren zum Beispiel, drei Jahre in Untersuchungshaft sitzen ohne Ausbildung, ohne was, und das ist selbst von der Russischen Föderation nicht erreicht. Das ist eine eklatante Verletzung der Menschenrechte, und das muß unbedingt geändert werden.
Dass Lettland das bis zum Beitritt am 1. Mai 2004 schaffe, sei allerdings unwahrscheinlich. Und es gibt keinen Mechanismus, mit dem die Europäische Kommission solche Schritte erzwingen könnte - denn der EU-Beitritt ist beschlossene Sache.
Das letzte Hindernis auf dem Weg in die EU wird deshalb das Referendum am 20. September sein. Dass es positiv ausfällt, ist längst nicht klar. Die lettische Regierung hat in der Bevölkerung kaum für den Beitritt geworben, kritisiert die Europäische Kommission. Besonders skeptisch sind die älteren Leute. Eine Bäckereiverkäuferin auf dem Markt von Riga:
Unsere Renten sind sehr niedrig. Deshalb muss ich hier dazuverdienen. Die Rentner werden in der EU auch nicht mehr Geld bekommen als jetzt.
Und eine Gemüsehändlerin:
Wir wollen die EU nicht. Weil alles Neue schrecklich ist. Was soll mir das bringen? Reisen tu’ ich sowieso nicht, dazu habe ich kein Geld.
Das Hauptargument vieler Letten gegen die EU aber ist die Angst, im großen EU-Apparat die frisch gewonnene Freiheit und Identität zu verlieren. Vierzig Jahre in der Union der Sowjetrepubliken seien genug gewesen, da müsse man jetzt nicht schon wieder einer Union beitreten. Maris Riekstins vom lettischen Außenministerium ist überzeugt, dass diese Angst unbegründet ist. Auch wenn ein Mitgliedsland noch so klein sei, man könne seine Interessen auch in der EU durchsetzen.
Wir sind jetzt in der Trainingsphase. Seit dem 16. April, seit der Unterzeichung der Beitrittsverträge in Athen, haben wir das Recht, an allen Arbeitsgruppen, Beratungen und Meetings teilzunehmen - gemeinsam mit allen anderen Beitrittskandidaten. Da dürfen wir schon jetzt unsere Meinung äußern - nur nicht mit abstimmen. Und wir können Verbündete unter den Mitgliedstaaten suchen. Wir versuchen jetzt, die Mechanismen der EU zu verstehen. Dafür haben wir bis zum 1. Mai 2004 Zeit. Und wir strengen uns an, damit wir dann auf die harte Arbeit in der EU gut vorbereitet sind.
Begonnen hatte alles in den 80er Jahren, als Dissidenten im Zuge der Perestroika auf stalinistische Verbrechen im Baltikum hinwiesen. 1988 gründeten sie die lettische Unabhängigkeitsbewegung, die "Volksfront". Sie wurde binnen kürzester Zeit zur Massenbewegung. Bei den Wahlen zum lettischen Volksdeputiertenkongreß ein Jahr später erhielt die Volksfront eine klare Mehrheit über die Kommunistische Partei. Seitdem häuften sich Massendemonstrationen und die Forderungen nach staatlicher Unabhängigkeit. Dann schlug Moskau zurück. Moskautreue Kommunisten forderten den Rücktritt der neu gewählten Regierung:
Hier ist der Sender Riga. Wir geben Nachrichten in deutscher Sprache durch. Gestern fand in Riga eine Pressekonferenz eines sogenannten Rettungskomitees, einer prokommunistischen Organisation, statt. Auf dieser Konferenz wurde wiederholt bekannt gemacht, dass heute um die Mittagszeit ein vom Streikkomitee Lettlands organisiertes Meeting beginnt, der von der Kommunistischen Partei angeführt wird. Dieser Meeting soll einen politischen Streik einleiten, als Hauptforderung gilt der Rücktritt der Regierung.
Die Situation eskalierte. Panzer rückten an. Am 20. Januar 1991 stürmten Elitetruppen der Roten Armee das lettische Innenministerium. Radio Riga rief die Menschen dazu auf, die Hauptstadt mit bloßen Händen zu verteidigen. Fünf Menschen kamen bei den Unruhen ums Leben. Dann zogen die Panzer wieder ab. Im März 1991 stimmten knapp drei Viertel der Bevölkerung in einem Referendum für die Unabhängigkeit Lettlands.
Noch einmal versuchten konservative Kräfte, die Entwicklung aufzuhalten. Im August 1991, während des Putsches in Moskau, wurde das Baltikum erneut belagert - doch wieder ohne Erfolg. Am 25. August erkannte Island als erster Staat Lettland an. Zwei Tage später verkündete der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher:
Hitler-Deutschland hat durch den Hitler-Stalin-Pakt dazu beigetragen, dass die Souveränität der baltischen Staaten völkerrechtswidrig zerstört und dass diese Staaten gegen ihren Willen der Sowjetunion einverleibt wurden. Die Bundesregierung hat die Annexion der baltischen Staaten niemals anerkannt. Deshalb wollen wir jetzt, da es möglich geworden ist, unsere Beziehungen zu Estland, Litauen und Lettland wieder aufnehmen.
Am 5. September sah sich auch der letzte Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, gezwungen, Lettlands Unabhängigkeit anzuerkennen. Damit war Lettlands 40jährige Existenz als Sowjetrepublik endgültig beendet. Viele Balten sprachen damals von der "Heimkehr nach Europa". Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union gilt unter Intellektuellen und innerhalb der politischen Elite Lettlands als logische Konsequenz und Höhepunkt dieser "Heimkehr". Maris (r rollt) Riekstins (ríjekstiensch), Staatssekretär im lettischen Außenministerium:
Damals, 1991 und davor, hatte die Rückkehr nach Europa symbolische Bedeutung. Wir kamen dahin zurück, wo wir vor dem Zweiten Weltkrieg waren. Heute ist das natürlich anders. Wenn die Leute heute an Europa denken, denken sie eher an praktische Dinge, und jeder prüft für sich, ob das eine gute Sache für Lettland ist und für ihn persönlich, für seine Kinder und Enkel. Lettland ist ein kleines Land, und selbst, wenn es außerhalb der EU bliebe, wäre es trotzdem von den Entscheidungen in Brüssel oder in anderen Hauptstädten betroffen. Da ist es besser, wenn wir in der EU drin sind, denn nur dann können wir an Entscheidungen mitwirken. Das ist der Hauptgrund, weshalb wir uns für die EU-Mitgliedschaft entschieden haben.
Lettland gilt als einer der Musterkandidaten unter den zehn EU-Beitrittsländern. Die politischen Bedingungen für den Beitritt sind erfüllt, Lettland ist eine Demokratie und eine Marktwirtschaft - so die Einschätzung der EU-Kommission. Das Wirtschaftswachstum betrug im vergangenen Jahr sechs, zur Zeit liegt es sogar bei acht Prozent. Doch der Weg zur EU-Reife war weit und voller Hindernisse. Das größte war die Integration der russischsprachigen Minderheit.
Die Markthallen von Riga. An den Verkaufsständen hört man vor allem Russisch. Der Anteil von Russen, Weißrussen und Ukrainern in der Bevölkerung Lettlands liegt bei mehr als 35 Prozent. Die meisten von ihnen wurden nach dem Einmarsch der Roten Armee in den 40er und 50er Jahren in den lettischen Industriezentren angesiedelt. In Riga und einigen anderen Städten stellen sie sogar die Mehrheit.
Anfang der 90er Jahre, nach der Unabhängigkeit, war es für die russischsprachigen Bewohner Lettlands so gut wie unmöglich, einen lettischen Pass zu bekommen. Die Gesetze sahen vor, dass Nicht-Letten erst nach 16 Jahren Aufenthalt im unabhängigen Lettland eingebürgert werden dürfen. Diese diskriminierende Regelung verzögerte sogar die Aufnahme Lettlands in den Europarat. Erst auf massiven Druck der OSZE, der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen lockerte Lettland Schritt für Schritt sein Staatsbürgerschaftsgesetz. Nicht-Letten müssen jetzt lediglich Lettischkenntnisse nachweisen und einen Test über die Geschichte Lettlands bestehen. --
Trotzdem hat die Mehrheit der russischsprachigen Bewohner Lettlands noch immer keinen lettischen Pass. Die Arbeitslosigkeit ist unter Russischsprachigen wesentlich höher als unter Letten. Die Europäische Kommission beurteilt die Situation der Minderheit trotzdem positiv. Hella Gerth, stellvertretende Leiterin der Delegation der EU-Kommission in Riga.
Mittlerweile können wir sagen, dass die sogenannte Minderheit hier in Lettland respektiert wird, und dass die Kriterien des Minderheitenschutzes, die internationalen Kriterien, auch erfüllt werden.
Vor wenigen Wochen fällte das lettische Verfassungsgericht eine weitere Entscheidung zugunsten der russischsprachigen Minderheit. Es hob die umstrittenen Sprachbeschränkungen in Radio und Fernsehen auf. Bis dahin hatten die Sender höchstens ein Viertel ihres Programms in russischer Sprache senden dürfen. Das sei undemokratisch und verletze die Freiheit des Wortes, so die Verfassungsrichter.
Die Letten weisen zwar mit Recht darauf hin, dass es in ihrem Land niemals zu ethnisch motivierten Gewalttaten gegenüber russischstämmigen Bewohnern gekommen ist. Das Verhältnis zum russischen Staat ist indes nach wie vor gespannt, berichtet Maris Riekstins, Staatssekretär im Außenministerium.
Die offizielle russische Position zu dem, was im Baltikum nach 1940 passiert ist, lautet leider immer noch, die drei baltischen Staaten seien damals freiwillig der Sowjetunion beigetreten. Ich glaube nicht, dass irgendeine Nation in Europa diese Meinung teilt.
Ein anderer russisch-lettischer Streitpunkt ist die Grenzfrage. Nach wie vor gibt es keine formell bestätigte Grenze. Seine Gebietsansprüche gegenüber Russland hat Lettland inzwischen zwar aufgegeben. Ein Abkommen ist trotzdem noch nicht unterzeichnet. Maris Riekstins schiebt die Verantwortung dafür der russischen Seite zu.
Es hat eine Reihe von Verhandlungen zwischen offiziellen Delegationen gegeben. Wir haben einen Vorschlag für ein Grenzabkommen erarbeitet, die lettische Regierung hat es schon 1997 gebilligt, und wir haben mehrfach ausgedrückt, dass wir bereit sind, es zu unterzeichnen. Leider hat die Russische Föderation bisher kein Interesse gezeigt, das gleiche zu tun.
Es gebe gegenwärtig zwar keinen Grund, von einer militärischen Bedrohung Lettlands durch Russland zu sprechen, so Riekstins. Doch der Beitritt zur Nato ist Lettland mindestens ebenso wichtig wie der zur EU - aus Sicherheitsgründen.
In der russischen Duma gibt es immer wieder Leute, die von einer Art neuem russischen Imperium träumen, das die erste Rolle in diesem Teil der Welt spielt. Vielleicht übertreiben wir in diesem Punkt manchmal, aber wir haben unsere historische Erfahrung, und wir müssen einfach aufmerksam sein. Wir können nur unsere Bereitschaft zeigen, pragmatisch zusammenzuarbeiten. Der Ball ist jetzt bei den Russen. Wir warten.
Ein anderer Knackpunkt auf dem Weg Lettlands in die Europäische Union war - und ist - die Korruption. Seit Monaten erregt ein Skandal um den Ölhafen Ventspils Aufsehen. Man nimmt an, dass sich Wirtschaftkriminelle verdeckt Zugang zu den Aufsichtsorganen der Betreiber-Firmen verschafft haben. Der Bürgermeister der Hafenstadt soll darin verwickelt sein. Die Europäische Kommission beobachtet solche Vorgänge, hat aber keine Interventionsmöglichkeiten - so Hella Gerth, die stellvertretende Delegationsleiterin:
Das Ausmaß der Korruption ist sicherlich noch beträchtlich. Was uns allerdings ermutigt, ist die Tatsache, dass die jetzige Regierung die Korruptionsbekämpfung als oberste Priorität ansieht. Sie hat ein Büro eingerichtet zur Korruptionsbekämpfung, die Sensibilisierung der Bevölkerung hat zugenommen, es wurden leitende Personen ausgewechselt in den entsprechenden Ministerien.
Auch Hélena Démakova, Vorstandsmitglied der national-konservativen Volkspartei, glaubt, dass sich die Korruption in Lettland noch eine Weile halten wird. Sie sei allerdings nicht höher als in einigen anderen europäischen Staaten.
Es wird sich nur in längerer Zeit verändern. Weil so viel Mentalität, die doch aus Sowjetzeit geblieben ist, so viel... Ich konnte nie in meiner Jugend Stiefel in Geschäften kaufen, es war immer schwarz, man sollte irgendwo in eine Wohnung gehen und diese ganzen Beziehungen spielen ganz große Rolle. Und bei diesen ganzen großen Veränderungen viele Menschen fühlen sich als Looser. Und Korruption ist so eine Ecke für diese Looser.
Als Looser, als Verlierer des EU-Beitritts, sehen sich viele Bewohner der ländlichen Regionen. Das Wohlstandsgefälle zwischen der boomenden Hauptstadt Riga und dem Land ist immens.
An der Hauptstraße von Valka stehen Bierbänke vor einem Lebensmittel-Laden. Ständig geht die Tür auf und zu. Eine Frau schiebt einen Kinderwagen hin und her. Eine andere trinkt Bier. Valka liegt an der Grenze zu Estland. Der Laden ist der Treffpunkt im Ort. Mára Sichova will in der Mittagspause etwas einkaufen. Sie arbeitet in einer Bank.
Hier in Valka ist es sehr schwer, Arbeit zu finden. Ich habe Glück gehabt. Die Jugendlichen gehen fast alle nach Riga. Mein Sohn hat gerade die Fachschule beendet, er ist Koch. Ich habe ihm schon gesagt, dass er nach Riga gehen und dort Arbeit suchen muß. Produzierendes Gewerbe gibt es hier überhaupt nicht. Nur im Laden arbeiten ein paar Frauen als Verkäuferinnen.
Zu Sowjetzeiten gab es in Valka ein Landmaschinenkombinat, dort wurden Traktoren für die gesamte UdSSR repariert. Von ehemals 800 Angestellten haben heute noch 80 ihren Job. Die lettische Regierung hat keine Konzepte für die Regionalentwicklung, klagt der Bürgermeister von Valka, Vents Kráuklis.
Mehr als 60 Prozent der ausländischen Investitionen fließen nach Riga. Wenn ein Ausländer nach Valka kommt und fragt: "Warum soll ich hier Geld investieren - Valka ist doch 160 km von Riga entfernt? Das sind nur höhere Transportkosten." Dann habe ich darauf keine Antwort. Wir haben in Lettland kein Programm, das Investitionen in den Regionen fördert. Wir müssen die Gesetze ändern. Die Steuern in den Regionen müssen gegenüber der Hauptstadt gesenkt werden. Das wäre ein Anreiz für Investoren. Sonst kommen die nie.
Ein Fünftel der Bevölkerung hat Valka seit 1991 verlassen - das ist in Lettland Rekord. Die Stadt hat noch ein weiteres Problem. Die lettisch-estnische Grenze verläuft mitten durch die Stadt. Und es gibt so gut wie keine Kooperation zwischen den beiden Stadtteilen. An der Grenze wird nach wie vor kontrolliert. Um mit dem Zug von Riga in die estnische Hauptstadt Tallin zu reisen, muss man in Valka aussteigen und mehrere Kilometer zu Fuß über die Grenze zum estnischen Bahnhof gehen.
Mit der EU-Mitgliedschaft beider Staaten soll sich das ändern. Bürgermeister Vents Krauklis hofft auf das Schengen-Abkommen, das freien Grenzverkehr innerhalb der Mitgliedsstaaten garantiert. Doch das wird erst 2007 gültig.
Wir haben Konferenzen zur Grenzfrage in Valka organisiert, wir haben Minister eingeladen, haben Briefe geschrieben - gemeinsam mit dem Bürgermeister der estnischen Seite. Und wir haben gebeten: Bitte beschleunigt die Grenzöffnung. Die lettische Regierung hat jetzt eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die sich mit der Grenzfrage in Valka befassen soll. Aber das ist schon die siebte Arbeitsgruppe zu diesem Thema.
Krauklis träumt von einer Zukunft seiner Stadt als internationalem Zentrum und hofft auf EU-Gelder. Schon jetzt richtet Valka alljährlich ein Theaterfestival aus. In diesem Jahr kamen 500 Gäste aus 16 Ländern. Valka hat aber nur zwanzig Betten.
Wir brauchen Geld für kommunale Aufgaben: Für die Wasserversorgung, für das Wärmesystem, für den Straßenbau. Wir müssen alte Fabrikgelände instand setzen. Wir haben bereits einen Projektantrag fertig für die Renovierung des alten Bahnhofs. Nächstes Jahr schreiben wir einen Antrag für ein Business-Zentrum.
Die Europäische Kommission stellt fest, dass Lettland in den vergangenen Jahren seine Gesetze EU-Normen angeglichen hat. Aber es mangelt an deren Umsetzung, kritisiert Hella Gerth von der Delegation der Europäischen Kommission in Riga.
Erst mal ist das gesamte Justizministerium noch sehr schwach, von der personellen Ausstattung her, es werden in diesem Land mehr Richter gebraucht, die Justizreform der Gerichtshöfe ist noch nicht ganz vollzogen, wir warten noch auf ein Gesetz, da geht es auch darum, die Länge der Untersuchungshaft an den Europäischen Standard anzugleichen. Das ist immer noch ein sehr großes Problem für Lettland. Lettland ist das Land, in dem die längste Untersuchungshaft Praxis ist; es sind Fälle bekannt, wo junge Leute, mit 14 Jahren zum Beispiel, drei Jahre in Untersuchungshaft sitzen ohne Ausbildung, ohne was, und das ist selbst von der Russischen Föderation nicht erreicht. Das ist eine eklatante Verletzung der Menschenrechte, und das muß unbedingt geändert werden.
Dass Lettland das bis zum Beitritt am 1. Mai 2004 schaffe, sei allerdings unwahrscheinlich. Und es gibt keinen Mechanismus, mit dem die Europäische Kommission solche Schritte erzwingen könnte - denn der EU-Beitritt ist beschlossene Sache.
Das letzte Hindernis auf dem Weg in die EU wird deshalb das Referendum am 20. September sein. Dass es positiv ausfällt, ist längst nicht klar. Die lettische Regierung hat in der Bevölkerung kaum für den Beitritt geworben, kritisiert die Europäische Kommission. Besonders skeptisch sind die älteren Leute. Eine Bäckereiverkäuferin auf dem Markt von Riga:
Unsere Renten sind sehr niedrig. Deshalb muss ich hier dazuverdienen. Die Rentner werden in der EU auch nicht mehr Geld bekommen als jetzt.
Und eine Gemüsehändlerin:
Wir wollen die EU nicht. Weil alles Neue schrecklich ist. Was soll mir das bringen? Reisen tu’ ich sowieso nicht, dazu habe ich kein Geld.
Das Hauptargument vieler Letten gegen die EU aber ist die Angst, im großen EU-Apparat die frisch gewonnene Freiheit und Identität zu verlieren. Vierzig Jahre in der Union der Sowjetrepubliken seien genug gewesen, da müsse man jetzt nicht schon wieder einer Union beitreten. Maris Riekstins vom lettischen Außenministerium ist überzeugt, dass diese Angst unbegründet ist. Auch wenn ein Mitgliedsland noch so klein sei, man könne seine Interessen auch in der EU durchsetzen.
Wir sind jetzt in der Trainingsphase. Seit dem 16. April, seit der Unterzeichung der Beitrittsverträge in Athen, haben wir das Recht, an allen Arbeitsgruppen, Beratungen und Meetings teilzunehmen - gemeinsam mit allen anderen Beitrittskandidaten. Da dürfen wir schon jetzt unsere Meinung äußern - nur nicht mit abstimmen. Und wir können Verbündete unter den Mitgliedstaaten suchen. Wir versuchen jetzt, die Mechanismen der EU zu verstehen. Dafür haben wir bis zum 1. Mai 2004 Zeit. Und wir strengen uns an, damit wir dann auf die harte Arbeit in der EU gut vorbereitet sind.