Freitag, 19. April 2024

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Wahlprogramme der Parteien
"Teilweise absurde Vorschläge zur inneren Sicherheit"

Sebastian Fiedler vom Bund der Deutschen Kriminalbeamten bedauert, dass im Wahlkampf wenig konkret über das Thema innere Sicherheit gesprochen wird. Er sagte im Dlf, nicht nur fehlten in den Wahlprogrammen genaue Vorstellungen, wie etwa eine Personalaufstockung der Polizei umgesetzt werden könne - auch gebe es Vorschläge, die kaum umsetzbar seien.

Sebastian Fiedler im Gespräch mit Jasper Barenberg | 18.09.2017
    Der Vizevorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler.
    Sebastian Fiedler vom Bund der Deutschen Kriminalbeamten kritisiert Scheindebatten, mangelnde konkrete Aussagen und das Fehlen wichtiger Themen wie Gewalt gegen Kinder und Ältere (imago / Müller-Stauffenberg)
    Fiedler bezeichnete die Debatte um die Personalaufstockung bei der Polizei als eine "Scheindebatte". Denn der Bund könne gar nicht dafür sorgen, dass neue Polizisten eingesetzt werden. Die Kompetenz dazu liege bei den Ländern.
    Mit vielen Vorschlägen in den Programmen würden ledigliche populistische Forderungen und Ängste der Bevölkerung bedient - konkrete Aussagen etwa zu Themen wie der Zukunft der Geheimdienste fehlten jedoch.
    Die Programme zeigten dennoch "signifikante" Unterschiede zwischen den Parteien. So wolle die Linke die Geheimdienste komplett abschaffen. Aus Sicht Fiedlers ein "sicherheitspolitischer Gau". Und auch der AfD wirft er vor, absurde Vorschläge zu machen, wie etwa die Überstellung der Bereitschaftspolizei an den Bund.
    Fiedler bemängelte, dass Kriminalität und Gewalt gegen die zwei schwächsten Gruppen in unserer Gesellschaft - Kinder und Ältere - von den Parteien gar nicht aufgegriffen würden.

    Jasper Barenberg: Terroranschläge, die anhaltende Bedrohung durch islamistische Terroristen - kein Wunder, dass in diesem Wahlkampf viel über die innere Sicherheit diskutiert wird. Polizei und Sicherheitsbehörden klagen über zu wenig Personal; gleichzeitig steigt die Zahl der sogenannten Gefährder. Die Silvesternacht in Köln wirkt sicherlich noch nach, ebenso die Gewalt gegen Asylsuchende oder die Krawalle beim G20-Gipfel zuletzt in Hamburg.
    Über die Vorschläge der Parteien bei diesem Thema und die Forderungen der Sicherheitsbehörden können wir in den nächsten Minuten mit Sebastian Fiedler sprechen, dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden beim Bund Deutscher Kriminalbeamten. Schönen guten Morgen, Herr Fiedler.
    Sebastian Fiedler: Guten Morgen, Herr Barenberg.
    Mehr Polizei auf der Straße - eine "Scheindiskussion"
    Barenberg: Herr Fiedler, eine Forderung haben ja alle Parteien im Angebot: mehr Polizisten. Können Sie sich schon mal zurücklehnen in dem Gefühl: Egal wie die Wahlen am Sonntag ausgehen - für eine bessere Sicherheitspolitik ist jedenfalls gesorgt?
    Fiedler: Nein, weil ich insoweit auch bisher von den kritischen journalistischen Nachfragen ein bisschen enttäuscht bin, weil Sie finden in den Wahlprogrammen von CDU/CSU und der SPD die Zahl 15.000, überraschenderweise - das haben wir schon in den Landtagswahlkämpfen erlebt - erneut die gleiche Zahl. Aber niemand hat bisher die Frage beantwortet, wie denn die Aussage in Bund und Ländern umgesetzt werden soll, weil wir wählen jetzt den Bundestag. Er hat keinerlei Kompetenz, mehr Polizei in einem Bundesland tatsächlich auf die Straße zu bringen. Insoweit ist das ein wenig, ein Stück weit eine Scheindiskussion, solange die Parteien nicht die Frage beantworten, wie sie denn verbindlich mehr Polizei in den Ländern - und da liegt die Hauptarbeit - überhaupt gewährleisten wollen. Also eine Scheindiskussion.
    Barenberg: Sie nehmen das den Parteien gar nicht ab, dass die das ernst meinen, über den Weg der Bundesregierung und Einfluss auf die Länder dann auch dafür zu sorgen, dass mehr Polizisten auf die Straße kommen?
    Fiedler: Das geht nicht. Das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben, dass eine Bundesregierung mehr Polizei in einem Bundesland bewerkstelligt hat. Das ist eine ähnliche Diskussion wie bei den Lehrern. Wir haben den Föderalismus und solange diese Kernfrage, wie denn im Föderalismus - und da merken Sie schon, das ist eines der Kernthemen eigentlich -, beantwortet werden soll, und solange im Übrigen im zweiten noch vergessen wird, wie sie denn qualifiziert werden sollen, die Polizisten in den Ländern, dann ist das ein Stück weit eine Scheindiskussion und greift natürlich ein Stück weit populistische Forderungen oder auch Ängste der Bevölkerung auf. Es greift ein bisschen die Idee, mehr sichtbare Präsenz auf der Straße zu haben, auf. Aber noch mal: Der Bund ist zuständig für das Bundeskriminalamt, für die Bundespolizei. Damit beschäftigt sich jetzt tatsächlich die Wahl und daran erkennen Sie schon, dass mir im Grunde bei allen Programmen ein paar Kernthemen in der konkreten Aussage fehlen, wenngleich sie ein Stück weit immer mal angerissen werden, und Föderalismus gehört dazu.
    "Enttäuscht von dem Verlauf des Wahlkampfes bisher"
    Barenberg: Wo sind denn die größten Lücken aus Ihrer Sicht?
    Fiedler: Die größten Lücken sind zum einen, was konkrete Aussagen angeht, im Bereich der EU. Da finden Sie Hinweise und Vorschläge bei den Freien Demokraten, Sie finden welche bei der SPD, Andeutungen im Grunde bei anderen Parteien, und Sie finden natürlich nicht zu vergessen bei der AfD die Kernforderung, die Europäische Union aufzulösen und hilfsweise einen Austritt Deutschlands daraus, und das ist im Grunde sicherheitspolitischer Gau und im Grunde machen sie sich alleine dadurch schon unwählbar.
    Barenberg: Wenn Sie EU sagen, dann meinen Sie, Herr Fiedler, eine bessere Zusammenarbeit, die ja gefordert wird, seit bei den verschiedenen Terroranschlägen klar geworden ist, dass es da vor allem noch hapert bei den Sicherheitsbehörden der Nachbarn und der Partner?
    Fiedler: Ja, Sie haben vollkommen recht. Wir als Berufsverband stellen uns da eine Forderung vor, die noch über die von Herrn Juncker hinausgeht. Wir stellen uns vor, tatsächlich Europol mit operativen Befugnissen zu einer Ermittlungsbehörde auszubauen und einen europäischen Nachrichtendienst aufzustellen. Das ist eine Forderung, die Sie im Programm der FDP finden. Und was Sie im Programm der SPD finden, ist ein gemeinsames Terrorismus-Abwehrzentrum. Im Programm der CDU finden Sie überhaupt gar keine Aussagen dazu, wie übrigens auch zu vielen anderen Fragestellungen gar nicht. Man kann, wenn man die Wahlprogramme liest, erstens weder eine Große Koalition tatsächlich feststellen, und man sieht erhebliche Unterschiede der entsprechenden Wahlprogramme. Umso enttäuschter bin ich von dem Verlauf des Wahlkampfes bisher.
    Barenberg: Sollte da jetzt jeder noch mal in die Wahlprogramme reinschauen?
    Fiedler: Aus meiner Sicht eine zwingende Forderung. Und wenn ich noch mal Ihre Frage vom Beginn aufgreifen darf: Zwei Themenbereiche - und das ist besonders erschreckend - greift überhaupt gar keine Partei auf, nämlich die Frage, wie wir mit den beiden schwächsten Gruppen der Gesellschaft umgehen. Das sind einerseits die Kinder. Wir haben drei bis vier tote Kinder pro Woche durch körperliche Misshandlungen. Wir haben bis zu 100 sexuelle Missbrauchsfälle inklusive des Dunkelfeldes pro Tag. Und die zweite Gruppe sind die älteren Menschen. Komplette Kriminalitätsgruppierungen stürzen sich im Grunde gerade auf diese Bevölkerungsgruppe, um sie zu betrügen und auszunehmen. Es gibt Suizidfälle in diesem Bereich. Da liefern die Parteien, da liefert überhaupt keine Partei auch nur eine Antwort drauf.
    "Signifikante Unterschiede in den Programmen"
    Barenberg: Über die Zahl der Polizisten in Deutschland haben wir schon gesprochen und Sie haben dazu gesagt, dass Sie das als Scheindebatte empfinden, weil es gar keine Zuständigkeit vom Bund gibt. Auf der anderen Seite ist ja nachvollziehbar, dass viele Leute gerade auf diesen Komplex schauen. Bei den Parteien gibt es viele Vorschläge, was die Geheimdienste angeht, was die Polizeistrukturen, was die Zusammenarbeit angeht. Da sind die Parteien doch nicht auf dem Holzweg. Das ist doch das, was die Leute interessiert, mit den Terroranschlägen im Hintergrund und der Terrorgefahr.
    Fiedler: Das stimmt und Sie finden in der Tat in einigen Parteiprogrammen sehr konkrete Aussagen, und das sollte sich der Wähler entsprechend bewusst machen. Die Linke beispielsweise, ich zitiere, empfinden Geheimdienste als "Fremdkörper der Demokratie". Sie sprechen erstens offenbar bewusst von Geheim- und nicht von Nachrichtendiensten. Sie wollen sie alle abschaffen. Auch das aus meiner Sicht ein sicherheitspolitischer Gau, wenn das geschehen würde. Da kann ich nur vor warnen.
    Andere wie die Grünen gehen sehr wissenschaftlich daran und wollen einen Neustart der Nachrichtendienste, während die FDP dort sagt, auf europäischer Ebene brauchen wir durchaus einen europäischen Nachrichtendienst. Bei CDU/CSU bin ich kaum fündig geworden, keine konkreten Aussagen, und bei der SPD sieht es so aus, dass man sich zumindest mit der Passage beschäftigt, dass sie denn besser zusammenarbeiten müssen, Polizei und Nachrichtendienste. Also signifikante Unterschiede hier in den Programmen.
    "Pauschalaussagen helfen am Ende nicht weiter"
    Barenberg: Und ich höre immer durch: ein bisschen allgemein. Aber ist das nicht der Charakter von Wahlkämpfen, dass wie im Detail man das dann regelt natürlich erst klar werden kann nach Koalitionsgesprächen, nach Verhandlungen im Bundestag, in der Bundesregierung und so weiter?
    Fiedler: Ja, Sie haben vollkommen recht. Natürlich darf es nicht bis ins Letzte gehen. Aber vage Andeutungen oder Pauschalaussagen helfen am Ende nicht weiter, denn, um bei dem Beispiel Polizei und Nachrichtendienste zu bleiben, es wäre doch sehr erfrischend gewesen, im Wahlkampf mal darüber zu streiten, ob man denn nun alle Nachrichtendienste in Deutschland abschafft, ob man über das Trennungsgebot, was wir in Deutschland zwischen Polizei und Nachrichtendiensten noch haben, diskutieren muss, oder ob wir auf europäischer Ebene sogar einen Nachrichtendienst brauchen. Das sind virulente Fragen der inneren Sicherheit, deren Diskussion ich allerdings vermisst habe, und Sie finden Aussagen, die unterschiedlicher Natur sind, in den entsprechenden Wahlprogrammen.
    Vorratsdatenspeicherung: "Unterschiede, aber keine Überraschungen"
    Barenberg: Aber einen konkreten Vorschlag gibt es, oder eine konkrete Kontroverse und sehr starke Alternativen: Das ist der ganze Bereich anlasslose Speicherung von Kommunikationsdaten und Videoüberwachung. Da liegen doch die Alternativen auf dem Tisch.
    Fiedler: Da haben Sie vollkommen recht. Die liegen in der Tat auf dem Tisch, wobei, ich sage immer, die Alternative der Abschaffung solcher Mittel natürlich nicht auf dem Tisch liegt. Und es kommt etwas Weiteres hinzu: Sie sind sehr weitreichend. Das heißt, die Kontroverse bei der sogenannten Vorratsdatenspeicherung, die ist in der Tat bekannt.
    Nun packen aber einzelne Parteien weitere Themenbereiche einigermaßen überraschend mit hinein. Beispielsweise nehmen sich die Freien Demokraten das Thema Bargeld noch einmal zur Brust im gleichen Kontext. Die Linken machen eine komplette Aufzählung, die aus Sicht des Polizeipraktikers im Grunde ein völliges Aufgeben der kriminalpolizeilichen Arbeit bedeuten würde, indem sie sagen, Späh- und Lauschangriffe sollen nicht mehr möglich sein, Funkzellenabfragen, Bestandsdatenabfragen, das heißt, wer steckt eigentlich hinter einer Telefonnummer, Rasterfahndung. Im Grunde können wir es dann im Prinzip sein lassen, wenn man nach dem Programm der Linken geht. Und natürlich steht auf der anderen Seite die CDU/CSU, die sehr weitreichende Vorschläge dort macht, die intelligente Videotechnik, ich zitiere, hier für sinnvoll erachtet, die ein neues Datengesetz -
    Barenberg: Gesichtserfassung.
    Fiedler: Genau! Da finden Sie in der Tat Unterschiede, aber keine Überraschungen, weil ich glaube, wenn Sie jetzt hätten raten sollen, dann hätten Sie die entsprechenden Positionen schon richtig den entsprechenden Parteien zugeordnet.
    AfD macht "absurde Vorschläge" zur inneren Sicherheit
    Barenberg: Ein letzter Punkt, den ich noch ansprechen möchte, weil es für mich jedenfalls überraschend war, das zu lesen, ein Vorschlag der AfD, ein Alleinstellungsmerkmal: Die Partei möchte die Strafmündigkeit auf zwölf Jahre herabsenken. Was halten Sie von diesem Vorschlag?
    Fiedler: Ich halte das für Quatsch. Zum einen ist es Kennzeichen des schmalen Teils der inneren Sicherheit, den sich die AfD dort vorgenommen hat. Zum anderen müssten wir das verfassungsrechtlich diskutieren. Da hätte ich große Zweifel, ob wir dahin gehen müssen. Und zum dritten ist nun wirklich die Frage, ob das das Kernproblem der inneren Sicherheit ist. Wenn Sie gestatten, nehme ich ein weiteres Beispiel heraus, was für mich besonders signifikant die Absurdität der Vorschläge im AfD-Programm zeigt. Sie wollen die Bereitschaftspolizeien der Länder auflösen und der Bundespolizei zuschlagen. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Das würde bedeuten, dass wir über 2.000 Landesbeamte dem Bund überstellen müssten. Und es gibt eine ganze Reihe solcher Forderungen, die etwas martialisch daher kommen, die sich allerdings an der Realität überhaupt nicht spiegeln lassen. Das heißt, es geht nicht nur darum, dass wir hier sehr, sehr rechtsextreme Tendenzen in den Wahlprogrammen finden, sondern wir finden in der Tat auch absurde Vorschläge im Bereich der inneren Sicherheit.
    Barenberg: Darüber sprachen wir mit Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher Kriminalbeamten. Danke für das Gespräch hier im Deutschlandfunk.
    Fiedler: Sehr gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.