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Vor 100 Jahren
Scapa Flow – Selbstversenkung der deutschen Kriegsflotte

Großkampfschiffe und Torpedoboote öffnen ihre Flutventile: Die Selbstversenkung in der Bucht von Scapa Flow, angeleitet von deutschen Marineoffizieren, sollte gleichermaßen die Ehre der deutschen Flotte wiederherstellen und einen Akt des Protestes gegen den Versailler Friedensvertrag verkörpern.

Von Bernd Ulrich | 21.06.2019
    Ein Zerstörer der deutschen Flotte in Schieflage.
    Ein geheimes Flaggensignal war das Zeichen, die Selbstversenkung zu starten (picture-alliance / Mary Evans Picture Library)
    "Ich war auf G 102 – also Germania 102. Und man wusste ja schon einige Tage vorher, man hat so Fühlung bekommen mit den paar Offizieren, die noch da waren, und man war sich dann auch einig, dass die Schiffe zu einem bestimmten Moment versenkt werden", so Paul Schell, Matrosengefreiter auf dem Torpedoboot G 102.
    Was er 1974 in einem Rundfunkgespräch schilderte, behandelte ein Ereignis der deutschen Marine-Geschichte, das ebenso rasch bekannt werden sollte wie es wieder der Vergessenheit anheimfiel: Das Torpedoboot nämlich gehörte zu jenem deutschen Flottenverband, der sich am 21. Juni 1919 in Scapa Flow, einer Art Naturbucht im südlichen Teil der schottischen Inselgruppe der Orkneys, selbst versenkte – und damit in den Augen der Marineleitung und eines Großteils der deutschen Bevölkerung die "Ehre der Flotte" wiederherstellte. Einer Flotte, die, bis auf wenige Seegefechte, während des Weltkriegs in den Häfen geblieben und von deren Mannschaften die Novemberrevolution ausgegangen war.
    In Scapa Flow hatten die Schiffe seit dem November 1918 mit Notbesatzungen und unter dem Kommando des Konteradmirals Ludwig von Reuter bereits ein halbes Jahr vor sich hin gedümpelt. Ihre Internierung in der schottischen Einöde verdankten sie den Bestimmungen des Waffenstillstands vom 11. November 1918, der den Ersten Weltkrieg beendet hatte. Der damals 15-jährige Schüler James Taylor, der an jenem Frühsommertag 1919 an einem Schiffsausflug durch die Bucht teilnahm, berichtete gut 20 Jahre später:
    "Plötzlich und ohne Vorwarnung bekamen diese riesigen Schiffe Schlagseite, manche tauchten kopfüber ein, ihr Heck hob sich und wies himmelwärts. Ein dumpfes Reißen der Ankerketten verstärkte den Lärm, während die großen Leiber unter grauenhaft saugenden und klickernden Lauten untergingen."
    Flaggen hissen, Versenkung starten
    Die englischen Bewachungsschiffe befanden sich zu diesem Zeitpunkt bei einer Übung außerhalb der Bucht. Dort hatten nach einem codierten Flaggensignal von Admiral von Reuter ab 12 Uhr mittags leicht zeitversetzt die Selbstversenkungen begonnen. Paul Schell weiß auch wie:
    "Wo die Flagge gehisst worden ist, dann ging die Versenkung natürlich los. Und jeder musste natürlich seine, die Ventile aufdrehen, ne, und sehen dass er rauskommt aus dem Schiff, ne, und die kleinen Boote, die Rettungsboote hat man sich natürlich reingesetzt und hat versucht, so lang über Wasser zu bleiben, bis irgendetwas vor sich geht."
    Vor sich ging dann insbesondere, dass die Soldaten der Royal Navy auf die Besatzungen in Kuttern, Booten und auf Flößen zu feuern begannen:
    "Ja, wir sind wieder zurückgetrieben worden auf unsere versenkten Schiffe. Zum Teil mit Feuer. Auf diese Art und Weise hat es auch noch einige Tote und Verletzte gegeben."
    Der Kapitänleutnant Walter Schumann sowie acht Maate und Matrosengefreite wurden tödlich getroffen oder erlagen ihren schweren Verletzungen. Nicht auf allen der über 70 Schiffe gelang die Selbstversenkung, die durch Öffnung der Flutventile und der Schotten herbeigeführt wurde. Auch das Torpedoboot von Paul Schell gehörte zu jenen 15 Einheiten, die wieder seetüchtig gemacht werden konnten.
    Eine Woche vor dem Versailler Vertrag
    In einem der Rettungsboote saß auch der Leutnant zur See Friedrich Ruge, der sehr viel später der erste Inspekteur der Bundesmarine werden sollte. Er schrieb in seinen Erinnerungen:
    "Um die Zukunft machten wir uns vorläufig keine Sorgen, sondern beschäftigten uns mit dem Proviant, der in Kuttern reichlich vorhanden war. Zuerst schlachteten wir eine 5-Kilo-Dose Corned Beef und legten so dicke Scheiben aufs Brot wie noch nie zuvor in Scapa Flow."
    Eine Woche später, am 28. Juni 1919, wurde der Versailler Vertrag unterzeichnet. Scapa Flow stand von nun an parteiübergreifend für einen letzten Akt des Widerstands gegen den als ungerecht empfundenen Friedensvertrag. Freilich – es gab auch andere Einschätzungen, wie etwa die in der "Weltbühne" vom 3. Juli 1919:
    "Die Tat von Scapa Flow war die Auflehnung des Militarismus gegen die Zivilgewalt der Republik. Sind einmal Waffenstillstand und Frieden geschlossen, so wird soldatischer Heroismus, der Verträge als Fetzen Papier zerreißt, zum Staatsverbrechen."
    An der hohen Wertschätzung der "Helden von Scapa Flow" in Deutschland änderte das indessen lange Zeit so gut wie nichts.