Donnerstag, 25. April 2024

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Wahlchaos in Berlin
Muss die Wahl wiederholt werden?

Die Pannen beim Ablauf der Wahl in Berlin sind offenbar so groß, dass sie einen Einfluss auf die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses haben. Aber wer trägt die Verantwortung für das Chaos? Und wer entscheidet nach welchen Kriterien, ob die Wahl wiederholt werden muss?

Von Sebastian Engelbrecht | 01.10.2021
Zahlreiche Wählerinnen und Wähler warten im Stadtteil Prenzlauer Berg in einer langen Schlange vor einem Wahllokal, das in einer Grundschule untergebracht ist.
Viele Berliner konnten aufgrund fehlender Wahlzettel ihre Stimme zum Wahl des Abgeordnetenhauses nicht abgeben. Jetzt steht die Frage um Raum: Muss jetzt die ganze Wahl erneut abgehalten werden? (picture alliance/dpa | Hauke-Christian Dittrich)
Die Liste der Pannen ist schwer zu überschauen: Vor manchen Berliner Wahllokalen mussten die Wähler bis zu zwei Stunden warten. Andere konnten überhaupt nicht mehr wählen, weil nicht genügend Stimmzettel vorhanden waren. In einem Wahllokal in Friedrichshain-Kreuzberg wurden Stimmzettel aus Charlottenburg-Wilmersdorf verteilt. An vielen Orten reichte die Zahl der Wahlkabinen nicht aus. In mindestens 99 Wahllokalen waren auffällig viele Stimmzettel ungültig.
Franziska Giffey, Spitzenkandidatin der Berliner SPD für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin, steht bei der Wahlparty der Berliner SPD in Kreuzberg auf der Bühne
Die SPD ist stärkste Kraft
Laut dem vorläufigen Endergebnis bei der Berliner Wahl zum Abgeordnetenhaus wurde die SPD mit Franziska Giffey als Spitzenkandidatin stärkste Kraft. Deutlich zulegen konnten die Grünen mit Bettina Jarasch.

Scharfe Kritik von der CDU

Für die Opposition der CDU zeigt sich hier wieder einmal das typische Chaos der rot-rot-grünen Regierung und Verwaltung. Der neu gewählte CDU-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, Kai Wegner, sieht die Verantwortung bei Innensenator Andreas Geisel (SPD).
"Hier ist auch eine politische Verantwortung zu suchen", so Wegner. "Hier sind Fragen zu stellen, und hier wird sich Herr Geisel auch nicht nur wegdrücken können, sondern wir wollen hier noch Antworten bekommen. Das muss aufgearbeitet werden, so ein Wahldesaster, so ein Wahlchaos, was einzigartig in Deutschland ist, was es noch nie gab, was peinlich für Berlin ist, darf es nicht mehr geben."

Landesregierung nicht verantwortlich?

Der Chef der Senatskanzlei, Christian Gaebler, sieht die Landesregierung allerdings nicht in der Pflicht: "Ich weiß, das ist schwer zu akzeptieren in einer Situation, wo Menschen sagen: Ich wollte aber wählen gehen, ich bin davon abgehalten worden – da hat der Senat auch großes Verständnis für. Aber der Senat ist an dieser Stelle, so merkwürdig es klingt, eher ein Zuschauer, der genau die gleichen Einschätzungen durchaus teilt, die hier auch von anderen geteilt werden."

Später Rücktritt der Wahlleiterin

Innensenator Geisel ist zwar offiziell für Wahlen zuständig, hat aber nach Gaeblers Darstellung nicht die Fachaufsicht über die Landeswahlleiterin, Petra Michaelis. Diese, in erster Linie als Abteilungsleiterin beim Landesrechnungshof beschäftigt, hielt zunächst an ihrem Amt fest und suchte ebenfalls die Verantwortung bei anderen:
"Ich muss schon sagen, dass eben die Bezirkswahlleitungen auf Bezirksebene die Verantwortung haben, und die Bezirkswahlämter, die tragen im Grunde die Hauptlast der Arbeiten. Und die sind nach der Landeswahlordnung verantwortlich für die reibungslose Durchführung in den Bezirken. Und wenn da was schiefgegangen ist, dann muss ich leider sagen, sind es die Bezirkswahlämter gewesen." Am Mittwoch (29.9.21) zog sie dann doch die Konsequenz und bat den Senat, sie als Landeswahlleiterin abzuberufen.

Politologe: Politik ist in der Verantwortung

Kritisch sieht der Politologe Timm Beichelt die Rolle der Politik. "Man muss jetzt davon wegkommen, immer nur auf die Verwaltung einzudreschen", so der Professur für Europa-Studien an der Viadrina-Universität in Frankfurt (Oder). Die Verwaltung sei in Berlin unterausgestattet. "Das ist eine politische Verantwortung", so Beichelt im Deutschlandfunk (08:46) .
Kritik äußerte Beichelt auch an der SPD-Spitzenkanidatin Franziska Giffey. "Franziska Giffey sagt mehr oder weniger: 'Na ja, das wird schon nicht so schlimm sein, ich rechne nicht damit, dass das angefochten wird. Ich meine, wo sind wir hier?" Es gehe hier mit dem Ablauf der Wahl immerhin um einen der zentralen Grundpfeiler der Demokratie, so Beichelt.

Wer entscheidet wann über Neuwahlen?

Ob die Wahl zum Abgeordnetenhaus wiederholt werden muss – ganz oder nur zum Teil – ist unklar. Die Sitzung des Landeswahlausschusses am 14. Oktober soll etwas mehr Klarheit bringen. Das Gremium stellt das endgültige amtliche Ergebnis der Wahl fest.
Das Kriterium für eine Wiederholung ist die sogenannte "Mandatsrelevanz". Wenn die Fehler beim Ablauf der Wahl so erheblich sein sollten, dass sie zu einer anderen Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses geführt haben könnten – dann könnte es sein, dass die Wahl wiederholt wird. Dafür müsste aber zuerst der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin angerufen werden. Beschweren könnte sich dort zum Beispiel Kultursenator Klaus Lederer, dem in seinem Wahlkreis in Berlin-Pankow nur 30 Stimmen für den direkten Einzug ins Abgeordnetenhaus fehlten.

Wie kann das Chaos aufgearbeitet werden?

Eine unabhängige Expertenkommission zur Aufklärung der Ereignisse am Wahltag in Berlin schlägt der Verwaltungswissenschaftler Stephan Bröchler von der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin vor.
"Wir haben ganz offensichtlich große Probleme im Bereich der Planung und der Koordination. Die Abstimmung zwischen Landeswahlleiterin und Bezirksämtern, die hat nicht funktioniert. Es war absehbar, dass es zu Problemen kommt, es ist zu wenig kommuniziert worden zwischen diesen Stellen, und es sind keine Lösungswege gesucht worden." Möglicherweise, so Bröchler, müssten Zuständigkeiten und Abläufe bei Wahlen in Berlin neu geregelt werden.
(Quellen: Beitrag Sebastian Engelbrecht; Interview mit Timm Beichelt)