Montag, 06. Mai 2024

Archiv


Vor zehn Jahren erschüttert ein Erdbeben die japanische Stadt Kobe

"Nach dem Beben": Die Seiten des Abendblatts waren noch immer voller Artikel über das Erdbeben. Deshalb hausten seine Mutter und die anderen Gläubigen jetzt auch in den Räumlichkeiten der Gemeinde in Osaka, füllten allmorgendlich ihre Rucksäcke mit Lebensmitteln, fuhren, soweit es möglich war, mit der Bahn und wanderten dann auf der halb verschütteten Nationalstraße nach Kobe, um dort lebensnotwendige Dinge zu verteilen. Am Telefon hatte seine Mutter ihm erzählt, ihr Rucksack wiege bis zu fünfzehn Kilo.

Von Barbara Geschwinde | 17.01.2005
    Der japanische Schriftsteller Haruki Murakami in seinem Erzählband "Nach dem Beben"; erschienen fünf Jahre nach dem großen Erdbeben in der japanischen Hafenstadt Kobe. In den Geschichten dient die Katastrophe nur als Hintergrund für innere Erschütterungen, die die Menschen schon vor der Naturkatastrophe erlebt hatten. Haruki Murakami selbst kehrte nach dem Erdbeben und den Giftgas-Anschlägen auf die Tokioter U-Bahn nach Japan zurück; nachdem er viele Jahre in Europa und den USA gelebt hatte. Er wollte seinem Land beistehen. Schreibend.

    Auf Hilfe von politischer Seite warteten die Opfer des Erdbebens lange. So gab es Zuständigkeitsprobleme. Man stritt darüber, ob die Zentralregierung in Tokio oder die Stadtverwaltung von Kobe die Verantwortung für Hilfsleistungen übernehmen sollte. Auf Angebote aus dem Ausland reagierten die Politiker nur zögerlich. Während Aufräumtrupps und das Militär auf Einsatzbefehle warteten, debattierten die Parlamentarier darüber, ob eine übergeordnete, nationale Koordinierungsstelle für Katastropheneinsätze in Japan fehlte. Hilflos klang auch der damals amtierende japanische Ministerpräsident Tomiichi Murayama, als er sich im Parlament wenige Tage nach dem Beben unter lautstarkem Protest der Opposition zu erklären versuchte:

    Murayama: Wir hatten mit einer Katastrophe solchen Ausmaßes keine Erfahrung. Außerdem ist das Erdbeben sehr früh am Morgen gekommen. Wir müssen unser Krisenmanagement verbessern.

    Die Katastrophe ereignete sich am 17. Januar 1995, um 5 Uhr 46. Nur 20 Sekunden bebte die Erde und erreichte auf der Richterskala die Stärke 7,2. Mehr als 6000 Menschen starben, über 14.000 wurden verletzt. Etwa 350.000 Menschen verloren ihre Wohnungen. Feuersbrünste, die nicht gelöscht werden konnten, da fast in der ganzen Stadt die Wasserleitungen geborsten waren, breiteten sich aus. Helfer kamen mit Lebensmitteln nur langsam in die Stadt, denn die Zufahrtstraßen waren entweder zerstört oder blockiert. Bemerkenswert war die Disziplin der Bevölkerung. Es kam nicht zu ernsthaften Sicherheitsproblemen wie bei anderen Erdbeben, und nach dem ersten Schock bildeten sich Selbsthilfegruppen, ein Netzwerk, dem sich selbst die Yakuza, Angehörige der japanischen Mafia, anschlossen. Die Gangster verteilten kostenlos Wasser, Nudeln, Brot und Milchpulver an Obdachlose.

    Es dauerte Monate, bis überall wieder Wasser aus den Hähnen floss; die Obdachlosen ihre Notunterkünfte verlassen und in Container-Siedlungen umziehen konnten. Aber die engen Behausungen führten dazu, dass gerade ältere Menschen, die aus ihrer natürlichen Umgebung gerissen wurden, vereinsamten. In dem Jahr nach dem Erdbeben haben sich 50 Japaner in den Container-Siedlungen umgebracht oder sind einsam gestorben. Ihr Tod blieb tagelang unbemerkt. Meguri Imori, die mit zwei Töchtern in einem Container wohnte, beschrieb die Situation:

    Megumi Imori: Unser Container ist viel zu eng. Für eine vierköpfige Familie ist hier kein Platz, deshalb muss mein Mann woanders wohnen. Ich muss mich daran gewöhnen, dass ich durch die Wände alle Geräusche meines Nachbarn höre. Ich höre sogar, wenn er pupst. Und wenn’s regnet trommeln die Tropfen ohrenbetäubend auf das Blechdach.

    Fünf Jahre nach der Katastrophe konnte schließlich der letzte Bewohner seine Notunterkunft verlassen und in ein eigenes neues Heim ziehen. Der Wiederaufbauplan für Kobe hatte den Namen "Phönix". Und die Präfektur eröffnete ein "Erdbeben-Informations-Zentrum" mit dem Namen "Phönix-Plaza". Darin wird der erfolgreiche Neubeginn einer Stadt dokumentiert: Kobe, aufgestiegen aus der Asche.
    Trotz der phantasievollen Namensgebung war der Glaube an die Kunst des erdbebensicheren Bauens gebrochen. Und mehr noch: Der Fortschrittsglaube der Japaner ist bis heute erschüttert.

    "Nach dem Beben": Ein Erdbeben ist doch ein seltsames Phänomen, nicht wahr? Wir bilden uns ein, die Erde zu unseren Füßen sei etwas Festes, Unbewegliches. Wir sprechen sogar davon, dass jemand ‚mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht.’ Und eines Tages müssen wir dann begreifen, dass das nicht stimmt.