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Wahl des Dirigenten der Berliner Philharmoniker
"Bedeutendste Position unter den Konzertorchestern"

Die Berliner Philharmoniker werden heute über den Nachfolger für Sir Simon Rattle entscheiden. Für den Musikpublizisten Norbert Ely sei es eine "immer wieder sensationelle Angelegenheit", dass die Musiker ihren Chefdirigenten selbst wählen. Er hofft auf Christian Thielemann als Nachfolger.

Norbert Ely im Gespräch mit Dirk Müller | 11.05.2015
    Sir Simon Rattle (l) dirigiert in Berlin das Waldbühnen-Konzert der Berliner Philharmoniker .
    Die Berliner Philharmoniker gehören zu den weltweit besten Orchestern. (picture alliance/dpa/Wolfgang Kumm)
    Die Berliner Philharmoniker haben sich 1882 selbst gegründet und seitdem sechs Dirigenten, darunter Herbert von Karajan, Claudio Abbado und Wilhelm Furtwängler, gewählt. An einem unbekannten Ort wird heute der Nachfolger für Sir Simon Rattle bestimmt, der das Orchester spätestens 2018 verlassen wird.
    Ely erhofft sich von dem neuen Chefdirigenten, dass er den Ernst der Zeit repräsentiere. "Musik spiegelt immer die Zeiten und die Gesellschaft wieder." Die Spaßgesellschaft sei inzwischen vorbei, sagte er. Rattle sei ein Repräsentant dessen gewesen. Er sei zwar ein fabelhafter Dirigent, doch habe es auch an Tiefe gefehlt. Er sprach sich für Christian Thielemann als Nachfolger aus, der seit 2012 Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden ist. Das Orchester klinge zwar derzeit nicht besser als die Berliner Philharmoniker, aber schöner.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Jeder lebende Dirigent weltweit ist wählbar. Also vielleicht trifft es ja auch Sie, wenn Sie professionell und geübt mit dem Taktstock reüssieren können. Denn heute ist es so weit: Die Berliner Philharmoniker wählen einen neuen Dirigenten als Nachfolger von Sir Simon Rattle, der spätestens 2018 das Orchester verlässt. 128 Elitemusiker, die von zehn Uhr an heute Vormittag eingeschlossen werden an einem geheim gehaltenen Ort und vorher ihre Handys abgeben müssen, um dann den vermeintlich begehrtesten Dirigentenposten auf dem Globus per Wahl neu zu vergeben. - Am Telefon ist Musikpublizist und Musikjournalist Norbert Ely. Geht das wirklich so zu wie bei der Papstwahl?
    Norbert Ely: Ja, so ein bisschen schon. Es sind 124 Wahlberechtigte, das Orchester hat 128 Mitglieder, und es ist schon eine immer wieder sensationelle Angelegenheit, dass die Musiker dieses Orchesters ihren künstlerischen Leiter, wie er früher hieß, ihren Chefdirigenten selbst wählen. Es ist sicher die bedeutendste Position unter den Konzertorchestern, aber ich würde gleichzeitig sagen, eine mindestens ebenso hochrangige Position ist die des Chefdirigenten oder Generalmusikdirektors der Mailänder Scala. Das ist eine ganz andere Baustelle, aber mit Sicherheit genauso wichtig.
    Müller: Aber Berlin ist immer noch der Mythos schlechthin?
    Ely: Ja, unter den Konzertorchestern ohne Weiteres.
    Müller: Warum ist das so?
    Ely: Das ist ein Orchester mit einer sehr eigenen Geschichte. Sie haben sich selbst gegründet, sie sind also keine Hofkapelle, keine Staatskapelle gewesen, niemals, haben auch nicht in der Oper gespielt. Sie haben zwar Oper gespielt, aber in keinem Opernhaus, also nicht wie die Sächsische Staatskapelle, die der Dresdener Oper zugeordnet ist, oder die Bayerische Staatskapelle, die zum Bayerischen Staatstheater gehört. Sie waren immer ein eigenes Orchester und sie hatten relativ wenige, aber fabelhafte große Chefdirigenten. Das fängt mit Hans von Bülow an, geht über Arthur Nikisch und Wilhelm Furtwängler zu Karajan, Abbado und dann Sir Simon Rattle.
    "Brauchen jemanden, der den Ernst der Zeit repräsentiert"
    Müller: Herr Ely, ich muss ein bisschen mit den Zahlen aufpassen. 1882 habe ich notiert, Gründung der Philharmoniker.
    Ely: Ja!
    Müller: Seitdem gibt es erst sechs Dirigenten.
    Ely: Ja!
    Müller: Wie kommt so was?
    Ely: Die waren immer sehr lange beim Orchester und haben das Orchester dann auch entscheidend geprägt, vor allen Dingen natürlich Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan, und man ist einander irgendwie treu geblieben und ist damit auch ganz gut gefahren. Das ist kein Posten, wo es nach "hire & fire" zugeht.
    Müller: Karajan hatte schon den absolut entscheidenden Anteil, dass das heute noch so wirkt?
    Ely: Ja, Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan. Die Ära Furtwängler hat weit, weit in die Ära Karajan hineingewirkt. Es gab ja dann auch ein Buch von Herrn Thärichen, des Solopaukisten, "Furtwängler oder Karajan". Daran sieht man, dass solche Dinge doch über die Jahrzehnte hinauswirken.
    Müller: Karajan der Autokrat, habe ich jetzt gelesen. Sir Simon Rattle dagegen der Demokrat, der sich geöffnet hat, der Humanismus in dieses Ensemble hereingebracht hat, jedenfalls aus seiner Handschrift gelesen. Was muss der Neue können, mitbringen?
    Ely: Ich denke, dass es darauf ankommt, dass wir jetzt jemanden bekommen in Berlin - ich sage wir, ich bin ja Berliner von Geburt -, der den Ernst der Zeit repräsentiert. Wir gehen auf eine Zeitenwende zu, auf eine Zeit mit bisher noch unvorstellbaren Konflikten, und da braucht man jemanden, der den Mut zum Ernst hat und den Mut zur Größe.
    Müller: Das müssen Sie uns erklären. Inwieweit trifft das die Musik?
    Ely: Das trifft die Musik natürlich ganz stark. Die Musik spiegelt immer auch die Zeiten und die Gesellschaft wieder. Und wenn Sie Sir Simon nehmen, den ich für einen der intelligentesten und charmantesten und geistvollsten Repräsentanten der Spaßgesellschaft halte, dann müssen Sie auch bedenken, dass die Spaßgesellschaft over ist. Die Spaßgesellschaft wird in Kürze begraben und dieses Begräbnis wird kein Spaß. In der Londoner City hat man das wahrscheinlich noch nicht begriffen, aber in Zentraleuropa schon.
    Müller: Weil er nach London wechselt?
    Ely: Ja, sicher.
    Müller: Aber müssen Sie mir erklären. Spaßgesellschaft - ist er kein guter Dirigent gewesen?
    Ely: Er war ein fabelhafter Dirigent, aber es hat doch allenthalben an der Tiefe gefehlt, die man von diesem Orchester immer wieder gewöhnt war.
    "Bei Christian Thielemann kann man den Berliner Charme festmachen"
    Müller: Und wer bringt jetzt Tiefe mit, der das alles richtet in Ernsthaftigkeit, wie Sie sagen?
    Ely: Ich hoffe Christian Thielemann.
    Müller: Also wieder ein Deutscher?
    Ely: Ja. Endlich mal wieder ein Deutscher!
    Müller: Endlich mal wieder ein Deutscher?
    Ely: Herbert von Karajan war Österreicher, Abbado war Italiener, Sir Simon ist Brite und es könnte mal sein, wo wir gerade einen begabten Deutschen haben und einen, wie ich denke, genialen - ich kenne Christian Thielemann seit Anfang der 80er-Jahre, als er noch an der Deutschen Oper Berlin war -, warum nicht einen Deutschen.
    Müller: Er gilt als konservativ, auch ein bisschen autoritär, ein bisschen Karajan-mäßig.
    Ely: Ja, aber weniger in der Richtung Karajan als Interpret, sondern eher doch in der Richtung Knappertsbusch als Interpret.
    Müller: Sie sagen Thielemann, auch weil Sie ohnehin davon überzeugt sind, dass die Dresdner - er ist ja Dirigent bei der Dresdener Staatskapelle - in Wirklichkeit besser klingen als die Berliner?
    Ely: Sie klingen schöner, nicht besser. Ich liebe die Dresdener sehr, aber ich bin natürlich Berliner. Wenn Sie mich fragen, wer meinen inneren Seelenzustand am besten wiedergibt, dann sind das immer die Berliner. Es ist auch die Art von Christian Thielemann. Sie können an Christian Thielemann, der sehr umstritten ist, den Unterschied zwischen Wiener Charme und Berliner Charme festmachen. Berliner Charme tut sofort weh, aber dann ist auch gut.
    Müller: Norbert Ely bei uns im Gespräch, Musikjournalist, über die Berliner Philharmoniker, die heute einen neuen Chefdirigenten wählen. Vielen Dank.
    Ely: Ja! Ihnen auch schönen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.