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Vor 100 Jahren geboren
Gerhard Meier - einer der Stillsten in der deutschsprachigen Literatur

Die Provinz seines schweizerischen Heimatdorfs Niederbipp im Kanton Bern hat der Schriftsteller Gerhard Meier kaum verlassen. Er versuchte, in diese Provinz die ganze Welt hineinzuholen – in seiner Literatur kundschaftete er die inneren Welten eines Menschen aus. Vor 100 Jahren wurde er in der Schweiz geboren.

Von Christian Linder | 20.06.2017
    Der Schweizer Schriftsteller Gerhard Meier im Porträt.
    Im Alter von 54 Jahren wurde Gerhard Meier vom feierabendlichen Gelegenheitsschreiber zum professionellen, freien Schriftsteller. (dpa picture alliance )
    Ob man am Ende lebe, um sich erinnern zu können? Eine wie beiläufig hingeworfene, typische Frage Gerhard Meiers, die er selbst natürlich auch nicht beantworten konnte. Aber eine Beobachtung weiterzugeben war ihm wichtig:
    "Die stärksten Sachen in der Kunst sind jene, die aus der Erinnerung aufsteigen, weil das Abgelebte, das Entschwundene, Unwiederbringliche unwillkürlich einen abendlichen Glanz erhält."
    Inspirier von Flaubert, Proust, Simon und Chopin
    Das Wehen der Erinnerungen in seinen Sätzen abzubilden war Meiers Schreibtraum. Angeregt durch die Lektüre Gustave Flauberts und später Marcel Prousts und Claude Simons, aber auch durch die Musik Frédéric Chopins oder die Bilder Caspar David Friedrichs und dessen Wunsch, die Luft malen zu können, suchte Meier einen ersten Ausdruck für seinen Schreibtraum in Gedichten:
    "Ich sah / wie die Häuser / die Farbe / verloren Und sah / wie der Himmel / die Farbe / behielt Und sah /wie man stirbt / und wie man / geboren Wie sommers / die Ströme ihr / Wasser / verloren Und wie / man gläserne / Marmeln / verspielt."
    Solches erste Probeschreiben ist dokumentiert in den 1964 und 1967 erschienenen Gedichtbänden "Das Gras grünt" und "Im Schatten der Sonnenblumen". Gelegenheitstexte, entstanden nachmittags ab 17 Uhr, nach der täglichen Arbeit in einer Lampenfabrik im schweizerischen, am Südfuß des Juras im Kanton Bern gelegenen Dorf Niederbipp, wo Meier am 20. Juni 1917 geboren wurde und wohin er nach abgebrochenem Studium der Hochbau-Technik Ende der 1930er-Jahre zurückgekehrt war, um sein Dorf – abgesehen von ein paar Reisen – bis zu seinem Tod 2008 im Alter von 91 Jahren nicht mehr zu verlassen.
    "Dem Meister aus Nazareth durfte ich nahe sein, / den Leuten, den Massliebchen, Schwalben, Schmetterlingen und Dörli."
    Dorfkiosk und freier Schriftsteller
    Dörli war seine geliebte Frau, die Anfang der 1970er-Jahre, als Meier wegen einer Krankheit die Arbeit in der Lampenfabrik aufgeben musste, durch Übernahme des Dorfkiosks für den Lebensunterhalt sorgte. Damals wurde aus dem feierabendlichen Gelegenheitsschreiber im Alter von 54 Jahren der professionelle, freie Schriftsteller, der sein Dorf und die umgebende Landschaft in einen literarischen, "Amrain" genannten Kosmos verwandelte. Da genügte ein Blick aus dem Fenster:
    "Ich staune eigentlich immer wieder über mein Staunen, wenn ich zuschaue, wie es schneit … Aus dieser Stille heraus kommen diese Wesen, herunter aus dem Raum, den wir Himmel nennen, lautlos. Das hat schon mit einem kosmischen Ereignis zu tun …"
    Neben dem Schnee galt Meiers Aufmerksamkeit vor allem dem Wind, nach dem er geradezu "hasche", oder den Wolken.
    "Die Wolken selber sieht man nicht, sondern nur den Schatten, den sie über den Landstrich ziehen. Ich glaube, dass dieses Gefühl für den Schatten, den sie werfen, einem Grundton der Schöpfung entspricht …"
    In den eine "Amrainer Tetralogie" bildenden Romanen "Toteninsel", "Borodino", "Die Ballade vom Schneien" und "Land der Winde" heißen die beiden Hauptfiguren Baur und Bindschädler, die – wie der Autor – am Fenster sitzen und in die Landschaft hinausschauen oder in ihr spazieren gehen, um über Gott und die Welt nachzusinnen.
    "Es ist schon herrlich, hier und da den Weltenwind spüren zu dürfen …"
    Das letzte Selbstporträt von Gerhard Meier
    Geschrieben wurden die Bücher im elterlichen Haus. Wie oft hat Meier mit seiner Frau Dörli in diesem Haus der Kindheit auch getanzt, zu Chopin-Musik. Als Dörli knapp zehn Jahre vor ihm starb, wollte er nicht mehr schreiben. Dann raffte er sich doch noch einmal auf und widmete mit seinem letzten Prosastück, "Ob die Granatbäume blühen", Dörli ein bewegendes Epitaph, das, kurz nach Erscheinen als Hörspiel eingerichtet, zugleich ein letztes Selbstporträt des Schriftstellers Gerhard Meier geworden ist:
    "Dörli, ist die Zeit wirklich die alterslose Schöne, die das Nordlicht mag, die große Lyra, den Tanz? Trägt sie wirklich Roben aus Morgenröte, Abendhauch, Sternenstaub?"