"Was immer er tat, und vor allem auch unterließ, hat seinen Grund in der Erkenntnis, dass es nicht die Aufgabe der ‚Intellektuellen‘ (das heißt wörtlich der Einsichtigen) sein kann, sich selber leichtfertig preiszugeben. Was er von ihnen und sich selber verlangte, war: inmitten der alles erschütternden Krisis den Standpunkt des freien Geistes zu wahren, um im Umtrieb einer illusionsbedürftigen Zeit wahnfrei auf sich selber stehen zu können."
Es könnte ein Selbstporträt sein - dieses Charakterbild, das Karl Löwith in seiner Burckhardt-Monografie von dem Schweizer Kulturhistoriker gezeichnet hat. Das Buch ist 1934 während seines zweijährigen Aufenthalts in Rom entstanden, wo der 39-jährige Privatdozent aus Marburg vor den politischen Verhältnissen in Deutschland Zuflucht gefunden hatte. "Inmitten der alles erschütternden Krisis den Standpunkt des freien Geistes zu wahren", das hat auch Löwith stets von sich selber verlangt, hatte er doch am eigenen Leib erfahren müssen, wie wichtig es ist,
"im Umtrieb einer illusionsbedürftigen Zeit wahnfrei auf sich selber stehen zu können".
Seine letzte Vorlesung an der Marburger Universität hatte der dort nur noch geduldete Nichtarier deshalb mit dem Wunsch geschlossen, man möge bei ihm gelernt haben,
"dass man nicht notwendig ‚arisch‘ sein müsse, um mit Anstand dozieren zu können, und dass es nicht darauf ankomme, was einer sei, sondern wer einer sei."
Dies berichtet Löwith in seinem autobiografischen Bericht Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, als er bereits an der kaiserlichen Universität im japanischen Sendai lehrt, wohin er durch Vermittlung von Schülern und Freunden gelangt war, nachdem ihn 1936 die italienischen Rassengesetze auch aus Rom vertrieben hatten. Erfahrungen, aus denen Löwith die Lehre gezogen hat, dass vor allem eines not tut - Distanz. Denn "inmitten der alles erschütternden Krisis den Standpunkt des freien Geistes zu wahren", heißt für den durch Weltanschauungswahn und politischen Wahnsinn durch die Umtriebe seiner Zeit Getriebenen, inmitten dieser alles erschütternden Zeitläufe den Standpunkt geistiger Distanz gegenüber dem zu wahren, was man die Geschichte nennt.
"Wenn uns die Zeitgeschichte irgend etwas lehrt, dann offenbar dies, dass sie nichts ist, woran man sich halten und woran man sein Leben orientieren kann. Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren wollen, das wäre so, wie wenn man sich bei einem Schiffbruch an den Wogen festhalten wollte."
Deshalb bedarf es eines Standpunkts der Distanz gegenüber diesem grund- und bodenlosen Geschehen, der Distanz zugleich gegenüber einer Tradition, die, wie Löwith schreibt,
"die Geschichte zu jener absoluten Relevanz erhoben hat, die wir nun als etwas Selbstverständliches hinnehmen, obwohl sie das Allerfragwürdigste ist",
braucht es Distanz gegenüber dem, was er schärfer die "Auslieferung an das geschichtliche Denken" nennt. Dies in einer Epoche, in der nicht bloß die Hegelsche Gewissheit, dass "Vernunft in der Weltgeschichte ist", sondern ebenso die moderne Zuversicht längst Schiffbruch erlitten hatte, dass der "seine Geschichte selbst machende Mensch", wie es bei Karl Marx heißt, über einen dafür geeigneten Kompass und einen ihm günstigen Wind verfügt, um inmitten des stürmischen Wellengangs der Geschichte den richtigen Kurs auf das glückliche Ende seiner Fahrt halten zu können.
Doch wer würde angesichts des Verlaufs, den die Geschichte im 20. Jahrhundert genommen hat, noch von ihr als einem geglückten Ablauf reden wollen? Und spricht nicht ebenso jenes Bild von Walter Benjamin aus seinen Geschichtsphilosophischen Thesen für sich? Das Bild vom Engel der Geschichte, der sein Gesicht der Vergangenheit zugewandt eine einzige Katastrophe erblickt, die "unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert", während er selbst von einem Sturm angetrieben wird, der ihn unaufhaltsam in eine unabsehbare Zukunft weitertreibt.
Aber auch ein Philosoph wie Hegel kannte durchaus den verstörenden Anblick, den das weltgeschichtliche Auf und Ab dem Blick des Betrachters bietet, kannte, wie er in der Einleitung zu seiner Philosophie der Geschichte schreibt, das "Schauspiel der Leidenschaften und die Folgen ihrer Gewalttätigkeit, das Übel, das Böse, den Untergang der blühendsten Reiche", in Anbetracht dessen wir nur "mit Trauer über diese Vergänglichkeit und mit Empörung enden" könnten. "Warum bei diesem Anblick nicht tatsächlich enden?", fragt Löwith. Ist nicht die so betrachtete Geschichte in der Tat schon alles, was sich sinnvollerweise über sie sagen lässt – das heißt ohne wie Hegel und seine geschichtsphilosophischen Nachfolger den Blick darüber hinaus auf einen vermeintlich letzten Sinn und Zweck dieses wogenden und untergangträchtigen Geschehens zu richten?
Denn "vom Zufälligen und Wechselnden gibt es keine philosophische Wissenschaft", hält Löwith dagegen. Wo immer die "wechselvollen Geschicke der Geschichte wahrhaft empfunden wurden", erklärt er weiter, "war die Einsicht in die Unzuverlässigkeit und Hinfälligkeit aller menschlichen Dinge die letzte Weisheit des Historikers". Und dessen Weisheit - diesseits von Hoffnung und geschichtsphilosophischer Zuversicht - schaut auf das so unzuverlässige wie hinfällige Geschick der Menschen und ihre ebenso unzuverlässige wie hinfällige Geschichte mit nüchtern illusionslosem Blick.
So wie es in dem berühmten Bild des Sturzes dargestellt ist, das Pieter Breughel gemalt und W.H. Auden in einem Gedicht beschrieben hat, im Bild vom "Sturz des Ikarus", wo "alles sich vom Unheil müßig abwendet", wie es bei Auden heißt. Nicht zufällig hat auch Löwith dieses Bild des Sturzes in seinem Aufsatz "Vom Sinn der Geschichte" aufgegriffen:
"Weltgeschichte‘ ist wörtlich genommen ein Missbegriff, denn weltumspannend oder universal ist nur die eine von Natur aus bestehende Welt, innerhalb derer unsere geschichtliche Menschenwelt etwas Vorübergehendes ist. Sie verschwindet im Ganzen der Welt etwa so, wie auf einem Bilde von Breughel Ikarus, der nach seinem Sturz vom Himmel im Meer versinkt und von dem nur noch ein Bein sichtbar ist. Am Horizont des Meeres sieht man die Sonne, während am Ufer ein Fischer hockt und am Land ein Hirte seine Herde hütet und ein Bauer die Erde pflügt, als sei zwischen Himmel und Erde gar nichts geschehen."
Stoischer Gleichmut spricht aus diesen Worten. Anders als im messianisch aufgeladenen Bild des Angelus novus, des Benjaminschen Engels der Geschichte, der mit aufgerissenen Augen auf das Trümmerfeld zu seinen Füßen starrt und "wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen" möchte, herrscht im Bild des Sturzes, wie Löwith es betrachtet, die unpathetische Sicht des Geschichtsskeptikers, der ungeachtet aller Wünschbarkeiten um die unabwendbare Hinfälligkeit aller menschlichen und damit auch geschichtlichen Dinge weiß und sie deshalb illusionslos hinnimmt.
"Weltgeschichte ist wörtlich genommen ein Missbegriff […] Die Weltgeschichte steht und fällt mit dem Menschen - die Welt selbst kann auch ohne uns sein; sie ist übermenschlich und absolut selbständig."
Als Löwith 1961 seinen Aufsatz Vom Sinn der Geschichte verfasst, ist er bereits wieder in Deutschland, wo er bis zu seiner Emeritierung 1964 an der Universität Heidelberg lehrt. 1952 war er auf Betreiben seines Freundes Hans-Georg Gadamer aus den USA zurückgekehrt, wohin er 1941 aufgrund des deutschen Bündnisses mit Japan auch aus Sendai hatte fliehen müssen.
Aber nicht erst in den rund zwanzig Jahren seiner Emigration hat Löwith die Erfahrung gemacht, was die Geschichte für den Menschen ist: Er erleidet sie. Bereits die Jugenderfahrung des knapp 18-jährigen Kriegsfreiwilligen im Ersten Weltkrieg und die schiere Zufälligkeit seines Überlebens nach einer schweren Gefechtsverwundung an der österreichisch italienischen Grenze 1915, dann die politischen Unruhen und Gewalttätigkeiten der Münchener Räterepublik, die er als Philosophiestudent hatte miterleben müssen, und schließlich die Erfahrung des Nationalsozialismus, haben seine Skepsis gegenüber den unberechenbaren Zeitläufen der Geschichte wenn nicht erzeugt, so doch existenziell vertieft.
Von Hans-Georg Gadamer gibt es ein einprägsames Porträt von Löwith, das er in seinen Lebenserinnerungen festgehalten hat. Darin spricht er von einem "unfasslichen Gleichmut", der ihn zu beseelen schien. Ein Gleichmut, gepaart mit einer "ihm eingeborenen Distanz", die er stets einzuhalten gewusst habe - eine Distanz zu sich selber, zu den Menschen, zur Welt. "Das war sein Ethos", schreibt Gadamer, "ein illusionsloses Hinnehmen der Dinge, wie sie sind, ein Anerkennen der Natürlichkeit des Natürlichen, aber auch ein beharrliches Festhalten an allem, was ihm je nahe war."
Dieses Ethos der Distanz hat Löwith nicht nur geholfen, die Wechselfälle seines eigenen Lebens mit Gleichmut zu ertragen, sondern hat ihm vor allem zu jenem "Standpunkt des freien Geistes" finden lassen, der es ihm erlaubte, gegenüber dem Universalanspruch neuzeitlicher Geschichtsphilosophie zu einer Kritik des geschichtlichen Denkens und zu einem geschichtsunabhängigen, natürlichen Weltbegriff zu gelangen. Denn "die Frage nach dem ‚Sinn‘ der Geschichte", erklärt er in seinem Curriculum vitae,
"musste über die geschichtliche Welt und die geschichtliche Denkweise hinausführen, zur Welt überhaupt, welche das Eine und Ganze des von Natur aus Seienden ist."
Seine Worte sind nicht zuletzt das Fazit geschichtlicher Erfahrung, der desillusionierten Erfahrung der Moderne, die angesichts des Chaos der Geschichte einen Standpunkt außerhalb sucht und einen solchen Standpunkt in der reflexiven Besinnung auf dieses "Eine und Ganze des von Natur aus Seienden" findet - eines Übermenschlichen mithin gegenüber dem bloß Menschlichen und seiner geschichtlichen Welt.
"Kósmos" hatten es die Griechen genannt. Dieses Eine und Ganze, die "ungeschaffene, immerseiende und für alle Wesen selbe Weltordnung", wie es bei Heraklit heißt, deren Regelmäßigkeit, Wohlgefügtheit, Glanz und Schmuck - so die Bedeutungsbreite von kósmos - sie im gleichbleibenden Kreislauf der Gestirne wie in den gleichmäßigen Kreisläufen der Natur anschauten. Zwar fragten die Griechen, so Löwith, nach dem lógos dieses Kosmos, nicht jedoch nach dem Sinn von Geschichte. In seinem grundlegenden Werk "Weltgeschichte und Heilsgeschehen", das 1949 zuerst auf Englisch, 1953 auf Deutsch erschienen ist, führt er aus:
"Dass wir überhaupt die Geschichte auf Sinn oder Unsinn hin befragen, ist selbst schon geschichtlich bedingt: Jüdisches und christliches Denken haben diese maßlose Frage ins Leben gerufen. Nach dem letzten Sinn der Geschichte ernstlich zu fragen, überschreitet alles Wissenkönnen und verschlägt uns den Atem; es versetzt uns in ein Vakuum, das nur Hoffnung und Glauben auszufüllen vermögen. Die Griechen maßten sich nicht an, den letzten Sinn der Weltgeschichte zu ergründen. Sie waren von der sichtbaren Schönheit des natürlichen Kosmos ergriffen, und das natürliche Weltgesetz von Werden und Vergehen bestimmte auch ihre Anschauung von der geschichtlichen Welt. Den Juden und Christen bedeutet Geschichte vor allem Heilsgeschehen. Das Faktum der Geschichtsphilosophie und ihre Frage nach dem letzten Sinn ist diesem eschatologischen Glauben an einen heilsgeschichtlichen Endzweck entsprungen."
"Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie" lautet der Untertitel des Buches. Die Einsicht Friedrich Nietzsches wiederholend stellt auch für Löwith das säkulare neuzeitliche Geschichtsdenken eine "verkappte Theologie" dar. Alle Philosophie der Geschichte sei ganz und gar abhängig von der Theologie, das heißt von der Ausdeutung der Geschichte als eines Heilsgeschehens. Dass philosophisch überhaupt nach einem Sinn der Geschichte gefragt werden konnte, nach ihrem "letzten Sinn und Zweck", habe in dieser Voraussetzung seinen eigentlichen Grund.
Wie auch andererseits die Geschichte nur in Hinblick auf einen solchen "letzten Sinn" als "sinnlos" habe erscheinen können, wie es sich im Phänomen des modernen Nihilismus gezeigt hat. Der Wechsel vom christlichen Mittelalter zur säkularen Neuzeit vollzog sich also keineswegs in klarer Ablösung vom Christentum und seinen theologischen Grundvoraussetzungen als vielmehr in fataler Kontinuität mit ihnen.
"Das ganze Mühen um immer neue Verbesserungen und Fortschritte wurzelt in dem einen christlichen Fortschritt zum Reich Gottes",
spitzt Löwith zu, von dem das nachchristliche Denken sich zwar zu emanzipieren suchte,
"von dem es doch abhängig blieb, wie ein entlaufener Sklave von seinem entfernten Herrn."
Abstand von dieser Kontinuität und damit Distanz gegenüber dem neuzeitlichen Geschichtsdenken findet Löwith in seiner Rückschau auf das "pagane" Denken der Griechen, auf die natürliche Welt, "die eine Welt und kein Chaos bildet, weil sie in sich von Natur aus geordnet ist". Sinnbild dafür ist der Kreis, dessen zyklischem Geschehen auch die menschliche Geschichte eingeschrieben ist. Demgegenüber steht das Bild des Pfeils, dessen Bewegung auf einen Punkt in der Zukunft hinzielt, dem die christliche wie nachchristliche Auffassung von Geschichte folgt.
"Die Zukunft ist der wahre Brennpunkt von Geschichte, vorausgesetzt, dass die Wahrheit in dem religiösen Fundament des christlichen Abendlandes beruht, dessen historisches Bewusstsein durch das eschatologische Motiv bestimmt ist: von Jesaia bis Marx. Dem Kompass vergleichbar, der uns im Raum Orientierung gibt und uns befähigt, ihn zu erobern, gibt der eschatologische Kompass Orientierung in der Zeit, indem er auf das Reich Gottes als das letzte Ziel und Ende hinweist. Die christliche Zuversicht ist zwar dem modernen Geschichtsbewusstsein abhanden gekommen, aber die Sicht auf die Zukunft als solche und auf eine unbestimmte Erfüllung ist herrschend geblieben."
In welche Katastrophen dieser eschatologische Kompass die Menschheit im 20. Jahrhundert hineingesteuert hat, ist mehr als bekannt. Katastrophen, in denen die Geschichte selbst Schiffbruch erlitten hat und mit ihr jene "maßlose Frage" nach dem Sinn von Geschichte, die sich des Maßes der natürlichen Welt zu entledigen suchte. So wie sich auch Ikarus mit seinen Flügeln aus Wachs über das Maß der Welt hinauszuschwingen versucht hatte, aber elend wieder in sie hineinstürzte.
Dieser Sturz hat jedoch für Löwith nichts Apokalyptisches, versetzt er die Geschichte doch lediglich wieder in den Rahmen, in den sie hineingehört - in den von "Welt überhaupt". Dies in einem doppelten Sinne: Zum einen bezeichnet der Sturz das historische Geschick der Geschichte sowie des Geschichtsdenkens am Ende der Moderne und markiert zum anderen eine noch offene denkerische Herausforderung für den Menschen bis in die heutige Zeit.
So bedeutet der natürliche Weltbegriff, den Löwith der Geschichte entgegenhält, keine Abkehr vom geschichtlichen Geschehen, er zielt vielmehr auf die Wiedergewinnung einer Einsicht, für die das geschichtliche Denken keinen Blick hatte, worüber die Antike jedoch verfügte. Über die Einsicht in die Relativität der "geschichtlichen Menschenwelt" sowie über die Einsicht und das Wissen von der Welt als der immerseienden Stätte des Aufenthalts der Menschen, an deren Maß anders als an der Maßlosigkeit von Geschichte der Mensch sich orientieren könnte. Denn, so schreibt Löwith:
"Wer sagt uns, dass die Welt auf den Menschen und seine Geschichte hin angelegt ist und nicht auch ohne uns sein könnte, nicht aber der Mensch ohne Welt, in der er und durch die er überhaupt da ist."
Doch nicht durch Rückbesinnung auf das Denken der Griechen allein gewinnt Löwith Distanz gegenüber der Geschichte. Abstand verschafft ihm ebenso sein Exil in Japan, von dessen fernöstlicher Denktradition er sich in den fünf Jahren seines Aufenthalts tief beeindrucken lässt. In seinem Curriculum vitae bekennt er, dass er "von der Erfahrung des gar nicht mehr fernen Ostens nicht unberührt blieb" und "von dem Land und dem Volk und seiner subtilen Gesittung und von der großen buddhistischen Kunst einen unvergeßlichen Eindruck" empfangen habe.
Vor allem ist es die Gelassenheit, die ihn anspricht, die Ruhe und Stille, die um diese Kunst ist. Eine Gelassenheit, welche die asiatische Tradition seit je bestimmt hat und aus deren Ruhe und Stille sich auch ein Denken speist, das die Welt nicht vornehmlich als den Schauplatz von Geschichte betrachtet, deren Wohin und Wozu es zu ergründen gilt. Denn "die Weisheit des Ostens hat die uns bewegende Frage nach dem Ziel und Sinn der Geschichte überhaupt nie gestellt", erklärt Löwith, "und es vermieden, Welt und Geschichte zusammenzudenken."
Daher hat sie auch niemals den Menschen aus dem Ganzen der natürlichen Welt zugunsten eines übernatürlichen Heilsgeschehens herausgelöst - im Gegenteil: Stets hält die Weisheit des Ostens dazu an, das vielfältig wandelbare Geschick des Menschen auf dem ebenso vielfältig wandelbaren Schauplatz der Geschichte in die Unwandelbarkeit dieses Einen und Ganzen zurückzustellen. In die Ruhe und Stille des "So-und-nicht-anders-Seins" der Dinge. In seinem Aufsatz Bemerkungen zum Unterschied von Orient und Okzident führt Löwith aus:
"Ein Zenspruch besagt: Bevor man meditiert, sind Berge nichts weiter als Berge und Flüsse nichts weiter als Flüsse. Wenn man eine vorläufige Einsicht erreicht hat, hören die Berge und Flüsse auf, bloß Berge und Flüsse zu sein; sie werden Vielerlei in vielerlei Hinsicht. Wenn man jedoch zur vollständigen Einsicht in die Wahrheit der Welt gelangt ist, wird der Berg wieder einfach zum Berg und der Fluss wieder einfach zum Fluss. In dieser Anerkennung des So-und-nicht-anders-Seins zeigt sich die Welt so, wie sie ist. Die letzte Weisheit des Zen ist nicht die billige Einfachheit der Vereinfachung der Dinge zu einem ‚nicht weiter als‘, sondern die kostbare Einfachheit einer letzten Verfeinerung."
Auch für das fernöstliche Denken bildet der Kreis das Sinnbild für das Eine und Ganze, er ist ebenso Sinnbild für den menschlichen Geist. In diesem Sinne deutet Löwith eine Tuschezeichnung, die ihm der 71-jährige Kitarô Nishida, der Begründer der modernen japanischen Philosophie, mit dem er sich während seines Aufenthalts in Japan befreundet hatte, zum Abschied schenkte. Die Zeichnung zeigt auf weißem Papier nichts weiter als einen leeren schwarzen Kreis, dem einige Schriftzeichen zur Seite gestellt sind. Wörtlich übersetzt besagen sie: Mond, einsam, Kreis, Licht, zehntausend Dinge, verschlucken. Löwith erläutert:
"Diese Wortfolge meint ungefähr folgendes: Ein Geist, der vollkommen rund und leer geworden ist, erleuchtet wie das einsame Licht des Vollmonds alles, was ist, und lässt es in sich eingehen."
Unschwer lässt sich trotz kultureller Unterschiede die Gemeinsamkeit in den Denkhaltungen erkennen: die Gemeinsamkeit zwischen dem gelassenen, dem klaren und kühlen Licht des Mondes vergleichbaren Geist fernöstlicher Weisheit und dem Denken Löwiths - des "sceptico sereno", wie man ihn bezeichnet hat -, des gleichmütigen und klargeistigen Skeptikers stoischer Prägung.
Beide Denkhaltungen zeugen von derselben illusionslosen Hinnahme und Anerkennung der Dinge, die unabänderlich sind, wie sie sind, sowie von einem Denken, das dem Unbeständigen die Anschauung eines Beständigen entgegenhält. Die fernöstliche Weisheit durch Leerwerden und meditative Versenkung, Löwith durch Rückbesinnung auf die ursprüngliche "theoría" der Griechen, auf ihre Betrachtung der "ungeschaffenen, immerseienden und für alle Wesen selben Weltordnung" und ihre Einsichtnahme in den "lógos" dieses "kósmos".
Gewiss - Löwith ist der Letzte, sich nicht darüber Rechenschaft abzulegen, dass dieser Geist der Griechen längst nicht mehr der unsere ist und dass es kein Zurück dahin gibt, wohl aber Rückbesinnung: Rückbesinnung aus der Denkerfahrung der Moderne auf die Denkerfahrung der Antike. Denn aus deren Wiedererschließung wäre ein Denken zu gewinnen, bei dem es nicht mehr um die vermeintliche Wahrheit säkularer Heilserwartungen und Heilsversprechen geht, deren heilloser Verwirklichungskampf den historischen Schauplatz der Welt im 20. Jahrhundert verwüstet hat, sondern um eine Haltung, die ein dem Menschen und seinem Aufenthalt in der Welt gemäßes Maß zu erlangen und zu wahren weiß.
Um ein Ethos mithin, wie es das besonnene Maßdenken der frühen Griechen oder auch das der späteren Stoiker ausgezeichnet hat, das aber ebenso im asiatischen Kulturkreis als die Weisheit des Maßvollen und Geringen begegnet - als jene "kostbare Einfachheit einer letzten Verfeinerung", wovon Löwith sprach, im Verhältnis des Menschen zur Welt.
"Doch so wenig man mit diesem ‚mäßigen‘ Resultat die überzeugen kann, welche heute bereit sind, um jeden Preis wieder an irgendetwas zu glauben, wird er dennoch glaubwürdiger bleiben als seine Gegner, welche ihre Zahlungsunfähigkeit dadurch beweisen, dass sie die Kosten der Gegenwart mit einer vielversprechenden Zukunft oder mit einer schon erfüllten Vergangenheit decken zu können vermeinen."
Auch dies könnten Worte über sich selber sein, mit denen Löwith die geistige Haltung Jacob Burckhardts in der Hoch-Zeit des Historismus im 19. Jahrhundert charakterisiert. Es ist eine Haltung, die sich wesentlich durch Zurück-Haltung auszeichnet und im Abstand freier Betrachtung in eine angemessene Sicht der Dinge zu gelangen sucht, anstatt sich in geschichts- und fortschrittsgläubiger Befangenheit denkend wie handelnd maßlos zu versteigen.
Deshalb wahrt diese Haltung ebenso Zurück-Haltung gegenüber allen Extremen, gegenüber dem, was Löwith die "Magie des Extrems" nennt, die "taub macht gegen das Geheimnis der Mäßigkeit". Löwith weiß, wovon er spricht, schließlich hatte er, der 1897 Geborene, diese unheilvolle "Magie des Extrems" in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts selbst lebensbedrohlich nah erfahren und Abstand demgegenüber zu beziehen gelernt. Mit anderen Worten: jenen "Standpunkt des freien Geistes", woraus sich ebenso seine tiefe Abneigung gegenüber "radikalen Lösungen" ergeben musste, denen sich der in jeder Hinsicht konfessionslose Denker stets verweigert hat. So erklärt er am Schluss seines 1940 verfassten Berichts "Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933".
"Auch von mir haben manche Freunde eine radikale Lösung erwartet, sei es im Sinn eines Rückgangs zum Judentum oder einer Entscheidung fürs Christentum oder auch einer politischen Festlegung. Stattdessen habe ich eingesehen, dass gerade die ‚radikalen‘ Lösungen gar keine Lösungen sind, sondern blinde Versteifungen, die aus der Not eine Tugend machen und das Leben vereinfachen. Das Leben und Zusammenleben der Menschen und Völker ist nicht von der Art, dass es durchführbar ist ohne Geduld und Nachsicht, Skepsis und Resignation, d.h. ohne das, was der heutige Deutsche als unheroisch verneint, weil er für die Hinfälligkeit alles menschlichen Treibens überhaupt keinen Sinn hat."
Auf einem solchen Sinn für die "Hinfälligkeit alles menschlichen Treibens" sowie auf der nüchternen und klaren Einsicht in das, so Löwith, "was dem sterblichen Menschen gemäß ist zu wissen und worein er sich zu ergeben hat, um nicht sein Leben und Denken auf bloße Wünschbarkeiten zu stellen", aber beruht für ihn das "Geheimnis der Mäßigkeit". Es ist zugleich das Geheimnis eines Gleichmuts, der seine Geduld und Nachsicht, seine Skepsis und die Resignation kluger Bescheidung den maßlosen Denk- und Handlungsansprüchen des neuzeitlichen wie des modernen Menschen entgegenstellt.
"Denn der Mensch ist nicht nur ein Handelnder, er ist ebenso sehr ein Duldender, der auf den Wogen seines Geschicks umhergetrieben wird wie die mythische Gestalt des Odysseus nach Beendigung des Trojanischen Kriegs auf seiner zehnjährigen Irrfahrt durch das Ägäische Meer. "Nichts im Übermaß" - hatte am Eingang des Apollon-Tempels zu Delphi gestanden: Bedenke dich selbst als einen Sterblichen, der stets seiner menschlichen Begrenztheit und Endlichkeit eingedenk sein sollte. Ein solches "Bedenke" hat das Denken Löwiths von Anfang an begleitet und seine Auffassung von Philosophie geprägt, die für ihn, wie jemand treffend formuliert hat, weniger durch das bestimmt ist, "was sie auslegt, sondern durch das, worauf sie uns als auf das Maßgebliche hinsehen lässt."
Dieses Maßgebliche ist für Löwith nicht mehr die Geschichte und ist nicht mehr der Mensch, der im Namen universell gültiger Geschichtswahrheiten um seine Selbstbehauptung in der Welt kämpft. Maßgeblich für ihn wäre der Mensch, der gelernt hat, im Namen von Besonnenheit und Maß darauf Verzicht zu leisten und sich zugunsten jener Mäßigkeit in das Eine und Ganze der "Welt überhaupt" zurückzustellen. Wohl existiert "der Mensch inmitten der Geschichte", wie Löwith sein Burckhardt-Buch betitelt hat, doch nachdem die Geschichtsphilosophen mit ihren verheerenden Auswirkungen ihre historische Stunde gehabt haben, vermag nun der Mensch seiner selbst als eines Handelnden und gleicherweise Duldenden innezuwerden.
Ein solcher Mensch aber erblickt keine weltgeschichtliche Vernunft wie Hegel, keine Dialektik geschichtlichen Fortschritts wie Marx, sondern gewahrt sich selbst als den immer schon Handelnden wie Duldenden, der sich seiner eigenen Begrenztheit und Endlichkeit gewachsen zeigt. Auf dieses Maßgebliche wieder hinsehen zu lernen aber liegt bis heute die noch unaufgegriffene Herausforderung Löwithschen Denkens.
"Eine solche Ansicht ergibt sich durch keinen "Entschluss‘, sondern aus der Anschauung der wirklichen Welt und der Erfahrung des menschlichen Lebens. Was sie am Ende schaut und erfährt, ist das Beständige im Vergehenden, und wäre eine Vergegenwärtigung der Urphänomene des Lebens, welche in gleicher Weise die Natur wie den Menschen umfasst."
Es könnte ein Selbstporträt sein - dieses Charakterbild, das Karl Löwith in seiner Burckhardt-Monografie von dem Schweizer Kulturhistoriker gezeichnet hat. Das Buch ist 1934 während seines zweijährigen Aufenthalts in Rom entstanden, wo der 39-jährige Privatdozent aus Marburg vor den politischen Verhältnissen in Deutschland Zuflucht gefunden hatte. "Inmitten der alles erschütternden Krisis den Standpunkt des freien Geistes zu wahren", das hat auch Löwith stets von sich selber verlangt, hatte er doch am eigenen Leib erfahren müssen, wie wichtig es ist,
"im Umtrieb einer illusionsbedürftigen Zeit wahnfrei auf sich selber stehen zu können".
Seine letzte Vorlesung an der Marburger Universität hatte der dort nur noch geduldete Nichtarier deshalb mit dem Wunsch geschlossen, man möge bei ihm gelernt haben,
"dass man nicht notwendig ‚arisch‘ sein müsse, um mit Anstand dozieren zu können, und dass es nicht darauf ankomme, was einer sei, sondern wer einer sei."
Dies berichtet Löwith in seinem autobiografischen Bericht Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, als er bereits an der kaiserlichen Universität im japanischen Sendai lehrt, wohin er durch Vermittlung von Schülern und Freunden gelangt war, nachdem ihn 1936 die italienischen Rassengesetze auch aus Rom vertrieben hatten. Erfahrungen, aus denen Löwith die Lehre gezogen hat, dass vor allem eines not tut - Distanz. Denn "inmitten der alles erschütternden Krisis den Standpunkt des freien Geistes zu wahren", heißt für den durch Weltanschauungswahn und politischen Wahnsinn durch die Umtriebe seiner Zeit Getriebenen, inmitten dieser alles erschütternden Zeitläufe den Standpunkt geistiger Distanz gegenüber dem zu wahren, was man die Geschichte nennt.
"Wenn uns die Zeitgeschichte irgend etwas lehrt, dann offenbar dies, dass sie nichts ist, woran man sich halten und woran man sein Leben orientieren kann. Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren wollen, das wäre so, wie wenn man sich bei einem Schiffbruch an den Wogen festhalten wollte."
Deshalb bedarf es eines Standpunkts der Distanz gegenüber diesem grund- und bodenlosen Geschehen, der Distanz zugleich gegenüber einer Tradition, die, wie Löwith schreibt,
"die Geschichte zu jener absoluten Relevanz erhoben hat, die wir nun als etwas Selbstverständliches hinnehmen, obwohl sie das Allerfragwürdigste ist",
braucht es Distanz gegenüber dem, was er schärfer die "Auslieferung an das geschichtliche Denken" nennt. Dies in einer Epoche, in der nicht bloß die Hegelsche Gewissheit, dass "Vernunft in der Weltgeschichte ist", sondern ebenso die moderne Zuversicht längst Schiffbruch erlitten hatte, dass der "seine Geschichte selbst machende Mensch", wie es bei Karl Marx heißt, über einen dafür geeigneten Kompass und einen ihm günstigen Wind verfügt, um inmitten des stürmischen Wellengangs der Geschichte den richtigen Kurs auf das glückliche Ende seiner Fahrt halten zu können.
Doch wer würde angesichts des Verlaufs, den die Geschichte im 20. Jahrhundert genommen hat, noch von ihr als einem geglückten Ablauf reden wollen? Und spricht nicht ebenso jenes Bild von Walter Benjamin aus seinen Geschichtsphilosophischen Thesen für sich? Das Bild vom Engel der Geschichte, der sein Gesicht der Vergangenheit zugewandt eine einzige Katastrophe erblickt, die "unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert", während er selbst von einem Sturm angetrieben wird, der ihn unaufhaltsam in eine unabsehbare Zukunft weitertreibt.
Aber auch ein Philosoph wie Hegel kannte durchaus den verstörenden Anblick, den das weltgeschichtliche Auf und Ab dem Blick des Betrachters bietet, kannte, wie er in der Einleitung zu seiner Philosophie der Geschichte schreibt, das "Schauspiel der Leidenschaften und die Folgen ihrer Gewalttätigkeit, das Übel, das Böse, den Untergang der blühendsten Reiche", in Anbetracht dessen wir nur "mit Trauer über diese Vergänglichkeit und mit Empörung enden" könnten. "Warum bei diesem Anblick nicht tatsächlich enden?", fragt Löwith. Ist nicht die so betrachtete Geschichte in der Tat schon alles, was sich sinnvollerweise über sie sagen lässt – das heißt ohne wie Hegel und seine geschichtsphilosophischen Nachfolger den Blick darüber hinaus auf einen vermeintlich letzten Sinn und Zweck dieses wogenden und untergangträchtigen Geschehens zu richten?
Denn "vom Zufälligen und Wechselnden gibt es keine philosophische Wissenschaft", hält Löwith dagegen. Wo immer die "wechselvollen Geschicke der Geschichte wahrhaft empfunden wurden", erklärt er weiter, "war die Einsicht in die Unzuverlässigkeit und Hinfälligkeit aller menschlichen Dinge die letzte Weisheit des Historikers". Und dessen Weisheit - diesseits von Hoffnung und geschichtsphilosophischer Zuversicht - schaut auf das so unzuverlässige wie hinfällige Geschick der Menschen und ihre ebenso unzuverlässige wie hinfällige Geschichte mit nüchtern illusionslosem Blick.
So wie es in dem berühmten Bild des Sturzes dargestellt ist, das Pieter Breughel gemalt und W.H. Auden in einem Gedicht beschrieben hat, im Bild vom "Sturz des Ikarus", wo "alles sich vom Unheil müßig abwendet", wie es bei Auden heißt. Nicht zufällig hat auch Löwith dieses Bild des Sturzes in seinem Aufsatz "Vom Sinn der Geschichte" aufgegriffen:
"Weltgeschichte‘ ist wörtlich genommen ein Missbegriff, denn weltumspannend oder universal ist nur die eine von Natur aus bestehende Welt, innerhalb derer unsere geschichtliche Menschenwelt etwas Vorübergehendes ist. Sie verschwindet im Ganzen der Welt etwa so, wie auf einem Bilde von Breughel Ikarus, der nach seinem Sturz vom Himmel im Meer versinkt und von dem nur noch ein Bein sichtbar ist. Am Horizont des Meeres sieht man die Sonne, während am Ufer ein Fischer hockt und am Land ein Hirte seine Herde hütet und ein Bauer die Erde pflügt, als sei zwischen Himmel und Erde gar nichts geschehen."
Stoischer Gleichmut spricht aus diesen Worten. Anders als im messianisch aufgeladenen Bild des Angelus novus, des Benjaminschen Engels der Geschichte, der mit aufgerissenen Augen auf das Trümmerfeld zu seinen Füßen starrt und "wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen" möchte, herrscht im Bild des Sturzes, wie Löwith es betrachtet, die unpathetische Sicht des Geschichtsskeptikers, der ungeachtet aller Wünschbarkeiten um die unabwendbare Hinfälligkeit aller menschlichen und damit auch geschichtlichen Dinge weiß und sie deshalb illusionslos hinnimmt.
"Weltgeschichte ist wörtlich genommen ein Missbegriff […] Die Weltgeschichte steht und fällt mit dem Menschen - die Welt selbst kann auch ohne uns sein; sie ist übermenschlich und absolut selbständig."
Als Löwith 1961 seinen Aufsatz Vom Sinn der Geschichte verfasst, ist er bereits wieder in Deutschland, wo er bis zu seiner Emeritierung 1964 an der Universität Heidelberg lehrt. 1952 war er auf Betreiben seines Freundes Hans-Georg Gadamer aus den USA zurückgekehrt, wohin er 1941 aufgrund des deutschen Bündnisses mit Japan auch aus Sendai hatte fliehen müssen.
Aber nicht erst in den rund zwanzig Jahren seiner Emigration hat Löwith die Erfahrung gemacht, was die Geschichte für den Menschen ist: Er erleidet sie. Bereits die Jugenderfahrung des knapp 18-jährigen Kriegsfreiwilligen im Ersten Weltkrieg und die schiere Zufälligkeit seines Überlebens nach einer schweren Gefechtsverwundung an der österreichisch italienischen Grenze 1915, dann die politischen Unruhen und Gewalttätigkeiten der Münchener Räterepublik, die er als Philosophiestudent hatte miterleben müssen, und schließlich die Erfahrung des Nationalsozialismus, haben seine Skepsis gegenüber den unberechenbaren Zeitläufen der Geschichte wenn nicht erzeugt, so doch existenziell vertieft.
Von Hans-Georg Gadamer gibt es ein einprägsames Porträt von Löwith, das er in seinen Lebenserinnerungen festgehalten hat. Darin spricht er von einem "unfasslichen Gleichmut", der ihn zu beseelen schien. Ein Gleichmut, gepaart mit einer "ihm eingeborenen Distanz", die er stets einzuhalten gewusst habe - eine Distanz zu sich selber, zu den Menschen, zur Welt. "Das war sein Ethos", schreibt Gadamer, "ein illusionsloses Hinnehmen der Dinge, wie sie sind, ein Anerkennen der Natürlichkeit des Natürlichen, aber auch ein beharrliches Festhalten an allem, was ihm je nahe war."
Dieses Ethos der Distanz hat Löwith nicht nur geholfen, die Wechselfälle seines eigenen Lebens mit Gleichmut zu ertragen, sondern hat ihm vor allem zu jenem "Standpunkt des freien Geistes" finden lassen, der es ihm erlaubte, gegenüber dem Universalanspruch neuzeitlicher Geschichtsphilosophie zu einer Kritik des geschichtlichen Denkens und zu einem geschichtsunabhängigen, natürlichen Weltbegriff zu gelangen. Denn "die Frage nach dem ‚Sinn‘ der Geschichte", erklärt er in seinem Curriculum vitae,
"musste über die geschichtliche Welt und die geschichtliche Denkweise hinausführen, zur Welt überhaupt, welche das Eine und Ganze des von Natur aus Seienden ist."
Seine Worte sind nicht zuletzt das Fazit geschichtlicher Erfahrung, der desillusionierten Erfahrung der Moderne, die angesichts des Chaos der Geschichte einen Standpunkt außerhalb sucht und einen solchen Standpunkt in der reflexiven Besinnung auf dieses "Eine und Ganze des von Natur aus Seienden" findet - eines Übermenschlichen mithin gegenüber dem bloß Menschlichen und seiner geschichtlichen Welt.
"Kósmos" hatten es die Griechen genannt. Dieses Eine und Ganze, die "ungeschaffene, immerseiende und für alle Wesen selbe Weltordnung", wie es bei Heraklit heißt, deren Regelmäßigkeit, Wohlgefügtheit, Glanz und Schmuck - so die Bedeutungsbreite von kósmos - sie im gleichbleibenden Kreislauf der Gestirne wie in den gleichmäßigen Kreisläufen der Natur anschauten. Zwar fragten die Griechen, so Löwith, nach dem lógos dieses Kosmos, nicht jedoch nach dem Sinn von Geschichte. In seinem grundlegenden Werk "Weltgeschichte und Heilsgeschehen", das 1949 zuerst auf Englisch, 1953 auf Deutsch erschienen ist, führt er aus:
"Dass wir überhaupt die Geschichte auf Sinn oder Unsinn hin befragen, ist selbst schon geschichtlich bedingt: Jüdisches und christliches Denken haben diese maßlose Frage ins Leben gerufen. Nach dem letzten Sinn der Geschichte ernstlich zu fragen, überschreitet alles Wissenkönnen und verschlägt uns den Atem; es versetzt uns in ein Vakuum, das nur Hoffnung und Glauben auszufüllen vermögen. Die Griechen maßten sich nicht an, den letzten Sinn der Weltgeschichte zu ergründen. Sie waren von der sichtbaren Schönheit des natürlichen Kosmos ergriffen, und das natürliche Weltgesetz von Werden und Vergehen bestimmte auch ihre Anschauung von der geschichtlichen Welt. Den Juden und Christen bedeutet Geschichte vor allem Heilsgeschehen. Das Faktum der Geschichtsphilosophie und ihre Frage nach dem letzten Sinn ist diesem eschatologischen Glauben an einen heilsgeschichtlichen Endzweck entsprungen."
"Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie" lautet der Untertitel des Buches. Die Einsicht Friedrich Nietzsches wiederholend stellt auch für Löwith das säkulare neuzeitliche Geschichtsdenken eine "verkappte Theologie" dar. Alle Philosophie der Geschichte sei ganz und gar abhängig von der Theologie, das heißt von der Ausdeutung der Geschichte als eines Heilsgeschehens. Dass philosophisch überhaupt nach einem Sinn der Geschichte gefragt werden konnte, nach ihrem "letzten Sinn und Zweck", habe in dieser Voraussetzung seinen eigentlichen Grund.
Wie auch andererseits die Geschichte nur in Hinblick auf einen solchen "letzten Sinn" als "sinnlos" habe erscheinen können, wie es sich im Phänomen des modernen Nihilismus gezeigt hat. Der Wechsel vom christlichen Mittelalter zur säkularen Neuzeit vollzog sich also keineswegs in klarer Ablösung vom Christentum und seinen theologischen Grundvoraussetzungen als vielmehr in fataler Kontinuität mit ihnen.
"Das ganze Mühen um immer neue Verbesserungen und Fortschritte wurzelt in dem einen christlichen Fortschritt zum Reich Gottes",
spitzt Löwith zu, von dem das nachchristliche Denken sich zwar zu emanzipieren suchte,
"von dem es doch abhängig blieb, wie ein entlaufener Sklave von seinem entfernten Herrn."
Abstand von dieser Kontinuität und damit Distanz gegenüber dem neuzeitlichen Geschichtsdenken findet Löwith in seiner Rückschau auf das "pagane" Denken der Griechen, auf die natürliche Welt, "die eine Welt und kein Chaos bildet, weil sie in sich von Natur aus geordnet ist". Sinnbild dafür ist der Kreis, dessen zyklischem Geschehen auch die menschliche Geschichte eingeschrieben ist. Demgegenüber steht das Bild des Pfeils, dessen Bewegung auf einen Punkt in der Zukunft hinzielt, dem die christliche wie nachchristliche Auffassung von Geschichte folgt.
"Die Zukunft ist der wahre Brennpunkt von Geschichte, vorausgesetzt, dass die Wahrheit in dem religiösen Fundament des christlichen Abendlandes beruht, dessen historisches Bewusstsein durch das eschatologische Motiv bestimmt ist: von Jesaia bis Marx. Dem Kompass vergleichbar, der uns im Raum Orientierung gibt und uns befähigt, ihn zu erobern, gibt der eschatologische Kompass Orientierung in der Zeit, indem er auf das Reich Gottes als das letzte Ziel und Ende hinweist. Die christliche Zuversicht ist zwar dem modernen Geschichtsbewusstsein abhanden gekommen, aber die Sicht auf die Zukunft als solche und auf eine unbestimmte Erfüllung ist herrschend geblieben."
In welche Katastrophen dieser eschatologische Kompass die Menschheit im 20. Jahrhundert hineingesteuert hat, ist mehr als bekannt. Katastrophen, in denen die Geschichte selbst Schiffbruch erlitten hat und mit ihr jene "maßlose Frage" nach dem Sinn von Geschichte, die sich des Maßes der natürlichen Welt zu entledigen suchte. So wie sich auch Ikarus mit seinen Flügeln aus Wachs über das Maß der Welt hinauszuschwingen versucht hatte, aber elend wieder in sie hineinstürzte.
Dieser Sturz hat jedoch für Löwith nichts Apokalyptisches, versetzt er die Geschichte doch lediglich wieder in den Rahmen, in den sie hineingehört - in den von "Welt überhaupt". Dies in einem doppelten Sinne: Zum einen bezeichnet der Sturz das historische Geschick der Geschichte sowie des Geschichtsdenkens am Ende der Moderne und markiert zum anderen eine noch offene denkerische Herausforderung für den Menschen bis in die heutige Zeit.
So bedeutet der natürliche Weltbegriff, den Löwith der Geschichte entgegenhält, keine Abkehr vom geschichtlichen Geschehen, er zielt vielmehr auf die Wiedergewinnung einer Einsicht, für die das geschichtliche Denken keinen Blick hatte, worüber die Antike jedoch verfügte. Über die Einsicht in die Relativität der "geschichtlichen Menschenwelt" sowie über die Einsicht und das Wissen von der Welt als der immerseienden Stätte des Aufenthalts der Menschen, an deren Maß anders als an der Maßlosigkeit von Geschichte der Mensch sich orientieren könnte. Denn, so schreibt Löwith:
"Wer sagt uns, dass die Welt auf den Menschen und seine Geschichte hin angelegt ist und nicht auch ohne uns sein könnte, nicht aber der Mensch ohne Welt, in der er und durch die er überhaupt da ist."
Doch nicht durch Rückbesinnung auf das Denken der Griechen allein gewinnt Löwith Distanz gegenüber der Geschichte. Abstand verschafft ihm ebenso sein Exil in Japan, von dessen fernöstlicher Denktradition er sich in den fünf Jahren seines Aufenthalts tief beeindrucken lässt. In seinem Curriculum vitae bekennt er, dass er "von der Erfahrung des gar nicht mehr fernen Ostens nicht unberührt blieb" und "von dem Land und dem Volk und seiner subtilen Gesittung und von der großen buddhistischen Kunst einen unvergeßlichen Eindruck" empfangen habe.
Vor allem ist es die Gelassenheit, die ihn anspricht, die Ruhe und Stille, die um diese Kunst ist. Eine Gelassenheit, welche die asiatische Tradition seit je bestimmt hat und aus deren Ruhe und Stille sich auch ein Denken speist, das die Welt nicht vornehmlich als den Schauplatz von Geschichte betrachtet, deren Wohin und Wozu es zu ergründen gilt. Denn "die Weisheit des Ostens hat die uns bewegende Frage nach dem Ziel und Sinn der Geschichte überhaupt nie gestellt", erklärt Löwith, "und es vermieden, Welt und Geschichte zusammenzudenken."
Daher hat sie auch niemals den Menschen aus dem Ganzen der natürlichen Welt zugunsten eines übernatürlichen Heilsgeschehens herausgelöst - im Gegenteil: Stets hält die Weisheit des Ostens dazu an, das vielfältig wandelbare Geschick des Menschen auf dem ebenso vielfältig wandelbaren Schauplatz der Geschichte in die Unwandelbarkeit dieses Einen und Ganzen zurückzustellen. In die Ruhe und Stille des "So-und-nicht-anders-Seins" der Dinge. In seinem Aufsatz Bemerkungen zum Unterschied von Orient und Okzident führt Löwith aus:
"Ein Zenspruch besagt: Bevor man meditiert, sind Berge nichts weiter als Berge und Flüsse nichts weiter als Flüsse. Wenn man eine vorläufige Einsicht erreicht hat, hören die Berge und Flüsse auf, bloß Berge und Flüsse zu sein; sie werden Vielerlei in vielerlei Hinsicht. Wenn man jedoch zur vollständigen Einsicht in die Wahrheit der Welt gelangt ist, wird der Berg wieder einfach zum Berg und der Fluss wieder einfach zum Fluss. In dieser Anerkennung des So-und-nicht-anders-Seins zeigt sich die Welt so, wie sie ist. Die letzte Weisheit des Zen ist nicht die billige Einfachheit der Vereinfachung der Dinge zu einem ‚nicht weiter als‘, sondern die kostbare Einfachheit einer letzten Verfeinerung."
Auch für das fernöstliche Denken bildet der Kreis das Sinnbild für das Eine und Ganze, er ist ebenso Sinnbild für den menschlichen Geist. In diesem Sinne deutet Löwith eine Tuschezeichnung, die ihm der 71-jährige Kitarô Nishida, der Begründer der modernen japanischen Philosophie, mit dem er sich während seines Aufenthalts in Japan befreundet hatte, zum Abschied schenkte. Die Zeichnung zeigt auf weißem Papier nichts weiter als einen leeren schwarzen Kreis, dem einige Schriftzeichen zur Seite gestellt sind. Wörtlich übersetzt besagen sie: Mond, einsam, Kreis, Licht, zehntausend Dinge, verschlucken. Löwith erläutert:
"Diese Wortfolge meint ungefähr folgendes: Ein Geist, der vollkommen rund und leer geworden ist, erleuchtet wie das einsame Licht des Vollmonds alles, was ist, und lässt es in sich eingehen."
Unschwer lässt sich trotz kultureller Unterschiede die Gemeinsamkeit in den Denkhaltungen erkennen: die Gemeinsamkeit zwischen dem gelassenen, dem klaren und kühlen Licht des Mondes vergleichbaren Geist fernöstlicher Weisheit und dem Denken Löwiths - des "sceptico sereno", wie man ihn bezeichnet hat -, des gleichmütigen und klargeistigen Skeptikers stoischer Prägung.
Beide Denkhaltungen zeugen von derselben illusionslosen Hinnahme und Anerkennung der Dinge, die unabänderlich sind, wie sie sind, sowie von einem Denken, das dem Unbeständigen die Anschauung eines Beständigen entgegenhält. Die fernöstliche Weisheit durch Leerwerden und meditative Versenkung, Löwith durch Rückbesinnung auf die ursprüngliche "theoría" der Griechen, auf ihre Betrachtung der "ungeschaffenen, immerseienden und für alle Wesen selben Weltordnung" und ihre Einsichtnahme in den "lógos" dieses "kósmos".
Gewiss - Löwith ist der Letzte, sich nicht darüber Rechenschaft abzulegen, dass dieser Geist der Griechen längst nicht mehr der unsere ist und dass es kein Zurück dahin gibt, wohl aber Rückbesinnung: Rückbesinnung aus der Denkerfahrung der Moderne auf die Denkerfahrung der Antike. Denn aus deren Wiedererschließung wäre ein Denken zu gewinnen, bei dem es nicht mehr um die vermeintliche Wahrheit säkularer Heilserwartungen und Heilsversprechen geht, deren heilloser Verwirklichungskampf den historischen Schauplatz der Welt im 20. Jahrhundert verwüstet hat, sondern um eine Haltung, die ein dem Menschen und seinem Aufenthalt in der Welt gemäßes Maß zu erlangen und zu wahren weiß.
Um ein Ethos mithin, wie es das besonnene Maßdenken der frühen Griechen oder auch das der späteren Stoiker ausgezeichnet hat, das aber ebenso im asiatischen Kulturkreis als die Weisheit des Maßvollen und Geringen begegnet - als jene "kostbare Einfachheit einer letzten Verfeinerung", wovon Löwith sprach, im Verhältnis des Menschen zur Welt.
"Doch so wenig man mit diesem ‚mäßigen‘ Resultat die überzeugen kann, welche heute bereit sind, um jeden Preis wieder an irgendetwas zu glauben, wird er dennoch glaubwürdiger bleiben als seine Gegner, welche ihre Zahlungsunfähigkeit dadurch beweisen, dass sie die Kosten der Gegenwart mit einer vielversprechenden Zukunft oder mit einer schon erfüllten Vergangenheit decken zu können vermeinen."
Auch dies könnten Worte über sich selber sein, mit denen Löwith die geistige Haltung Jacob Burckhardts in der Hoch-Zeit des Historismus im 19. Jahrhundert charakterisiert. Es ist eine Haltung, die sich wesentlich durch Zurück-Haltung auszeichnet und im Abstand freier Betrachtung in eine angemessene Sicht der Dinge zu gelangen sucht, anstatt sich in geschichts- und fortschrittsgläubiger Befangenheit denkend wie handelnd maßlos zu versteigen.
Deshalb wahrt diese Haltung ebenso Zurück-Haltung gegenüber allen Extremen, gegenüber dem, was Löwith die "Magie des Extrems" nennt, die "taub macht gegen das Geheimnis der Mäßigkeit". Löwith weiß, wovon er spricht, schließlich hatte er, der 1897 Geborene, diese unheilvolle "Magie des Extrems" in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts selbst lebensbedrohlich nah erfahren und Abstand demgegenüber zu beziehen gelernt. Mit anderen Worten: jenen "Standpunkt des freien Geistes", woraus sich ebenso seine tiefe Abneigung gegenüber "radikalen Lösungen" ergeben musste, denen sich der in jeder Hinsicht konfessionslose Denker stets verweigert hat. So erklärt er am Schluss seines 1940 verfassten Berichts "Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933".
"Auch von mir haben manche Freunde eine radikale Lösung erwartet, sei es im Sinn eines Rückgangs zum Judentum oder einer Entscheidung fürs Christentum oder auch einer politischen Festlegung. Stattdessen habe ich eingesehen, dass gerade die ‚radikalen‘ Lösungen gar keine Lösungen sind, sondern blinde Versteifungen, die aus der Not eine Tugend machen und das Leben vereinfachen. Das Leben und Zusammenleben der Menschen und Völker ist nicht von der Art, dass es durchführbar ist ohne Geduld und Nachsicht, Skepsis und Resignation, d.h. ohne das, was der heutige Deutsche als unheroisch verneint, weil er für die Hinfälligkeit alles menschlichen Treibens überhaupt keinen Sinn hat."
Auf einem solchen Sinn für die "Hinfälligkeit alles menschlichen Treibens" sowie auf der nüchternen und klaren Einsicht in das, so Löwith, "was dem sterblichen Menschen gemäß ist zu wissen und worein er sich zu ergeben hat, um nicht sein Leben und Denken auf bloße Wünschbarkeiten zu stellen", aber beruht für ihn das "Geheimnis der Mäßigkeit". Es ist zugleich das Geheimnis eines Gleichmuts, der seine Geduld und Nachsicht, seine Skepsis und die Resignation kluger Bescheidung den maßlosen Denk- und Handlungsansprüchen des neuzeitlichen wie des modernen Menschen entgegenstellt.
"Denn der Mensch ist nicht nur ein Handelnder, er ist ebenso sehr ein Duldender, der auf den Wogen seines Geschicks umhergetrieben wird wie die mythische Gestalt des Odysseus nach Beendigung des Trojanischen Kriegs auf seiner zehnjährigen Irrfahrt durch das Ägäische Meer. "Nichts im Übermaß" - hatte am Eingang des Apollon-Tempels zu Delphi gestanden: Bedenke dich selbst als einen Sterblichen, der stets seiner menschlichen Begrenztheit und Endlichkeit eingedenk sein sollte. Ein solches "Bedenke" hat das Denken Löwiths von Anfang an begleitet und seine Auffassung von Philosophie geprägt, die für ihn, wie jemand treffend formuliert hat, weniger durch das bestimmt ist, "was sie auslegt, sondern durch das, worauf sie uns als auf das Maßgebliche hinsehen lässt."
Dieses Maßgebliche ist für Löwith nicht mehr die Geschichte und ist nicht mehr der Mensch, der im Namen universell gültiger Geschichtswahrheiten um seine Selbstbehauptung in der Welt kämpft. Maßgeblich für ihn wäre der Mensch, der gelernt hat, im Namen von Besonnenheit und Maß darauf Verzicht zu leisten und sich zugunsten jener Mäßigkeit in das Eine und Ganze der "Welt überhaupt" zurückzustellen. Wohl existiert "der Mensch inmitten der Geschichte", wie Löwith sein Burckhardt-Buch betitelt hat, doch nachdem die Geschichtsphilosophen mit ihren verheerenden Auswirkungen ihre historische Stunde gehabt haben, vermag nun der Mensch seiner selbst als eines Handelnden und gleicherweise Duldenden innezuwerden.
Ein solcher Mensch aber erblickt keine weltgeschichtliche Vernunft wie Hegel, keine Dialektik geschichtlichen Fortschritts wie Marx, sondern gewahrt sich selbst als den immer schon Handelnden wie Duldenden, der sich seiner eigenen Begrenztheit und Endlichkeit gewachsen zeigt. Auf dieses Maßgebliche wieder hinsehen zu lernen aber liegt bis heute die noch unaufgegriffene Herausforderung Löwithschen Denkens.
"Eine solche Ansicht ergibt sich durch keinen "Entschluss‘, sondern aus der Anschauung der wirklichen Welt und der Erfahrung des menschlichen Lebens. Was sie am Ende schaut und erfährt, ist das Beständige im Vergehenden, und wäre eine Vergegenwärtigung der Urphänomene des Lebens, welche in gleicher Weise die Natur wie den Menschen umfasst."