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Von Mädchen überholt

Jungen gehen Fußball spielen, Mädchen machen ihre Hausaufgaben. Jungen passen in der Schule nicht auf, Mädchen schreiben gute Noten. Zahlreiche Studien scheinen zu belegen, dass das männliche Geschlecht während der Schulzeit sehr viel schlechter dasteht. Sind Jungs in unserer heutigen Gesellschaft auf der Verliererseite? Oder trügt der Schein?

Von Ingeborg Breuer |
    "Eigentlich sind die Mädchen in allen Fächern besser. Also wenn die Jungs sich anstrengen, können die Jungs zwar mithalten, aber grundsätzlich sind die besser."

    Benjamin, 15, Schüler der Klasse 9 in einem Gymnasium bei Köln.

    "Die machen mehr zu Hause. Jungs spielen mehr Computer oder gehen raus."

    Benjamin bestätigt, was Untersuchungen der letzten Jahre ergeben haben. Dass Jungs im Klassenzimmer zu Verlierern werden, dass sie von den Mädchen überholt werden. Benjamin weiß auch, warum das so ist:

    "Jungs lernen nicht für Tests, die gehen in den Pausen raus. Die Regeln, die verletzen die halt. Ich glaub, Jungs ist die Lage nicht so bewusst, in der Schule."

    "Der entscheidende Fehler in der patriarchalen Gesellschaft war, den Frauen die Bildungsinstitutionen zu öffnen. In dem Augenblick, wo man die Frauen sozusagen in einem freien Wettbewerb auf die Bildungsinstitutionen losgelassen hat, war vorherzusehen, dass sie die Männer auskonkurrieren werden leistungsmäßig","

    urteilt Dieter Otten, emeritierter Soziologe von der Universität Osnabrück. Spätestens seit der ersten Pisa-Studie gelten Jungs als die neuen Sorgenkinder des Bildungssystems. Ihre Leseleistungen hinken denen der Mädchen um rund ein Schuljahr hinterher. Sie bleiben häufiger sitzen. Sie bevölkern die Hauptschulen. Professor Nils Neuber, Sportdidaktiker an der Universität Münster:

    ""Man kann das zum Beispiel deutlich fest machen an dem sogenannten Pisa-Schock, wo wir mit empirischen Daten auf die Unterschiede im Bildungsniveau aufmerksam gemacht wurden. Auf der anderen Seite hören wir von problematischen Jungen, von Lernverweigerern, aggressiven Jungen, von vermehrten Schulabbrüchen. Das kann man durch alle gesellschaftlichen Bereiche durchdeklinieren, dass die Jungen dort schlechter aussehen als die Mädchen, zum Beispiel signifikant: Wer ist auf Förderschulen? Das sind die Jungen! Und wenn man sieht: Wer ist auf dem Gymnasium? Das sind die Mädchen."

    Woran liegt es aber, dass die starken Jungs so schwächeln? Immer schon sind Jungs lauter, dominanter, rüpelhafter als ihre Klassenkameradinnen aufgetreten, ohne dass dies als pädagogisch behandlungsbedürftiges Phänomen erschienen wäre. Im Gegenteil, solche Manieren galten eher als Indiz für Lebenstüchtigkeit und Durchsetzungsvermögen. Doch Machoverhalten sei, meint der Soziologe Professor Dieter Otten, für die modernen permissiven Gesellschaften untauglich geworden. Kommunikation, Teamgeist und Empathie seien heute gefordert. Und solche sozialen Kompetenzen, schrieb Otten in seinem Buch "Männerversagen", fehlen dem starken Geschlecht.

    "Für Männer sind Regelsysteme extrem wichtig, die lernen nach Regeln. Das heißt sie sind moralisch, wenn sie in einem System leben, das ihnen die Regeln vorgibt. Mädchen orientieren sich an Ereignissen und entdecken die Moralität auch ohne Regel. Auf die theoretische Ebene gehoben heißt das, wir lassen in unserer modernen permissiven Gesellschaft die Jungen allein. Die moderne permissive Gesellschaft lässt alles zu, sie gibt keine Orientierung, sie gibt gar nichts. Sie sagt, mach es doch, such dir deinen Weg und dann steht ein Mann vor einer Cafeteria von Möglichkeiten. Das heißt, er weiß nicht, was er tun soll. Und dann: Er sucht sich eine möglichst starke, repressive, doktrinäre Orientierung."

    Für Dieter Otten, den nach eigenem Bekunden "Alt-68er" mit Sympathien für den Feminismus, wird der Mann nahezu zum Auslaufmodell. Er passt mit seinen aggressiven Impulsen einfach nicht mehr in unsere Zeit. Die Zukunft gehört den Frauen.

    "In der Moderne, in der wir uns jetzt befinden, wo's darum geht, nach rechts und links zu gucken, wo es darum geht, sich an die Straßenverkehrsordnung zu halten, da wird dieser Impuls… - der Impuls wird systemstörend. Männer ecken einfach mehr an. Das heißt evolutionsgeschichtlich gesprochen ist das weibliche Verhalten für die Zukunft erfolgsversprechender als das männliche."
    Nicht ganz so pauschal fragen Sozialwissenschaftler und Psychologen aber auch danach, ob nicht die große Anzahl von Frauen in Erziehungsberufen zu einer unzureichenden Förderung von Jungs führt. Bettina Hannover, Psychologieprofessorin an der FU Berlin, untersucht in einem Forschungsprojekt, ob möglicherweise bereits im Kindergarten die Grundlage für das männliche Selbstverständnis gelegt wird, dass Schule etwas für Mädchen ist?

    "Wir interessieren uns dafür, wie Jungen möglicherweise lernen, dass Schule, Bildung, Lesen, die Auseinandersetzung mit Texte etwas Weibliches ist, sie also nicht interessieren sollten, wenn sie ein richtiger Junge sein wollen. Und dafür untersuchen wir zurzeit Kindergartenkinder. Genauer schauen wir, ob Mädchen und Jungen zu Erzieherinnen eine unterschiedliche Beziehung eingehen, die dann dazu führt, dass Mädchen sich wahrscheinlicher von der Erzieherin instruieren lassen, als das bei Jungen der Fall ist. Und unsere Untersuchungsfrage ist: Hat das was damit zu tun, welche Lernangebote Erzieherinnen machen, hat es was damit zu tun, dass die Erzieherinnen sich im Umgang mit den Mädchen sicherer führen, weil sie deren Gefühle und Emotionen besser vorhersagen können?"

    Die Studie wäre freilich aussagekräftiger, wenn ebenso der Einfluss männlicher Erziehungspersonen auf den Bildungsweg von Jungs untersucht würde. Doch - wen wundert's - darüber gibt es leider keine Ergebnisse.

    "Weil es so gut wie keine männlichen Erzieher gibt, so dass wir ausschließlich weibliche Erzieher in unserer Untersuchung haben. Und hier zeigt sich, das die Erzieherinnen erfolgreicher mit den Mädchen interagieren."
    Immerhin, nachdem seit Jahrzehnten vor allem die Förderung von Mädchen auf der gesellschaftspolitischen Agenda stand, interessiert sich die Öffentlichkeit seit den Pisa-Ergebnissen auch für die Probleme von Jungs. Der Sportwissenschaftler Professor Nils Neuber von der Universität Münster weist darauf hin, dass Jungs heute immer noch in ein engeres Rollenkorsett als Mädchen gepackt werden.

    "Zum Beispiel: Mädchen dürfen tanzen, dürfen aber auch Fußballspielen. Jungen dürfen Fußballspielen, aber wenn sie tanzen, werden sie schräg angeschaut. Ich kann das ganz konkret machen, wenn mein Sohn eine Weile Ballett getanzt hat als Grundschüler, dann haben die Nachbarn gesagt: Ach, das ist aber interessant. Wenn meine Tochter Karate gemacht hat, dann sagen sie: Ja, das müssen die machen."

    Selbst die Eltern, meint Nils Neuber, haben gegenüber ihren Söhnen keine klare Rollenerwartung. Weder Macho noch Weichei soll ihr Junge werden, aber:

    "Was wollen sie genau? Das scheint mir ein Beispiel dafür, dass die Rollenvorbilder bei Jungs nicht so klar definiert sind, wie das bei den Mädchen der Fall ist. Und wenn man dann in einer Schule oder Kindertagesstätte ist, wo man von 70 bis 80 Prozent von weiblichem Lehrpersonal umgeben ist, dann kann man sich ja nur negativ definieren, also in der Abgrenzung zu dem, was eben nicht männlich ist.""

    Nils Neuber, dessen neues Buch "Supermann kann Seilchenspringen" im Sommer erscheint, versucht in einem Praxisprojekt die Jungen da zu packen, wo sie sich am ehesten begeistern lassen: im Sport. In Kindergärten und Grundschulen bietet sein Team "Bewegungsstunden" nur für Jungs an. Durch sportliche Aktivitäten sollen sie sowohl in ihren Fähigkeiten gefördert, zugleich aber soll auch an ihren Schwächen gearbeitet werden.

    Sie sollen lernen, wie man gewinnt, aber auch mit Anstand verliert. Dass es im Leben nicht nur um Konkurrenz, sondern auch um Kooperation geht. Und dass körperliche Nähe nichts Unmännliches ist, wie Projektmitarbeiter Nils Kaufmann erläutert.

    "Ein Spiel, was wir konkret mit Kindern gemacht haben, ist so eine Footballvariante, die einen sehr körperintensiven Kontakt provoziert. Und da haben wir gemerkt, dass das sportliche Ziel zu gewinnen, durchaus im Vordergrund steht, aber die Nähe mit Freude empfunden wird. Also, dass es den Jungen schon Spaß macht, sich auf den anderen zu schmeißen und da liegen zu bleiben, ohne jetzt zu sagen, das darf ich ja gar nicht sein. So eine männliche Form von Kuscheln. Mädchen machen das direkter, aber Jungs kommen dann schneller in Verruf. Dieses Homosexualitätsverbot ist ja in jedem Jungen präsent. Und 'schwul' ist ja mittlerweile das Wort, was auf den Pausenhöfen kursiert wie früher Arschloch und insofern muss ich sehen, dass ich mich da deutlich von abgrenze."

    Allerdings ist die "Machokultur" der Jungs ohnehin auf dem Rückzug, so jedenfalls die Ergebnisse der in den nächsten Tagen erscheinenden Studie "Jungen - Sorgenkinder oder Sieger?", die im Fachbereich Soziologie der TU Dortmund durchgeführt wurde. Männliche Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren wurden zu ihrem Freizeitverhalten, zu Lebensentwürfen, Männer- und Frauenbildern und zu ihrem Verhältnis zur Gewalt befragt.

    Im Vergleich mit Ergebnissen aus den 90er Jahren ließ sich feststellen, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern eher abnehmen, dass der "Macho" an Attraktivität verliert, und Jungen sich mittlerweile durchaus auch Gefühlsregungen wie Weinen zubilligen. Dr. Arne Niederbacher, Soziologe und Mitarbeiter an der Studie:

    "Es gibt eine Grundtendenz, die wir festgestellt haben, die eine Aufweichung von Vorstellungen von Männlichkeit bedeuten. Also dieser coole, machohafte Mann, wird nicht verdrängt, aber die Bedeutung für die eigenen Entwicklung ist rückläufig und Jungs haben nachgerade das Bedürfnis, ihre Probleme auch kundzutun. Sie versuchen es eher für sich selber im stillen Kämmerlein, diese Probleme zu bewältigen, aber der Wunsch wird zum Beispiel ganz deutlich in dem Item Weinen, dass sie sich das auch durchaus zubilligen. Wenn sie aber mit dem Vater in Kontakt sind, beziehungsweise solche problematischen Bereiche thematisieren wollen, weist der das eher zurück und steht für ein traditionelles Männerbild, was von den Jungs nicht so eingefordert wird."

    Die Dortmunder Studie kommt zu dem Ergebnis, dass es zwar durchaus einige "Sorgenkinder" unter den Jungen gibt. Dass sie sich mehrheitlich aber seit den 90er Jahren von coolen "Helden in Not" zu Siegern mit vielfältigen und ausdifferenzierten Lebensentwürfen entwickelt haben.

    "Hier tun sich Optionen auf, wo ich denke, das geht einher mit dieser auslösenden Debatte, dass man gesagt hat, in der Schule sind die Jungs die Verlierer. Der Lebenslauf eines Mannes ist brüchig geworden und damit wendet man sich ihnen zu und damit einher geht auch ein größerer Spielraum für sie selbst. Die Option, die sich da auftut, ist die, wir sind gar nicht so cool oder so gut, wie wir eigentlich immer gedacht haben, wir können uns auch Schwächen eingestehen, und das wird auch so wahrgenommen, weil man sich den Jungen zuwendet und denkt, dass ist eigentlich das benachteiligte Geschlecht, und das ist eine eindeutige Kehrtwendung."

    Das Bild der Geschlechter changiert, je nach ideologischer Ausrichtung, möchte man fast annehmen. Jungs - sind sie nun die evolutionsgeschichtlichen Loser oder das von einem 'weiblichkeitsseligen Zeitgeist' unterdrückte Geschlecht? Und Mädels - sind sie wirklich nur die Alphagirls - klug, selbstbewusst, erfolgreich, karriereorientiert?

    Bettina Hannover, Psychologieprofessorin an der FU Berlin, weist darauf hin, dass zwar in der Tat mehr männliche Schüler in den niederen Schulstufen zu finden sind. Dass aber auf dem Weg nach oben, nach ganz oben, die Männer nach wie vor dominieren. Dass Mädchen spätestens ab der Pubertät Naturwissenschaften buchstäblich 'unsexy' finden und eher zu schöngeistigen Fächern tendieren.

    "Ich denke, was den schulischen Erfolg der Mädchen ausmacht, sind Faktoren, die für den beruflichen Erfolg nicht unbedingt ausschlaggebend sind. Da gehen auch soziale Kompetenzen ein, Mädchen sind unterstützender gegenüber dem Lehrer, sie sind weniger auffällig, stören weniger, sie sind stärker sozial angepasst, das hilft ihnen in der Schule, aber im Berufsleben offenbar nicht. Möglicherweise ist es hier so, dass in Führungspositionen andere Eigenschaften zum Erfolg führen, wie die Fähigkeit, eigene Interessen möglicherweise auch gegen andere Personen durchzusetzen, oder die Fähigkeit, sich selbst unabhängig von anderen Leuten zu definieren. Das heißt, wenn sie dann auf der Ebene der Berufstätigen schauen, finden wir nach wie vor die althergebrachte Differenzierung dahingehend, dass Mädchen und junge Frauen geringere Einkommen haben, weniger wahrscheinlich einen Job finden, nachdem sie arbeitslos geworden sind, in Serviceberufen überrepräsentiert und in Führungspositionen unterrepräsentiert sind."

    Die Jungs fördern ist unbedingt nötig, meint Bettina Hannover. Aber darüber sollte nicht vergessen werden, dass auch die Mädchen nach wie vor in ihre traditionelle Rolle zurückzufallen drohen. Beide Geschlechter brauchen also Hilfestellungen, um fürs Leben im 21. Jahrhundert fit zu werden.

    "Es muss darum gehen, dass wir soziale Kompetenzen bei Jungen fördern, denn es ist sicher so, dass zurzeit die Mädchen die Helfer des Lehrers sind, und wir wissen, dass das keineswegs immer nur zum Vorteil der Mädchen ist, die kriegen vielleicht bessere Noten, aber sie lernen nicht unbedingt mehr. Ein weiterer Punkt ist, dass wir sicherlich überprüfen müssen, ob bei Leseangeboten tatsächlich auch die Interessen von Jungs ausreichend reflektiert werden. Wir haben eine klare Dominanz der weiblichen Lehrer. Und möglicherweise wählen auch weibliche Lehrer Texte aus, die ihren eigenen Neigungen entsprechen. Umgekehrt müssen wir sagen, dass wir junge Frauen ermuntern, dass sie das, was sie in der Schule an Erfolg erarbeitet haben, das auch wirklich nutzen, umsetzen in eine bestimmte berufliche Karriere."

    Benjamin, der 15-Jährige aus der Klasse 9, macht sich über seine Zukunft übrigens keine Sorgen. Sport und Mathe sind zwar bislang die einzigen Fächer, die ihm in der Schule zumindest halbwegs Spaß machen. Aber er weiß, dass er irgendwann dem Ernst des Lebens ins Gesicht sehen muss. Und da ist er sich sicher - dann wird er die Kurve kriegen.

    "Ich glaub, das wird's schon alles passen, guten Job, wo man drin verdient, und dann passt das."