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Vor 50 Jahren auf dem Cover des "Stern"
Als 374 Frauen bekannten: "Wir haben abgetrieben"

Am 6. Juni 1971 verkündeten 374 Frauen im Magazin "Stern": "Wir haben abgetrieben" - und forderten die Abschaffung des Paragrafen 218. Damit stießen sie in Westdeutschland eine Debatte über Schwangerschaftsabbrüche an, die erst zwanzig Jahre später zur Reform des Strafrechts führte.

Von Carmela Thiele | 06.06.2021
    Eine junge Frau betrachtet das in einer Glasvitrine ausgestellte Titelbild der Zeitschrift“ Stern“, darauf die Gesichter von etwa 20 Frauen. Darüber der Schriftzug schwarz auf gelb_ "wir haben abgetrieben“
    Das Titelbild des "Stern" vom 6. Juni 1971, in dem sich 374 Frauen zu einem Schwangerschaftsabbruch bekennen. Hier in einer Vitrine des "Museum für Kommunikation" in Frankfurt (MAGO / epd)
    "Kein Mensch wollte mir helfen. Dann kam eine Freundin, die sagte, sie hätte eine Frau, eine Kurpfuscherin also, die nicht sehr vertrauenserweckend war, aber ich musste es machen."
    Ungewollte Schwangerschaften trieben bis in die 80er-Jahre viele Frauen in ausweglose Situationen. Betroffen waren Teenager, aber auch Frauen in gescheiterten Beziehungen, Alleinstehende oder Mütter, die kein weiteres Kind wollten. Entweder sie fanden sich mit ihrer Schwangerschaft ab oder sie suchten nach einer Person, die illegal abtrieb. Der Paragraf 218 erlaubte den Schwangerschaftsabbruch nur durch einen Arzt und bei akuter Gefahr für Leib und Leben der Schwangeren. Als sich am 6. Juni 1971 Frauen in der Illustrierten "Stern" dazu bekannten, abgetrieben zu haben, löste das bundesweit einen Skandal aus. Im Heft abgedruckt war ein Appell, in dem 374 Unterzeichnerinnen die Abschaffung von Paragraf 218 forderten:
    "Jährlich treiben in der Bundesrepublik rund 1 Million Frauen ab. Hunderte sterben, zehntausende bleiben krank und steril, weil der Eingriff von Laien vorgenommen wird. Von Fachärzten gemacht, ist die Schwangerschaftsunterbrechung ein einfacher Eingriff. (…) Wir fordern das Recht auf die von den Krankenkassen getragene Schwangerschaftsunterbrechung! Wir wollen keine Almosen vom Gesetzgeber und keine Reform auf Raten! Wir fordern die ersatzlose Streichung des Paragraf 218."

    Inspiriert durch französische Frauenbewegung

    Zu den Unterstützerinnen der Kampagne gehörten die Schauspielerinnen Senta Berger und Romy Schneider, die Mehrzahl aber waren Frauen aus allen Teilen der Bevölkerung im Alter von 21 bis 77 Jahren. Organisiert hatte die Aktion die Journalistin und Feministin Alice Schwarzer:
    "Ich habe diese Selbstbezichtigung der 374 Frauen organisiert und in den ‚Stern‘ gebracht. Ich habe damals in Paris gelebt, und ich komme eigentlich aus der französischen Frauenbewegung, ich habe da gearbeitet als Korrespondentin. Und die Französinnen haben die gemacht, die Aktion. Ich habe also einen Funken geworfen."
    Die Journalistin und Feministin Alice Schwarzer
    Alice Schwarzer: "Lebenswerk" - Feministin aus Berufung
    Alice Schwarzer gehört zu den bekanntesten Feministinnen Europas. Im zweiten Teil ihrer Erinnerungen resümiert sie politisch-publizistische Siege und Niederlagen. Entstanden ist ein erhellendes Kompendium ihrer Kampagnen, das manchmal nervt und sich – wie seine Autorin – über jeden Zweifel erhebt.
    Zwei Monate zuvor hatten sich 343 Französinnen im "Le Nouvel Observateur" zur Abtreibung bekannt - darunter Simone de Beauvoir, Françoise Sagan und Jeanne Moreau. In Frankreich wie in Deutschland war illegaler Schwangerschaftsabbruch unter Strafe gestellt: In Deutschland drohte den Betroffenen eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren. Also war die Aktion durchaus riskant, so Alice Schwarzer:
    "Dass dann die Frauen an die Öffentlichkeit gegangen sind und gewagt haben zu sagen, ich habe es getan, ich fordere das Recht für jede Frau, das war ein solcher Mut, eine solche Ungeheuerlichkeit. Keine von diesen Frauen wusste: Werde ich am nächsten Tag verhaftet? Verliere ich meine Stelle? Lässt mein Mann sich scheiden? Das waren wirklich Heldinnen!"
    Eine Person hält vor dem Verlagsgebäude von Gruner + Jahr in Hamburg eine Ausgabe des Magazins "Spiegel" in die Luft
    Petition des Magazins "Stern" - Gratwanderung zwischen Journalismus und Aktivismus
    Für eine Petition zum Thema Pflege erntet der "Stern" Kritik – das Magazin habe damit eine Grenze überschritten und betreibe Aktivismus statt Journalismus. Die Chefredaktion des "Stern" wehrt sich gegen diesen Vorwurf: transparente Haltung müsse auch im Journalismus erlaubt sein.
    Den Text des Appells hatten Aktivistinnen der Frankfurter Gruppe "Frauenaktion 70" formuliert, die schon länger für die Abschaffung des § 218 kämpften. Der Sozialistische Frauenbund Berlin und die Roten Frauen in München unterstützten die "Stern"-Aktion. Bereits einen Monat später waren es zehntausende, die sich solidarisierten, neue Frauengruppen wurden gegründet. In mehreren Städten kam es zu Hausdurchsuchungen, wie etwa bei der Buchhalterin Ute Geißler: "Als ich die Selbstbezichtigung unterschrieb, hatte ich noch mächtig Angst. Und dann, als wir Wochen später, morgens um sechs diese Hausdurchsuchung hatten, da war klar: Wir würden uns nicht mehr einschüchtern lassen."
    Frauen mit blutverschmierten Beinen und Gesichtern: Mit einer Performance protestieren Frauen in Krakau gegen striktere Abtreibungsvorgaben.
    Schwangerschaftsabbruch - Ein Tabu und seine Folgen
    in der Regel haben die Verurteilten gezahlt und geschwiegen. Diese Ärztin aber, Kristina Hänel, ist an die Öffentlichkeit gegangen. Seitdem gibt es wieder massive Proteste dagegen, wie Frauen in Deutschland behandelt werden, die einen Abbruch wollen.
    In Frankreich setzte die Gesundheitsministerin Simone Veil 1974 nach heftigen Debatten im Parlament die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs durch. In Deutschland formierte sich im Zuge der öffentlichen Debatte die Neue Frauenbewegung. Es folgte eine Reform in kleinen Schritten. 1975 kippte das Bundesverfassungsgericht eine bereits vom Bundestag beschlossene Fristenregelung, die Straffreiheit bei einem Abbruch bis zur 12. Schwangerschaftswoche vorsah.
    "Keine Kompromisse beim Paragrafen 219a" steht auf einem Plakat, mit dem eine Frau dessen Abschaffung fordert.
    Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche - Kontroverse Debatte über Paragraf 219a
    Die Regierungskoalition hat im Bundestag den Gesetzentwurf für eine Änderung des umstrittenen Werbeverbots für Abtreibungen verteidigt. Heftige Kritik kam von den Abgeordneten der Opposition: Weder betroffenen Frauen noch den Ärzten sei geholfen.
    Was blieb, war die Indikationslösung, also die Straf-Freiheit bei medizinischen, kriminologischen oder schwerwiegend sozialen Gründen. In der DDR galt bereits seit längerem die liberalere Fristenlösung, so dass nach der Wiedervereinigung 1990 das Thema wieder aktuell wurde. 1995 erfolgte schließlich eine im Wesentlichen bis heute geltende Reform. Nun war der Schwangerschaftsabbruch nach einer Konfliktberatung im Ergebnis straffrei. Doch für das Ziel der Neuen Frauenbewegung, eine vollständige Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs durchzusetzen, konnte bis heute kein gesellschaftlicher Konsens gefunden werden.